Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft
Fritz Vilmar/Wolfgang Dümcke
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Zusammenfassung
Ausgehend von neuesten, besorgniserregenden Daten über einen erneut drohenden ökonomischen „Absturz Ost“, kritisieren die Autoren die Gleichgültigkeit der deutschen Politikwissenschaft angesichts der schwerwiegenden Defizite der Vereinigungspolitik. Sie fassen die Ergebnisse eines vierjährigen Forschungsprojekts „Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses“ zusammen, das sie als Pilotstudie für eine noch ausstehende, nur kooperativ zu bewältigende Gesamtanalyse verstehen. Nach Auffassung der Autoren wird der Demokratisierungsprozeß in Ostdeutschland substantiell in Frage gestellt durch einen Prozeß der „strukturellen Kolonialisierung“ -im Sinne einer politischen, ökonomischen und kulturellen Dominierung des ostdeutschen soziopolitischen Systems durch das westdeutsche. Nur durch eine entschieden „alternative“ Vereinigungspolitik kann, nach Auffassung der Autoren, ein Prozeß selbstbestimmter Demokratisierung langfristig obsiegen.
I. Ausgangspunkt: Die große geschichtliche Chance
Seit am 9. November 1989 die Mauer aufgemacht wurde, ist immer wieder -und mit Recht -von der großen historischen Stunde gesprochen worden. In der Tat war die plötzlich aufscheinende und Tag für Tag greifbarer werdende Chance der Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands ein kaum zu fassendes, an ein Wunder grenzendes historisches Ereignis: „Wahnsinn!“ war das meistgebrauchte Wort. Und mit einer großen Emphase, Opferbereitschaft und Energie sind in jenen ersten Monaten Unzählige darangegangen, die Freiheit für die ostdeutschen Menschen in eine stabile gesellschaftliche und staatliche Form zu bringen.
Und gerade weil das so war und weil es immer noch unsere überragende politische Aufgabe ist, muß untersucht werden, warum bei dieser Vereinigungspolitik so vieles nicht nur „schief“, sondern verkehrt gelaufen ist, warum eine so tiefe Ernüchterung und Enttäuschung an die Stelle des großen Aufbruchs getreten ist. Es erweist sich als notwendig, in der politischen Theorie und Bildungsarbeit endlich gründlicher auch über die Schattenseiten der Vereinigungspolitik und über die politische Verantwortlichkeit Rechenschaft abzulegen, als dies in den vergangenen sechs Jahren -von wenigen Ausnahmen abgesehen -geschehen ist. Es kann nicht nur darum gehen, die Leistungen der Vereinigungspolitik herauszustellen, die teilweise katastrophalen Fehlleistungen aber und die damit im Zusammenhang stehende Gefahr einer Abwendung der Ostdeutschen vom demokratischen wie vom marktwirtschaftlichen Modell als unabänderlich -oder vorübergehend -hinzunehmen.
II. „Absturz Ost“ -kein nationales Thema?
Nicht ohne Grund betitelte Der Spiegel im Juni 1996 seinen Bericht des erneuten ökonomischen Rückschlags als „Absturz Ost“ Was in Fachzeitschriften schrittweise verfolgt werden konnte, wurde dem interessierten Bürger hier sehr konkret zusammenfassend präsentiert. Das Hamburger Magazin dokumentierte die bedrohliche Stagnation der Wirtschaftsentwicklung, die wieder ansteigende Massenarbeitslosigkeit, den damit zusammenhängenden, weit überdurchschnittlichen Anstieg der Bankrotte und Geschäftsaufgaben sowie die grassierende Wirtschaftskriminalität westdeutscher Unternehmens-aufkäufer. Und es resümierte die quantitativen Befunde: „Die industriellen Kerne sind zu Miniaturen verkommen. Schon 1991 warnte das Referat VI-IIb des Bonner Finanzministeriums vor einer . drohenden Deindustrialisierung 1 im Osten. . . Das interne Papier beschwor düster die Gefahr, , daß lediglich 20 Prozent der industriellen Arbeitsplätze im Beitrittsgebiet -das wären 700 000 von insgesamt 3, 4 Millionen Arbeitsplätzen -überle Millionen Arbeitsplätzen -überleben’ . . . Jetzt erweist sich diese pessimistische Prognose als noch zu optimistisch. . . . Die neuen Länder tragen gerade sechs bis sieben Prozent zur gesamten Industrieproduktion der Republik bei, nach ihrem Bevölkerungsanteil müßten es knapp 20 Prozent sein.“ 2 Auf dieser deindustrialisierten Basis aber sei kein Aufschwung Ost realisierbar.
