Regieren als permanente Kampagne Stil, Strategien und Inhalte der amerikanischen Innenpolitik unter Präsident Clinton
Martin Thunert
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Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht zentrale Fragen des innenpolitischen Geschehens in den USA während der Clinton-Präsidentschaft. Neben der kursorischen Behandlung ausgewählter Einzelthemen gilt die Hauptaufmerksamkeit den politischen Konzeptionen und Strategien, mit denen die innenpolitischen Hauptakteure der vergangenen vier Jahre, Präsident Clinton auf der einen und der von Speaker Newt Gingrich und Senator Bob Dole geführte 104. Kongreß auf der anderen Seite, ihre politischen Vorhaben begründeten bzw. umsetzten. Mit lediglich 43 Prozent der abgegebenen Stimmen besaß Präsident Clinton ein vergleichsweise schwaches Wählermandat für die von ihm angestrebte Erneuerung Amerikas. Nach einer Reihe beachtlicher legislativer Anfangserfolge in der Wirtschafts-, Bildungs-und Handelspolitik wich Clinton, der das Regieren als permanenten Wahlkampf betrieb, während der beiden ersten Amtsjahre signifikant von der 1992 eingeschlagenen, in die politische Mitte zielenden Programmatik eines „New Democrat“ ab und wurde bei den Zwischenwahlen von 1994 mit dem Verlust der politischen Mehrheit im Kongreß bestraft. Nach furiosem Auftakt blieb die Kongreß-Revolution der Gingrich-Republikaner, symbolisiert im „Vertrag mit Amerika“, aufgrund grober Fehleinschätzungen und schwerer taktischer Fehler Ende 1995 im Getriebe des auf Machtausgleich bedachten Regierungssystems der USA stecken. Politisch zunächst abgeschrieben, kehrte Präsident Clinton im Wahljahr ins Zentrum der amerikanischen Politik zurück, indem er sich den Gemäßigten aller Schichten und Hautfarben als moderater Reformer der politischen Mitte und als Staatsmann von internationalem Format präsentierte, der sich in gleichem Maße als Garant gesellschaftlichen Ausgleichs und staatlicher Verantwortung für Schwächere sowie als entschlossener Ausgaben-kürzer und familienfreundlicher Neuerer empfahl.
I. Einleitung
Unter weitgehender Ausklammerung der an anderer Stelle ausführlich behandelten Themen der Wirtschafts-, Haushalts-, Steuer-, Sozial-und Gesundheitspolitik analysiert der Beitrag zentrale Fragen des innenpolitischen Geschehens in den USA während der Clinton-Präsidentschaft. Neben der kursorischen Behandlung ausgewählter Einzel-themen gilt die Hauptaufmerksamkeit den politischen Konzeptionen und Strategien, mit denen die innenpolitischen Hauptakteure der vergangenen vier Jahre, Präsident Clinton auf der einen und der von Speaker Newt Gingrich und Senator Bob Dole geführte 104. Kongreß auf der anderen Seite, ihre politischen Vorhaben begründeten bzw. umsetzten. Es folgen eine Erfolgsbilanz präsidentieller wie kongressionaler Politik, ein Ausblick auf die innenpolitischen Prioritäten einer möglichen zweiten Clinton-Amtszeit und ein Deutungsversuch des derzeitigen innenpolitischen Klimas in den USA.
II. Die Philosophie des „New Democrat"
Während des Präsidentschaftswahlkampfs 1992 trat Bill Clinton mit dem Anspruch auf, als ein „Demokrat neuartigen Typs“ (New Democrat) das Land aus der wirtschaftlich-sozialen Krise zu führen. Mit ihrem in der Schrift Putting People First niedergelegten Wahlprogramm wollten sich der langjährige Gouverneur des kleinen Südstaates Arkansas und sein „running mate“ Al Gore, ehemals Senator aus Tennessee, als im Vergleich zur linksliberalen Aktivistenbasis zentristische Demokraten ausweisen, indem sie sich von der Mentalität des „Besteuerns und Ausgebens“ (tax and spend), von Staatsgläubigkeit und dem Hang zur Berücksichtigung minoritärer Sonderinteressen distanzierten Clinton und Gore versprachen, die von ihnen geführte Regierung werde sich der Sorgen der Mittelschichten annehmen, ohne den Staatsapparat Washingtons weiter aufzublähen und ohne die Abgabenlast für Normalverdiener zu erhöhen. Hinter dem unverhohlenen Populismus der unzähligen Einzelvorhaben Clintons offenbarte sich ein Reformkonzept, das auf eine neue Partnerschaft zwischen Bürgern und Staat innerhalb einer globalisierten Dienstleistungswirtschaft und einer offenen Gesellschaftswelt im ausgehenden 20. Jahrhundert abzielt. Statt den Bürgern immer umfassenderen, einklagbaren Schutz gegen immer mehr Lebensrisiken zu gewähren, wie es die Theorie des Wohlfahrtsstaates vorsteht, oder gutorganisierten Gruppierungen mit immer weiteren Leistungsangeboten entgegenzukommen, wie es häufig in der Regierungspraxis geschah, sollte sich der moderne Staat auf angebotsseitige Intervention mittels schulischer und beruflicher Bildung, Forschungsförderung und moderater steuerlicher Regulierung zurückziehen.