Wir verweisen einleitend aus zwei Gründen so nachdrücklich auf den Spiegel-Titel und seine wichtigsten Ergebnisse: zum einen wegen der seltenen, nichts beschönigenden Radikalität seiner -auf dem neuesten Stand der empirischen Daten basierenden -Bestandsaufnahme; zum andern wegen der auch ihm eigenen intellektuellen Ohnmacht hinsichtlich der Ursachenanalyse und der politischen Alternativen, die geeignet wären, das Desaster der bisherigen ökonomischen Vereinigungspolitik zu überwinden -von den außerökonomischen Teilbereichen dieser Politik hier gar nicht zu reden. Diese Ohnmacht resultiert u. E. aus dem Ignorieren der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Interessen. Erst wenn man diese analysiert, erscheinen viele der verhängnisvollen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen als interessenpolitisch sehr verständliche (Selbst-) Rechtfertigungen bzw. höchst (eigen) nützliche Entscheidungen.
Um so mehr wäre es die Aufgabe der deutschen Sozialwissenschaften gewesen -vorab der Politologie -, zu leisten, was von einem Nachrichtenmagazin nicht verlangt werden kann: spätestens seit 1991 den Zusammenhang von Fehleinschätzungen/Fehlsteuerungen und Interessendurchsetzung westdeutscher Entscheidungsträger offenzulegen, die trotz gewaltiger Transferzahlungen insgesamt zum Mißlingen des „Aufschwungs Ost“ führen mußten. Aber das Unglaubliche geschah und geschieht seit einem halben Jahrzehnt: Die deutsche Sozial-und insbesondere die Politikwissenschaft verfertigt zwar massenhaft Detailrecherchen zum „Transformationsprozeß“, weigert sich aber, die bedrohlichen Fehlsteuerungen der Wiedervereinigung als ihre alles andere überragende wissenschaftliche, ja wissenschaftsethische Aufgabe zur Kenntnis zu nehmen. Von wenigen, sogleich zu benennenden Ausnahmen abgesehen, läßt sie das akute, offenkundig ungelöste existentielle Problem unserer Nation links liegen und betreibt business as usual, offenbar durch nichts aus den gewohnten Forschungs-und Karrieregeleisen zu bringen 3.
Nicht zuletzt versagte der angeblich so kritische Fachbereich der Freien Universität Berlin, vor dessen Haustür sich das Deutsche Drama vollzieht. An diesem „größten politologischen Fachbereich Europas“ haben sich zwar einige einzelne Politik-wissenschaftlerinnen sehr engagiert -der Fachbereich als Ganzes jedoch verharrte in Sprachlosigkeit, in einem „intellektuellen Winterschlaf“, wie eine der scharfsinnigsten deutschen (Wissenschafts-) Journalistinnen dies bereits am 7. Januar 1991 in einem fulminanten Leitartikel formuliert hat: „Die deutsch-deutsche Entwicklung trennt die Intellektuellen auf eine neue, bisher nicht bekannte Weise . . . Die Altlinken in der früheren Bundesrepublik, die einst jeden Hauch eines Berufsverbots’ . . . geißelten, schweigen zu den , Abwicklungsaktionen‘ in der ehemaligen DDR.
. . . Sie entwickeln zum Umbruch und Neuanfang kaum Ideen. . . . Statt dessen machen sich armselige Konkurrenzfurcht, Feigheit und Denkträgheit breit . . . Die Zahl der deutsch-deutschen , Brükkenbauer’ ist klein. Viel zu wenige . . . beteiligen sich an der gewaltigen geistigen und praktischen Anstrengung, wie aus einer ruinierten Planwirtschaft . . . eine soziale und regulierte Marktwirtschaft, wie aus einer zentralisierten Bürokratie eine mitbestimmte, föderale Demokratie werden kann . . . Durch Verschweigen und Verdrängen ist in Deutschland noch nie etwas zum Positiven gewendet worden. Es wird Zeit, den intellektuellen Winterschlaf zu beenden.“ 4 Und insgesamt muß man sagen: Wenn es so etwas wie einen wohlverstandenen (Verfassungs-) Patriotismus gibt, eine nationale Mitverantwortung gerade der führenden, „entscheidenden“ Kräfte in diesem Land, so muß man einem großen Teil nicht nur der wissenschaftlich Tonangebenden, sondern, wie zu zeigen sein wird, auch der politischen und vor allem der ökonomischen Entscheidungsträger den Vorwurf machen, ihrer -auch -nationalen Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein.
Eine Pilotstudie Der Versuch, eine kritische Bilanz zu ziehen, ist bislang auf die Analysen einzelner (Teams) beschränkt geblieben -eine kooperativ zu bewältigende wissenschaftliche Gesamtuntersuchung der Vereinigungspolitik und deren allgemein zugängliche Publikation steht noch aus
Auf der Basis eines vierjährigen Studienprojekts „Kritische Analyse und Alternativen des Einigungsprozesses“ (1991-1995), dessen Ergebnisse wir koordinierten, miterarbeiteten, im Herbst 1995 herausgaben und im Sommer 1996 ergänzten, können im folgenden einige der wichtigsten Problemschwerpunkte und kritischen Hypothesen eines solchen, u. E. unabdingbaren Forschungsprozesses umrissen werden. Im hier vorgegebenen Rahmen kann die Präsentation unserer Hauptergebnisse nur in Form von Thesen geschehen, die ihrerseits als Arbeitshypothesen für eine breit anzulegende wissenschaftliche Diskussion und kooperative Forschung dienen können. Ihre Anordnung folgt der dreigliedrigen Systematik des Sammelbandes. Die Belege mußten in die -notgedrungen sehr ausführlich geratenen -Fußnoten verlegt werden.
III. Schwerpunkte der Kritik
1. Methodische Prämisse Eine ernstzunehmende Kritik der bisherigen Vereinigungspolitik darf eine bestimmte „normative Kraft des Faktischen“ nicht verkennen, ihr nicht abstrakte Wünschbarkeiten gegenüberstellen Dies besagt allerdings nicht, daß es innerhalb der Vereinigungspolitik nicht grundlegend andere und bessere Politiken gegeben hätte. Vielmehr gilt es, von den im Rahmen vorgegebener soziopolitischer Sachzwänge zur Wahl stehenden Optionen politischen Handelns auszugehen und zu prüfen, inwieweit die von den politischen Akteuren gewählten Politiken die obersten Ziele der Wiedervereinigung -Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands unter demokratischen Bedingungen, Wohlstandssicherung, Achtung der Menschenwürde -verwirklichen oder verfehlen. Demgemäß gilt methodisch für jede angemessen gründliche kritische Analyse: Die Vereinigungspolitik kann nur als ein für Alternativen offener, nicht als ein sachzwanghaft-alternativloser Prozeß angemessen analysiert werden
Und das Fazit, das in den 21 Detailanalysen unserer Pilotstudie belegt wird, lautet im Gegensatz zu Lothar de Maizieres Selbstzufriedenheit Es war mehr erreichbar, es gab Alternativen! Wir werden die wichtigsten benennen. 2. Politische Unterordnung (1) Durch die Verhinderung der im westdeutschen Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenen Abstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung wurde die gleichberechtigte Mitwirkung der Ostdeutschen an der Konstitution eines vereinigten Deutschland vereitelt. Statt dessen wurde die umstandslose Eingliederung der Bürger der DDR in das politische System der westdeutschen Republik verfassungsrechtlich besiegelt.
In unserer kritischen Analyse der Vereinigungspolitik geht es vor allem um die gründliche Reflexion, ob nicht aus lauter Angst, das Volk wolle vielleicht „mehr (und sozialere) Demokratie wagen“, die politischen Akteure in diesem Land ein grundlegendes Gebot der demokratischen Konstitution mißachtet haben" Gerade unser ostdeutsches Teilvolk hätte, nach so vielen Entmündigungen in der DDR-Zeit und leider auch nach 89, sein demokratisches Selbstbewußtsein in einem solchen Akt grundlegender Mitentscheidung -nicht zuletzt mit Blick auf einzufordernde soziale Grundrechte aus der DDR -wesentlich stärken können.