Diese mit dem Begriff „New Democrat“ umschriebene innerparteiliche Reformphilosophie ist zweifelsohne wahlstrategisch motiviert, besitzt jedoch auch eine programmatische Komponente. Hintergrund der 1985 erfolgten organisatorischen Formierung „Neuer Demokraten“ im Rahmen des
Democratic Leadership Council (DLC) war die verlorene Präsidentschaftswahl von 1984, als der Traditionsdemokrat Walter Mondale von Präsident Ronald Reagan in 49 von 50 Bundesstaaten geschlagen wurde. Während sich Traditionsdemo-kraten wie Mondale nach wie vor als Vertreter der ärmeren Bevölkerungsschicht, der gewerkschaftlichen Arbeiterschaft und der Minderheiten (insbesondere der Schwarzen) verstanden und nachhaltig für die Verteidigung der gesetzesgebundenen Sozialprogramme (entitlement programms) eintraten, zielten Mondales innerparteilicher Mitbewerber, Ex-Senator Gary Hart, und in dessen Folge die „Neuen Demokraten“ des DLC unverhohlen auf die Wähler der weißen Mittelschicht, indem sie sich von der sozialstaatlichen Regierungspraxis des „big government“ distanzierten. Die erneute Niederlage des demokratischen Kandidaten Michael Dukakis bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 gegen George Bush festigte die empirisch belegbare Überzeugung der DLC-Strategen, daß die Präsidentschaft für konventionelle Demokraten aus den nördlichen Bundesstaaten auf der Grundlage einer traditionsdemokratischen Wahl-plattform nicht mehr zu gewinnen war. Sachpolitisch verstehen sich New Democrats nicht als konservative Demokraten, die programmatisch auf halbem Weg zwischen linksliberaler und konservativer Orthodoxie angesiedelt sind, sondern als Verfechter eines neuartigen politischen Programm-cocktails für das Informationszeitalter des 21. Jahrhunderts in der Tradition des progressive movement zur Überwindung des klassischen Rechts-links-Gegensatzes
Wie zu zeigen sein wird, hat Bill Clinton die USA keineswegs stringent entlang der Prioritätenliste der neodemokratischen Programmatik regiert. Die Gründe dafür liegen in seiner Persönlichkeit und seinem Regierungsstil, in seinem politischen Umfeld sowie in den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen seiner Präsidentschaft. Allein der Erdrutschsieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen zwang Clinton zu einer Rückbesinnung auf einen politischen Kurs der Mitte.
III. Amtsführung und Regierungsstil Präsident Clintons
1. Die präsidentielle Persönlichkeit
Als Bill Clinton am 20. Januar 1993 zum 42. Präsidenten der USA vereidigt wurde, besaß niemand höhere Erwartungen an die Möglichkeit der Über-
Windung innenpolitischen Stillstands durch präsidentielle Führung als der Amtsinhaber selbst. Clinton, der sich als Politiker der Tradition „aktivpositiver“ Präsidenten vom Schlage Franklin D. Roosevelts, Harry Trumans und John F. Kennedys verpflichtet fühlt, startete die Verwirklichung seiner ambitionierten innenpolitischen Agenda öffentlichkeitswirksam mit der Veranstaltung einer Wirtschaftskonferenz. Im Beisein des Präsidenten und eines Großteils seines späteren Kabinetts erläuterten in Little Rock, Arkansas, die führenden Köpfe der amerikanischen Wirtschafts-und Sozialwissenschaft einer breiten Öffentlichkeit vor laufenden Kameras die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Mißverhältnis eines Anstiegs der Staatsausgaben und sinkenden Staatseinnahmen einerseits und mangelnden Investitionsrücklagen, Investitionsmängeln und sinkendem Lebensstandard andererseits Sein Versprechen, ein Kabinett zu berufen, das die Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft widerspiegele, erfüllte Clinton durch die Ernennung einer bunten Mannschaft moderater Demokraten, doch überschattete ungeschicktes Taktieren bei den wenigen kontroversen Ernennungen diesen wichtigen symbolischen Anfangserfolg. Trotz der scheinbar gelungenen Prioritätensetzung holte den Präsidenten eine seit den Gouverneurstagen bekannte Führungsschwäche rasch ein: „overseheduling“, die Tendenz zur Überfrachtung der politischen und legislativen Agenda. Der Gouverneur im Weißen Haus wollte zu viel zur gleichen Zeit. Bei der Planung politischer Programmprioritäten mit integrativer Wirkung verzettelte sich der fachpolitisch überaus kenntnisreiche Clinton in Einzelheiten und ließ es zu, daß eine Reihe von Reizthemen die Frühphase seiner Präsidentschaft definierte: Abtreibung, die Rechte homosexueller Armeeangehöriger, die Ernennung kontroverser Staatssekretäre, ein von Senatsrepublikanern durch Filibuster gestopptes staatliches Investitionsprogramm, das überwiegend aus maßgeschneiderten Geschenken an demokratische Wahlkreise bestand.