Daß die liberal-konservative Vereinigungspolitik eine selbstbestimmte demokratische Erneuerung in Ostdeutschland behinderte, ist in unserer Pilot-studie außerdem nachgewiesen worden durch die Analyse der Westanpassung des Parteiensystems: (2) Anstelle eines selbstbestimmten Prozesses der demokratischen Neuorientierung mußten von den vier Bündnisparteien der SED die CDU und die LDPD, bei Strafe des Untergangs, einen zwangs-haften Prozeß der Unterordnung unter die programmatischen und organisatorischen Strukturen der dominierenden Westparteien vollziehen
Angesichts der totalen Anpassung dieser beiden „bürgerlichen“ Parteien, des weitgehenden Unvermögens der Bürgerbewegungen der DDR, sich in der Kürze der Zeit parteipolitisch zusammenzu-schließen und der ostpolitischen Halbherzigkeit der SPD erscheint übrigens die Entwicklung und der relative Erfolg der PDS als einziger eindeutigen Vertreterin ostdeutscher Interessen in einem neuen Licht, nämlich auch als Ergebnis mangelnder ostdeutscher Orientierung der anderen Parteien. (3) Die -zweifelsfreie -Option der ostdeutschen Mehrheit für den westdeutschen Wohlstands-und Freiheitsstandard wurde von den politischen Akteuren als Blankoscheck für eine Übertragung sämtlicher wirtschafts-, sozial-, Verwaltungs-, bildungs-, medien-, gesundheits-und sonstiger politischer Strukturen genutzt -bei gleichzeitiger Liquidation auch -in freiheitlicher Form -erhaltenswerter soziopolitischer Strukturen der DDR.
Vielfach wird eingewendet, das Argument einer Vereinnahmung, Unterordnung oder gar Kolonialisierung der DDR entbehre schon deshalb der sachlichen Grundlage, weil die Ostdeutschen schließlich selbst, mit deutlicher Mehrheit, den Weg in die Vereinigung mit der westdeutschen Republik und insbesondere in die Währungsunion gewählt hätten. Dieser Einwand („Die Ossis haben es doch nicht anders gewollt“) ist nicht nur zynisch, sondern auch in der Sache unhaltbar (4) In der DDR wurden nicht nur die politischen Führungskader des SED-Regimes aus ihren Ämtern und Funktionen entfernt, sondern auch ein großer Teil der akademischen und Funktionseliten aus ihren Positionen in der Wirtschaft, der Verwaltung und -zu über 80 Prozent! -aus den wissenschaftlichen Einrichtungen.
Hier steht nicht zur Diskussion die selbstverständliche Entmachtung und -insofern strafrechtlich erfaßbar -Bestrafung der SED-Führungsschicht. Aber zur Debatte gestellt werden muß die Ausschaltung, „Abwicklung“ und rentenrechtliche Bestrafung von Hunderttausenden von Funktionsträgern in staatsnahen Positionen 3. Ökonomische Kolonialisierung Wir haben als „strukturelle Kolonialisierung“ vor allem eine Transformation der Wirtschaft im Interesse optimaler Gewinnchancen der dominanten Ökonomie (im alten Bundesgebiet) ermittelt Die Tatsache, daß die ostdeutsche Planwirtschaft wesentliche -von uns präzise benannte -Modernisierungsdefizite aufwies, wird von den politisch und ökonomisch Verantwortlichen nach dem katastrophalen Zusammenbruch großer Teile dieser Wirtschaft zur pauschalen ideologischen Selbst-rechtfertigung benutzt: sie sei eben marode gewesen. Verschwiegen wird, daß eine deindustrialisierte DDR, deren staatliche Handelsketten von privaten westdeutschen übernommen und fast ausschließlich mit westlichen Waren bestückt wurden, zu einem großen Markt „transformiert“ werden konnte, der der westdeutschen Wirtschaft zu einer jahrelangen Sonderkonjunktur verhalf und verhelfen wird. In unserer Pilotstudie haben wir die -im einzelnen nicht unbekannte, insgesamt aber bislang weitgehend vernachlässigte -Kritik vor allem in fünf Teilanalysen zusammengefaßt: (1) Infolge der -politisch-wahltaktisch und nicht ökonomisch motivierten -überstürzten Währungsunion ohne flankierende Stützungsmaßnahmen für die ostdeutsche Wirtschaft wurde deren finanzielle, Wettbewerbs-und insbesondere exportpolitische Basis weitgehend zerstört und damit die Deindustrialisierung Ostdeutschlands eingeleitet.