Aus seinem fünf Großprojekte umfassenden Prioritätenkatalog hob der Präsident während des ersten Amtsjahres lediglich die Gesundheits-und Haushaltspolitik hervor. Doch auch hier beging er schwerwiegende Fehler: Weder die Vorsitzende der aus mehreren hundert Mitarbeitern bestehenden Gesundheitsreformkommission, First Lady Hillary Rodham Clinton, noch deren Chefberater, Ira Magaziner, besaßen Erfahrung im präsidentiellen Beratungsprozeß. Insbesondere Magaziner, dessen Vorliebe für etatistische Großlösungen bekannt war, empfahl dem Präsidenten eine frühe Festlegung auf das Politikziel „lückenlose Pflicht-versicherung“. Mit seinem in der „Ansprache zur Lage der Nation“ 1994 gegebenen Versprechen, jeden Gesetzentwurf unterhalb der umfassenden Pflichtversicherung mit dem Veto zu belegen, beraubte sich Clinton der für die Verhandlungen mit dem Kongreß notwendigen Flexibilität Unter der fälschlichen Annahme des Weißen Hauses, bei der Verabschiedung seines Wirtschaftsprogramms auf die Zusammenarbeit mit moderaten Kongreßrepublikanern verzichten zu können, reduzierte sich die von Clinton selbst angestoßene breite Diskussion über eine ökonomische Zukunftsvision auf einen monatelangen Streit um haushaltspolitische Einzelfragen.
2. Die öffentliche Präsidentschaft: Regieren im Wahlkampfstil
Clintons Führungsstil war von Anbeginn offen, transparent, öffentlichkeitsorientiert sowie in hohem Maße politisiert Das Regieren verstanden der Präsident und sein ungewöhnlich junges, hochmotiviertes, aber im Washingtoner Geschäft unerfahrenes Mitarbeiter-und Beraterteam als permanenten Wahlkampf. Ein Blick auf die Reisetätigkeit des Präsidenten während des ersten Amtsjahres veranschaulicht diesen Befund. Früh überreizte er das Potential des „goingpublic“ durch eine unermüdliche Reisetätigkeit sowie durch die permanente Präsenz in alten und neuen Medien. Bereits nach einem Jahr entpuppte sich Bill Clinton als reisefreudigster Präsident aller Zeiten Deutlich wird der Sinn der Clintonschen Öffentlichkeitsstrategie bei der Betrachtung der Zielorte und der Zwecke seiner Auftritte. Die Häufigkeit seiner Reisen in die Regionen des amerikanischen Nordostens und der Großen Seen sowie nach Kalifornien korrespondiert mit der jeweiligen politischen Bedeutung der besuchten Region für die Wiederwahl des Präsidenten. Während seine republikanischen Vorgänger primär zum Zwecke des Spendensammelns oder des Besuchs parteipolitischer Veranstaltungen sowie zur Wahrnehmung außen-politischer Termine reisten, nutzte Clinton die Mehrzahl seiner Auftritte zur Vermarktung und Diskussion seiner politischen Sachprioritäten Gesundheitsreform und Haushaltspolitik.