Daß die übergangslose Währungsunion für die ostdeutsche Wirtschaft katastrophale Folgen hatte, ist heute wissenschaftlich unbestritten -und dies gilt unabhängig von deren teilweise „marodem“ Zustand wie Jan Priewe und Rudolf Hickel mit Recht feststellten: „Auch ein einigermaßen stabiles Land in Westeuropa wäre durch diesen Aufwertungsschock in eine tiefe Anpassungskrise abgestürzt.“ Nicht so klar ist in der öffentlichen Diskussion, daß diese „ökonomisch wahnsinnige“, rein „politische“ Entscheidung, wie der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl resignierend feststellte, nicht verantwortungsbewußter Vereinigungspolitik entsprach, sondern primär wahlpolitischem Kalkül 14. Der gewiß nicht als „links“ einzustufende Ökonom Wilhelm Hankel stellte aufgrund dessen fest: „Das Versprechen des Bundeskanzlers, die DM . . . schon vor der deutschen Vereinigung im Gebiet der DDR einzuführen, sicherte seiner Partei .. .den grandiosen Wahlsieg vom März 1990.“
Der vielfach -insbesondere von Wolfgang Schäuble -vorgetragene Legitimierungsversuch, die rasche Währungsunion sei unabdingbar gewesen, um den Übersiedlerstrom einzudämmen -was auch gelungen sei -, erweist sich angesichts der vorliegenden Statistiken als unhaltbar: Der „Übersiedlerstrom“ ist durch den vorübergehenden „DM-Strom“ in die DDR keineswegs gebremst worden (2) Durch die Belastung der ostdeutschen Wirtschaft mit fiktiven -rechtlich nicht begründbaren -sogenannten Altschulden und mit dem Eigentums- vorbehalt wurden Substanz und Handlungsmög-Uchkeiten der ostdeutschen Wirtschaft weiterhin vermindert, der Deindustrialisierung weiter Vorschub geleistet.
Die Fiktivität dieser Altschulden der DDR-Unternehmen, daher die Unrechtmäßigkeit einer Belastung dieser Unternehmen mit solchen „Schulden“ und deren destruktive Wirkung auf die Sanierung zahlloser Firmen und Genossenschaften, ist in unserem Projekt Gegenstand einer besonderen Studie, die sich nicht zuletzt auf ein Gutachten von Rupert Scholz stützt Als weitere schwerwiegende Entwicklungsbremse erwies sich das im Einigungsvertrag festgeschriebene Prinzip der Eigentums-„Rückgabe vor Entschädigung“ das Investitionen in Ostdeutschland, wenn überhaupt, oft nur risikoreich nach langwierigen Verhandlungen (aufgrund des „Investitionsvorranggesetzes“) möglich machte und immer noch macht.
Altschuldenfiktion und Eigentumsvorbehalt trugen also wesentlich dazu bei, einen großen Teil der DDR-Unternehmen handlungsunfähig oder nur zu Ausverkaufspreisen verkäuflich zu machen. (3) Durch eine verfehlte Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt (entgegen ihrem gesetzlichen Auftrag, ostdeutsche Unternehmen zu sanieren und zu privatisieren) wurde ein Ausverkauf ostdeutscher Unternehmen um jeden Preis bewirkt, deren Erwerber häufig westdeutsche Unternehmer waren, die sich auf diese Weise ostdeutscher Konkurrenz entledigten.
Trotz zahlreich vorliegender, z. T. auch kritischer Darstellungen über die -ja keineswegs abgeschlossene, sondern nur in Nachfolgegesellschaften verlegte -Tätigkeit der Treuhandanstalt fehlt bis heute eine gründliche Gesamtanalyse, die diese Tätigkeit an der entscheidenden volkswirtschaftlichen Frage mißt: ob und inwieweit diese quasi staatliche Behörde nicht nur die Privatisierung, sondern, dem Treuhandgesetz gemäß, auch die Sanierung der ostdeutschen Unternehmen betrieben und damit der Modernisierung und Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft gedient hat. Wir weisen nach, daß sie dieser Aufgabe in keiner Weise gerecht wurde
Abschließend können wir aufgrund unserer Projektstudien sagen, daß die genannten Deindustrialisierungsfaktoren und darüber hinaus das Ausbleiben der (zugesagten) Investitionen der dazu daß Ostdeutschland Industrie führten, weitgehend zum -höchst lukrativen -Markt für die westdeutsche Industrie und zahllose Dienstleistungsunternehmen wurde. (4) Die deutsche Arbeitsmarktpolitik, die in den ersten Jahren geholfen hat, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, „Kurzarbeit Null“, eine großzügige Vorruhestandsregelung etc. die katastrophale Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland zu lindern, wurde nicht in Richtung auf einen ausgebauten Zweiten (staatlichen) Arbeitsmarkt weiterentwickelt, sondern wurde und wird im Zuge der Sparpolitik der Bundesregierung abgebaut, mit der Folge zunehmender Verelendung und Zukunftslosigkeit der A rbeitslosen.
Der -in diesem Umfang durchaus nicht zwangsläufige -Zusammenbruch des ostdeutschen Arbeitsmarktes, seine Schrumpfung von knapp zehn auf knapp sechs Millionen Erwerbstätige (1992, ohne seitherige nennenswerte Erholung), ist in unseren Studien zusammenfassend dokumentiert worden (5) Die gewaltigen Transferzahlungen (über eine Billion Mark) nach Ostdeutschland, finanziert vom (west-) deutschen Steuerzahler unter Inkaufnahme einer weit überdurchschnittlichen Staatsverschuldung, hat zwar den Absturz der Millionen Arbeitslosen, der Institutionen und (Kommunal-) Verwaltungen in die totale Armut verhindert und grundlegende Infrastrukturen (Verkehrswege, Telekommunikation) geschaffen, aber nur völlig unzureichend Investitionen zum wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht 4. Soziokulturelle Liquidation Wir sind in unseren Studien zu dem Ergebnis gekommen, daß es im Rahmen der Vereinigungspolitik massive Versuche gab, mit der „offiziellen Unkultur“ auch die „ganz persönliche politische Kultur“ der Bürger zu liquidieren, „ihre Aufbau-leistungen, ihre aktive, oft durchaus idealistische Mitarbeit in soziokulturellen Einrichtungen und insbesondere auch ihre progressiven gesellschaftlichen Gegenentwürfe in den systemkritischen Bürgerbewegungen“
Die weitgehende blichtzurkenntnisnahme, Leugnung oder sogar Herabwürdigung wissenschaftlicher, literarischer, künstlerischer, pädagogischer, gesundheits-und sportpolitischer wie auch -nicht zuletzt -sozialpolitischer Leistungen, die es in der DDR trotz der inhumanen Strukturen unter der SED-Herrschaft gab, haben Millionen von Bürgerinnen und Bürgern der DDR als Demütigung und Verletzung ihres Selbstbewußtseins erlebt: Nach sechs Jahren Vereinigungspolitik empfinden sich nachweislich noch vier Fünftel der Ostdeutschen als „Bürger 2. Klasse".
Eine Marginalisierung des soziokulturellen Systems geht immer einher mit einer Erschütterung des Selbstbewußtseins der in ihm lebenden Menschen In Ostdeutschland haben solche Versuche vielfach eine besonders kontraproduktive Wirkung gehabt. Die Auswertung von Meinungsumfragen in unserem Projekt hat -neben der genannten Diskriminierungserfahrung -ergeben, daß die zunächst vorhanden gewesene Bereitschaft, sich mit dem neuen (Gesamt-) Deutschland zu identifizieren, einer Rückwendung zur ostdeutschen Identität gewichen ist 5. Fazit: „Transformation“, „Demokratisierung“
oder „Kolonialisierung“ der DDR?