3. Das politisch-institutionelle Umfeld
Die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen änderten sich für Bill Clinton zur Mitte seiner Amtszeit dramatisch. Der Erdrutschsieg der Republikanischen Partei bei den mid-term elections (zur Halbzeit des Präsidentenzyklus) vom 8. November 1994 stellte die über 40 Jahre gewohnten Mehrheitsverhältnisse in der Legislative der Vereinigten Staaten auf den Kopf und den Zustand der „geteilten Regierung“ (divided government unter umgekehrten Vorzeichen wieder her Unmittelbar nach seiner Wahl fand der aktivistisch gestimmte Präsident zunächst günstige institutioneile Ausgangsbedingungen vor: Die Demokraten verfügten im 103. Kongreß (1992-1994) über eine komfortable Mehrheit in beiden Häusern und schienen nach zwölf Jahren Republikanerherrschaft im Weißen Haus reformhungrig. Trotz der zwischen 1992 und 1994 anhaltenden Konstellation des „unified government“ standen der konsequenten Umsetzung einer zentristischen Agenda eine Reihe von Hindernissen im Wege: Neben den üblichen Schwierigkeiten, denen sich Versuche präsidentieller Führung in den USA generell gegenübersehen (unabhängig legitimierte Legislative, schwache Parteien, konflikt-und enthüllungsfreudige Presse kommen im Falle eines in die politi-sehe Mitte zielenden Regierungsprogramms folgende Hürden hinzu:
1. Die gesetzgeberische Umsetzung eines Programms der Mitte setzt Abstimmungskoalitionen aus gemäßigten Republikanern und liberal-konservativen Demokraten voraus. Jüngste Veränderungen im Parteiensystem der USA haben den Kongreß jedoch ideologisch weiter polarisiert als in früheren Jahrzehnten. Einer die politische Mitte ansteuernden Gesetzgebung fehlt im heutigen Repräsentantenhaus der gemeinsame Rückhalt gemäßigter Nordstaatenrepublikaner und konservativer Südstaatendemokraten. Seit einigen Jahren sendet der Süden mehrheitlich konservative Republikaner nach Washington und der Norden überwiegend linksliberale Demokraten. Dieser Trend hatte sich bei den Demokraten 1992 zugespitzt. Zum selben Zeitpunkt, als der vorgeblich „zentristische" Demokrat Clinton ins Weiße Haus einzog, gewannen ausgewiesene linksliberale Parteifreunde -insbesondere mehrere Senatskandidatinnen aus Kalifornien und Illinois -neue Parlamentssitze und entfernten die Kongreßfraktion damit weiter von der Mitte Clinton verzichtete angesichts dieser Machtverhältnisse auf eine Machtprobe mit dem traditionalistischen Flügel der Kongreß-Demokraten und näherte sich während des ersten Amtsjahres dem ideologischen Mainstream der Parteibasis an, indem er z. B. die angekündigte Sozialhilfereform zugunsten der Gesundheitsreform hintanstellte.
2. Mit 43 Prozent der abgegebenen Stimmen besaß Bill Clinton ein vergleichsweise schwaches politisches Mandat.
3. Inhaltlich erfordert ein Regierungsprogramm der Mitte Reformschritte, deren Auswirkung von weiten Teilen der Wählerschaft als ungewiß, wenn nicht sogar bedrohlich eingeschätzt wird. In dem zunehmend medienvermittelten plebiszitären politischen Klima der USA gestaltet sich die Werbung für komplexe, in ihren Wirkungen schwer überschaubare Politikvorhaben schwieriger als die Mobilisierung der Negativkräfte.
IV. Sachpolitische Initiativen, Entscheidungen und Kontroversen
Die Rolle des amerikanischen Präsidenten im Gesetzgebungsprozeß ist beschränkt. Weder verabschiedet der Präsident Gesetze selbst, noch beeinflußt er den Kalender des legislativen Alltagsgeschäfts im Kongreß. Eine Vielzahl amerikanischer Bundesgesetze besitzen eine begrenzte Geltungsdauer und müssen vom Kongreß in regelmäßigen Abständen überprüft und überarbeitet werden {reauthorization). Da ferner die Ausgabenhöhe der sog. discretionary programs der jährlichen Bewilligung {appropriation^ durch den Kongreß unterliegt, existiert auf dem Kapitolshügel eine umfangreiche legislative Tagesordnung unabhängig von den politischen Vorhaben des Präsidenten. Die Hauptfunktionen des Präsidenten bestehen somit in der Prioritätensetzung sowie in der Kontrolle kongressionaler Initiativen durch die Inkraftsetzung von Gesetzen oder deren Blockade mittels des präsidentiellen Vetos. Untersucht man wichtige innenpolitische Entwicklungen in den USA seit 1992 aus der Perspektive der Gesetzgebung, sind vier Bereiche hervorzuheben.
1. Abarbeitung legislativen Rückstaus
Bill Clinton, erster Demokrat im Weißen Haus seit 1981, unterstützte eine Reihe verabschiedungsreifer kleinerer sozial-und rechtspolitischer Vorhaben der Kongreß-Demokraten, die sein Vorgänger George Bush mit dem Veto belegt hatte. Die Aufhebung von Abtreibungsrestriktionen, die Unterzeichnung des Family Leave Act, der Arbeitnehmern das Recht auf unbezahlten Urlaub im Falle der Krankheit von Familienangehörigen einräumt, eines Gesetzes zur Erleichterung der Wählerregistrierung {Motor Voter Bill) und des nach Ronald Reagans attentatsgeschädigtem Pressesprecher benannten „Brady-Gesetzes“ zur Einschränkung des Erwerbs automatischer Schußwaffen sicherten dem neuen Präsidenten nicht nur frühe legislative Erfolge, sondern auch die Wertschätzung gewerkschaftsnaher und linksliberaler Traditionsdemokraten.