Im Gegensatz zur üblich gewordenen „wertfreien“ Bezeichnung des Vereinigungsprozesses als „Transformation“ halten wir die Interessen-und Wertorientierung, die Analyse und Beurteilung des Vereinigungsprozesses nach den Maßstäben des Cui bono sowie der realisierten Menschenwürde und Demokratisierung (demokratischer Selbstbestimmung der Menschen in Ostdeutschland) für unabdingbar, sollen überhaupt gesellschaftlich relevante Aussagen zustande kommen.
Nach skrupulösen Erwägungen haben wir -unbeschadet unserer Anerkennung gleichzeitig sich vollziehender Demokratisierungsprozesse! -die Summe der Entscheidungen, die nicht der Menschenwürde und demokratischen Selbstbestimmung der Ostdeutschen dienten, sondern den politischen, ökonomischen und kulturellen Dominanzinteressen westdeutscher (Macht-) Eliten und der Übertragung von deren sozioökonomischen Strukturen auf die des dominierten Systems, in dem Oberbegriff der strukturellen Kolonialisierung zusammengefaßt -einer besonders erhellenden Analyse zweier ZEIT-Ökonomen folgend.
Wir definierten: „Der Tatbestand der Kolonialisierung umfaßt mehr als die Prozesse der weltweiten europäischen Expansion vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Kolonialisierung bedeutet in ihrem Kern die politische, ökonomische und kulturelle Dominanz eines gesellschaftlichen Systems im Verhältnis zu einem anderen^ Aber: „Selbstverständlich beschreibt der Terminus Kolonialisierung nur eine Seite des Vereinigungsprozesses. Auf der anderen Seite gibt es den langfristig wirkenden Prozeß der Demokratisierung.“ Doch „die unzweifelhaft vorhandenen Bemühungen um die Demokratisierung Ostdeutschlands werden durch den gleichzeitig sich vollziehenden Kolonialisierungsprozeß aufs schwerste diskreditiert“ Insgesamt kann man also von konkurrierenden Prozessen der Demokratisierung und Kolonialisierung in der ehemaligen DDR sprechen und um so eher einer vorsichtigen Hoffnung Ausdruck verleihen, daß der Prozeß demokratischer Selbstbestimmung langfristig obsiegt wenn das kritische Selbstbewußtsein der Ostdeutschen sich weiter entwikkelt
IV. Ansätze einer alternativen Vereinigungspolitik
Wenn der Demokratisierungsprozeß in Zukunft die Oberhand gewinnen soll, so ist dazu die Besinnung auf die Alternativen zur bislang exekutierten Vereinigungspolitik und deren politisch-ökonomischer Umsetzung von großer Bedeutung. Im Rahmen dieses Resümees unseres Forschungsprojekts ist es allerdings nur möglich, auf einige der wichtigsten unerledigten Alternativkonzepte stichwort-artig hinzuweisen und Interessierte zu ermutigen, sich über unsere Befunde en detail zu informieren.
Gesamtdeutsche Verfassung: Die „vertane Chance der Verfassungsreform“ muß keineswegs für alle Zukunft als solche verstanden werden: Die von Lorenz Becker resümierten Vorschläge -insbesondere die für die Aufnahme sozialer Grundrechte und plebiszitärer Elemente in eine künftige deutsche Verfassung -werden wieder auf die Tagesordnung kommen, sobald die Notwendigkeit einer die Ostdeutschen ernstnehmenden partizipativen Demokratie als eine rettende Strategie angesichts gefährlich um sich greifender politischer Resignation und Apathie erkannt wird.
Umfassende Industriepolitik: Durch eine entschlossene bundes-und landespolitische Industriepolitik in und für Ostdeutschland, deren Essentials unser Projekt in mehreren Texten zur Sprache gebracht hat könnte eine Sanierung sowie die notwendige beschaffungs-und wettbewerbspolitische Privi-legierung (Wolfgang Thierse) zahlloser Unternehmen und speziell der „industriellen Kerne“ realisiert werden, die den bisher weithin ausgebliebenen „Aufschwung Ost“ in Gang bringt. Die Aufhebung der „Altschulden“ -Fiktion und die Kapitalbeteiligung der Länder spielen dabei eine wichtige Rolle.