2. Großthemen, die von den Ereignisabläufen vorgegeben werden, und Initiativen Präsident Clintons
Zu dieser Kategorie gehörten die Ratifizierung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1993 sowie des GATT-Handelsabkommens 1994 -jeweils mit einer Mehrheit der Republikanischen Partei gegen das Mehrheitsvotum der Demokraten.
Zu den erfolgreich verwirklichten Kernvorhaben Präsident Clintons zählten sein am 17. Februar 1993 der Öffentlichkeit vorgestelltes Wirtschaftsprogramm mit dem Schwerpunkt Defizitreduzie17 rung, die Einsetzung einer von Vize-Präsident Al Gore geleiteten Kommission zur Effizienzsteigerung der Bundesbehörden (reinventing govemment), das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994, die Schaffung des AmeriCorps durch das nationale Zivildienstgesetz von 1993 sowie eine Reihe bildungspolitischer Maßnahmen wie z. B. die Teilreform der Studiendarlehen. Das nach langem Tauziehen von einer überparteilichen „Zentrumskoalition“ gegen den starken Widerstand konservativer wie linksliberaler Kräfte in der Schlußphase des 103. Kongresses verabschiedete Gesetzespaket zur Verbrechensbekämpfung sieht verschärfte Strafen (u. a. die Ausweitung der Todesstrafe und die automatische Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe für dreimal rückfällige Straftäter, die sog. „three strikes and you’re out" -Regel), eine Ausweitung vorbeugender Maßnahmen (Ausbildungs-und Sportprogramme wie „midnight basketball“ in Kommunen und Stadtbezirken mit hoher Kriminalitätsrate), den Bau weiterer Gefängnisse, die Anstellung von 100 000 neuen Polizeibeamten sowie das Verbot von Angriffswaffen (19 automatische Waffentypen) vor und hat einen Umfang von 30, 2 Milliarden US-Dollar Laut Umfragen gingen die Kriminalstatistik und die Bedrohungswahrnehmung der amerikanischen Bevölkerung seit Inkrafttreten des Verbrechensgesetzes leicht zurück
Die Einführung eines freiwilligen Sozial-und Gemeinschaftsdienstes (National Service) gehörte 1993 zu den Kernstücken der New Democrat-Programmatik Clintons, da der Dienst begrenzte Staatstätigkei automatische Waffentypen) vor und hat einen Umfang von 30, 2 Milliarden US-Dollar 15. Laut Umfragen gingen die Kriminalstatistik und die Bedrohungswahrnehmung der amerikanischen Bevölkerung seit Inkrafttreten des Verbrechensgesetzes leicht zurück 16.
Die Einführung eines freiwilligen Sozial-und Gemeinschaftsdienstes (National Service) gehörte 1993 zu den Kernstücken der New Democrat-Programmatik Clintons, da der Dienst begrenzte Staatstätigkeit mit den Prinzipien Bürgerrechte und Bürgerverantwortung modellhaft verknüpft. Als Gegenleistung zu freiwilliger Gemeinde-und Sozialarbeit erhalten die Zivildienstleistenden die Teilfinanzierung eines anschließenden oder bereits absolvierten Hochschulstudiums 17. Das Programm passierte den Kongreß nur in erheblich gekürztem Umfang. Unerledigt blieben dagegen die versprochene Reform der Wahlkampffinanzierung und der Lobbytätigkeiten in Washington sowie die Aufwertung der Umweltbehörde (Environmental Protection Agency) zu einem Bundesministerium. Aus den gescheiterten Vorhaben mit besonderer Priorität ragt die Gesundheitsreform hervor. Gebrochen hat der Präsident sein Versprechen einer auf die mittleren Einkommen zugeschnittenen Steuersenkung. Weitere Kernvorhaben Clintons wie die Reform der Sozialfürsorge und die Neuregelung des Telekommunikationswesens konnten vor dem Ende des von Demokraten kontrollierten 103. Kongresses nicht mehr bearbeitet werden, wurden aber von der neuen republikanischen Kongreßmehrheit aufgenommen und in veränderter Handschrift 1996 verabschiedet 18. 3. Initiativen des 104. Kongresses: der Contract with America Seit Januar 1995 muß Präsident Clinton seine politische Führungsfähigkeit unter veränderten Mehrheitsverhältnissen unter Beweis stellen. Dies gestaltete sich zunächst schwierig, da nie zuvor eine Kongreßmehrheit sich gesetzgeberisch aktiver und entschlossener zeigte, den Präsidentenwillen zu ignorieren, als der von Republikanern kontrollierte 104. Kongreß. Die parlamentarische Polarisierung, ausgehend von den 73 republikanischen Kongreßneulingen (freshmen) im Repräsentantenhaus, zwang moderate Republikaner und konservative Demokraten zur früher häufig durchbrochenen Fraktionsdisziplin. Während der ersten hundert Tage der neuen Legislaturperiode führte der neue Präsident (Speaker) des Repräsentantenhaus, Newt Gingrich, die untere Kammer des Kongresses im Präsidialstil. Im „Vertrag mit Amerika“, einem Zehn-Punkte-Programm, das u. a. vorsah, den Budgetausgleich in der Verfassung zu verankern und eine Reihe von Kongreßreformen in Angriff zu nehmen, sowie Gesetze zur drastischen Reduzierung staatlicher Ausgaben und Steuersenkungen ankündigt 19, verfügte Gingrich über ein Regierungsprogramm und eine Regierungserklärung: Im Stil eines Präsidenten setzt er sich eine Hundert-Tage-Frist und wurde nicht müde, die Einbettung eines jeden einzelnen Programmpunktes in ein ideologisches Langzeitkonzept, die Umgestaltung Amerikas von einer Wohlfahrts-in eine Chancengesellschaft, öffentlich zu erläutern Die Hundert-Tage-Frist beendete Gingrich mit einer Fernsehansprache an die Nation in der Form eines Rechenschaftsberichts. Zwar hatten die „Vertrags-Republikaner“ ihr Versprechen, die Einzelpunkte des Contract im Repräsentantenhaus zur Abstimmung zu bringen, fristgerecht eingelöst, doch besaßen wenige Themen die realistische Chance, auf Gesetzgebungsreife heranzuwachsen. Als einziger Programmpunkt war der Vorschlag, die Amtszeiten der Kongreßmitglieder auf zwölf Jahre zu begrenzen (term limits), bereits im Repräsentantenhaus gescheitert. Erfolgreicher waren dagegen Initiativen zur Reform des politischen Prozesses: Das Repräsentantenhaus leitete seit langem überfällige Maßnahmen ein, die Transparenz seiner Arbeitsweise zu erhöhen, der Bund nahm unfinanzierte Auflagen an die Einzelstaaten (unfunded mandates) zurück und der Präsident erhielt durch das line item veto die verfassungsrechtliche Möglichkeit, gegen einzelne Posten aus Haushaltsbewilligungsgesetzen Einspruch einzulegen. Eine fehlende Stimme im Senat brachte das Kernstück des Vertrags, den Verfassungszusatz zur Vorlage ausgeglichener Bundeshaushalte (balancedbudget amendment), der einer Zweidrittelmehrheit bedurft hätte, zu Fall. Weitere aus dem „Vertrag mit Amerika“ entnommene Initiativen der Republikaner, die allesamt drastische Einsparungen im Sozialbereich sowie bei der Krankenversicherung für Senioren vorsahen -bei gleichzeitiger Steuererleichterung für mittlere und obere Einkommen -, belegte Präsident Clinton ebenso mit dem Veto wie die Versuche zur Rücknahme der Schußwaffenkontrollgesetze.
Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause 1996, dem faktischen Ende der 104. Legislaturperiode, erreichte die gesetzgeberische Arbeit auf dem Kapitolshügel ihren Höhepunkt. Mit breiten überparteilichen Mehrheiten erhöhten die Abgeordneten den gesetzlichen Minimalstundenlohn von 4. 25 auf 5. 15 US-Dollar, verschärften ein Trinkwasserreinheitsgesetz und verabschiedeten eine Teilreform des Krankenversicherungswesens. Das parteiübergreifend von Senatorin Nancy Kassebaum (R) und Senator Ted Kennedy (D) konzipierte Gesetz garantiert den Erhalt der (privaten) Krankenversicherung bei Arbeitsplatzwechsel oder -Verlust auch im Falle eines bestehenden schweren Krankheitsbilds. Wenngleich die Reichweite des Gesetzes weit unterhalb des Anspruchs auf allgemeinen Versicherungsschutz bleibt und die Situation der 43 Millionen nichtversicherten Amerikaner unberührt läßt, weist es einen realistischen Weg zur Reform des Gesundheits-und Krankenversicherungswesens der USA; diese kann angesichts der Komplexität der Materie und der politischen Macht-und Mehrheitsverhältnisse nur schrittweise erfolgen