Förderung partizipativer Unternehmensformen: Eine weitere essentielle Rolle spielt die Förderung partizipativer Unternehmensformen: Mit Hilfe von materieller und Entscheidungsbeteiligung der Belegschaften -von der THA viel zu spät und unzulänglich angeboten -könnten in großem Ausmaß Mitarbeitergesellschaften ermöglicht werden, die, wie Stephan Käppler dargelegt hat, durch hohe Motivation (und daher u. a. Inkaufnahme von zeitweiligen Lohneinbußen) wettbewerbsfähig werden.
Dasselbe gilt für genossenschaftliche Unternehmen, insbesondere in der Landwirtschaft. Nach unseren Untersuchungen haben die Agrargenossenschaften allen Diskriminierungen zum Trotz nicht nur als einzige „sozialistische“ Wirtschaftsform überlebt -sie haben sich auch als effizienter denn die durchschnittlichen westdeutschen Höfe erwiesen
Schaffung eines staatlichen Zweiten Arbeitsmarkts: Da nach übereinstimmender ökonomischer Analyse Wirtschaftswachstum, auch mit noch so verschwenderischen Subventionen und rigidem Lohnabbau forciert, nicht mehr Größenordnungen erreichen wird, die zum relevanten Abbau von Massenarbeitslosigkeit führen, ist anstelle des gegenwärtigen, insbesondere für Ostdeutschland katastrophalen Abbaus der Arbeitsmarktpolitik ein stabiler Zweiter (staatlicher, „gemeinwirtschaftlicher“) Arbeitsmarkt aufzubauen. Es geht darum, statt Arbeitslosigkeit Arbeit zu finanzieren, die nach den vorliegenden Berechnungen nur relativ geringe Mehrkosten verursacht, aber außergewöhnlich positive gesellschaftspolitische Ergebnisse zeitigt
Abbau der . Diskriminierungen: Durch die längst fällige Abschaffung des „Rentenstrafrechts“, durch das -im Widerspruch zur Rentengarantie des Einigungsvertrages -die Renten von ehemals in „staatsnahen“ Berufen Beschäftigten gekappt werden, sowie durch eine Wiedergutmachung bei Einstellungen, durch die in Universitäten und sämtlichen öffentlichen Institutionen bei gleicher Qualifikation Ostdeutsche bevorzugt (wieder) eingestellt werden, muß der Diskriminierung der Funktionseliten in der DDR gegengesteuert werden. Das wichtigste aber ist der Abbau des allgemeinen arroganten, diskriminierenden Verhaltens vieler Westdeutscher gegenüber der Biographie und Leistung der meisten Ostdeutschen, vor allem die Respektierung und kritische Aneignung des kulturellen Erbes: In konstruktiver Aufnahme der Forderung von Hans-J. Misselwitz -„Nicht länger mit dem Gesicht zum Westen“ -kann eine kritische Würdigung und Aufarbeitung der soziokulturellen Errungenschaften in der 40jährigen DDR-Geschichte wesentlich dazu beitragen, die Destruktion des Selbstbewußtseins vieler Menschen in Ostdeutschland wiedergutzumachen, die dazu geführt hat, daß sich heute 80 Prozent als „Bürger 2. Klasse“ einstufen
Fritz Vilmar, Dr. phil., geb. 1929; Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin; Emeritierung 1995. Seit 1990 Gründer und Mitarbeiter einer kibbuzähnlichen Gemeinschaft in Ostdeutschland. Veröffentlichungen u. a.: Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1965; Strategien der Demokratisierung, 2 Bde., Darmstadt 1973; (zus. mit Karl-Otto Sattler) Wirtschaftsdemokratie und Humanisierung der Arbeit, Frankfurt am Main 1978; (zus. mit Brigitte Runge) Handbuch Selbsthilfe, Frankfurt am Main 1988; (Hrsg. zus. mit Wolfgang Dümcke) Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995. Wolfgang Dümcke, Dr. sc. phil., geb. 1953; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereichsinstitut Sozialwissenschaften der Humboldt Universität Berlin, Lehrbeauftragter am Fachbereich Politikwissenschaft der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Politische Bildung in den neuen Bundesländern, Hamburg 1991; (Hrsg. zus. mit Fritz Vilmar) Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995.
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