Kontroverser gestaltete sich die Reform der Sozialfürsorge (welf'are reform). Clinton wie Gingrich standen bei ihren Wählern mit Reformversprechen im Wort, beide konnten ihre eigenen Vorhaben jedoch nicht ohne Abstriche verwirklichen Im Kern folgt das am 22. August 1996 von Clinton in feierlicher Zeremonie unterzeichnete Gesetz dem republikanischen Vorschlag, die meisten der gesetzlich geregelten Geldleistungsprogramme des Bundes als Pauschalzuweisungen (block grants) an die Einzelstaaten zu überweisen und die Bundesverantwortung für die Sozialhilfe-gestaltung auf ein Minimum zu reduzieren. Kein Sozialhilfeempfänger darf aus Bundesmitteln länger als fünf Lebensjahre unterstützt werden, nach zwei Empfängerjahren müssen gesunde Sozialhilfebezieher -je nach der Zahl zu betreuender Kinder -mindestens 20 Wochenstunden arbeiten. Als Zugeständnis an die Demokraten schreibt das Gesetz den Einzelstaaten nicht zwingend vor, minderjährige Eltern oder Kinder von Sozialhilfeempfängern vom Bezug der Hilfsleistungen auszuschließen. Darüber hinaus bleiben ehemalige Sozialhilfeempfänger, die ein geringes Einkommen über dem Sozialhilfesatz beziehen, für ein weiteres Jahr staatlich krankenversichert (Medicaid). Ferner erschwert die Reform legalen Einwanderern den Zugang zu staatlichen Leistungen bis zum Zeitpunkt der Einbürgerung
Gegner in den eigenen Reihen werfen Clinton vor, im Interesse seiner Wiederwahl die Anliegen der ärmsten und schwächsten Amerikaner, insbesondere der Kinder, zu verraten. Mit der Rückgabe des vom Bund gestalteten und seit 1935 verwalteten Sozialhilfeprogramms AFDC (Aid to Families with Dependent Children) in den Verantwortungs-bereich der Einzelstaaten entschlossen sich die Reformer für eine sozialpolitische Richtungsänderung ohne Beispiel in Kontinentaleuropa, die auch in der amerikanischen Tradition einen Bruch mit dem Glaubenssatz des New Deal bedeutet, nachdem „Washington“ in letzter Instanz für die Benachteiligten und Schwachen einstehen werde. Fest steht ebenfalls, daß eine Dreiviertelmehrheit des Kongresses mit Clintons Zustimmung ein unzureichendes, fehlerhaftes und unpopuläres Sozialhilfesystem gegen ein neues, dezentral administriertes und abgespecktes System einzelstaatlicher Daseinsfürsorge austauscht, dessen Auswirkungen auf die Betroffenen und die Gesellschaft als Ganzes auch von Experten nur schwer vorhersagbar sind.
V Weitere innenpolitische Streitfragen
1. Das Bildungswesen
Der bildungspolitische Parteienstreit kreist seit einem Jahrzehnt im wesentlichen um zwei Fragen: um die Rolle des Bundes in der Bildungspolitik und um die geeigneten Instrumente zur Verbesserung des maroden öffentlichen Sekundarschulwesens. Die Demokraten wollen an der begrenzten bildungspolitischen Rolle der Bundesregierung festhalten. Zwar beläuft sich das Bildungsbudget Washingtons nur auf zirka sechs Prozent der gesamten Bildungsausgaben der USA, doch erfüllt die Politik des erst 1977 eingerichteten Fachressorts nach Lesart der Demokraten die wichtige Funktion der nationalen Standardsetzung in Bildungsfragen. Das 1993 von Clinton konzipierte und vom Kongreß verabschiedete Bildungsgesetz „Goals 2000“ entspricht dieser Zielsetzung geradezu beispielhaft, indem es -ausgestattet mit einem Finanzvolumen von 400 Millionen US-Dollar -dem Schulwesen der Einzelstaaten und Kommunen finanzielle Anreize bietet, national einheitliche Bildungsstandards in den Kernfächern zu erfüllen und den Kreis der Anspruchsberechtigten des erfolgreichen Programms Head Start für unterprivilegierte Vorschüler und Kindergartenkinder erweitert. Dagegen setzte sich in der Republikanischen Partei die Auffassung durch, Bildung und Erziehung seien ausschließliche Angelegenheit der Bundesstaaten und der Kommunen. Konsequenterweise plädiert ein Großteil der republikanischen Bildungspolitiker für die Auflösung des Bundesbildungsministeriums und für den weitgehenden Rückzug des Bundes aus der Bildungsgesetzgebung. Die vom Bund für Erziehungsfragen ausgegebenen Steuermittel möchten die Republikaner in Form von Bildungsgutscheinen (Vouchern) an die Eltern zurückgeben. Diesen wiederum steht es frei, die individualisierten Steuervoucher an jeder privaten oder öffentlichen Schule ihrer Wahl einzulösen. Dagegen sprechen sich die Demokraten strikt gegen die unter dem Voucher-Modell eintretende Finanzierung privater oder kirchlicher Schulen mit öffentlichen Steuer-geldern aus und akzeptieren allenfalls eine steuer-finanzierte Wahlfreiheit der Eltern zwischen Anbietern des öffentlichen Schulwesens
2. Mend it, don’t end it -Die Kontroverse um affirmative Minderheitenpolitik
Die jüngste Debatte um Zielsetzung, Legitimation und Leistungsfähigkeit der affirmative action-Programme hatte mehrere Auslöser: Seit Jahren mahnt der Supreme Court eine restriktive Praxis der Minderheitenförderung an. Jüngst lehnte das Gericht die Neueinteilung von Wahlkreisen nach Kriterien der Hautfarbe als verfassungswidrig ab. Weitere Einzelurteile zwangen Bundesbehörden, ihre minderheitenfördernden Auflagen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu lockern Die Konzile der Staatsuniversitäten von Kalifornien und Georgia beschlossen, bei der Zulassung der Studenten wie bei der Anstellung des wissenschaftlichen Personals alle Förderprogramme bis auf weiteres auszusetzen. Am Tag der Präsidentschaftswahlen 1996 werden die mehr als 20 Millionen wahlberechtigten Kalifornier über die sog. „Bürgerrechtsinitiative“ abstimmen, die -abgefaßt in der Rhetorik moderner Anti-Diskriminierungsrichtlinien -den staatlichen Stellen sämtliche Förderprogramme untersagen will Ein Blick auf die Erstsemesterzulassungen am Los Angeles Campus der Universität von Kalifornien illustriert die unterschiedlichen Auswirkungen einer nach Förderungsgesichtspunkten gewichteten Zulassung im Vergleich zu einer an rein akademischen
Obgleich nicht Bestandteil des „Vertrags mit Amerika“, thematisierte die republikanische Kongreßführung das Thema in der Bundespolitik mit dem Ziel, sämtliche existierenden Maßnahmen zur Minderheitenförderung abzuschaffen, da sie gegen das Prinzip der Chancengleichheit verstießen. Präsident Clinton, der die weitestgehenden Initiativen der Republikaner durch seine Vetodrohung blokkierte, ordnete 1994 eine Überprüfung aller existierenden Förderungsmaßnahmen auf Bundesebene an. Der Bericht an den Präsidenten gelangte 1995 zu dem Schluß, große Teile der Förderungspraxis seien zwar reparaturbedürftig, aber weiterhin notwendig zur Herstellung „echter Chancengleichheit“.
Die Durchsetzungsfähigkeit eines Präsidenten spiegelt sich nicht zuletzt in dessen Umgang mit dem Kongreß wider. Bill Clintons statistisch ermittelte Erfolgsrate im Umgang mit dem Kongreß sank von Rekordwerten während der beiden ersten Amtsjahre auf den niedrigsten Stand seit Beginn der statistischen Erfassung dieser Meßgröße durch die Zeitschrift Congressional Quarterly im Jahr 1953. Nur in 36, 2 Prozent aller Abstimmungen im Kongreß vermochte sich 1995 der Standpunkt des Präsidenten durchzusetzen. In den Jahren 1993 und 1994 lag dieser rein quantitative Leistungsindikator bei beachtlichen 86, 4 Prozent. Die niedrige Erfolgsquote Clintons nach 1994 spiegelt nicht nur die veränderten Machtverhältnisse in beiden Häusern der gesetzgebenden Gewalt wider, sondern unterstreicht die unvergleichliche Dynamik und Geschlossenheit der neuen Republikaner-Mehrheit. Dem von Newt Gingrich und Bob Dole geführten 104. Kongreß gelang es, das innenpolitische Geschehen in weitaus höherem Maße an sich zu reißen, als es die von Demokraten kontrollierten Kongresse gegenüber den Republikanern Reagan und Bush während der achtziger Jahre vermochte hatten
In realistischer Einschätzung der Geschlossenheit der neuen republikanischen „Opposition“ veränderte das Weiße Haus seine politische Strategie: der gesetzgeberische Offensiv-Präsident zog sich in die legislative Defensive zurück. Clinton kam den Republikanern dort rhetorisch weit entgegen, wo diese populäre Positionen vertraten (wie in der Frage des Haushaltsausgleichs, der Minderheiten-politik, der Kriminalitätsbekämpfung oder der Sozialhilfereform), und setzte das Drohpotential des präsidentiellen Vetos dort mit Geschick ein, wo sich die Gesetzesinitiativen der Gingrich-Truppen in der Öffentlichkeit als „extremistisch“ und sozial einseitig darstellen ließen (wie z. B. bei Kürzungen in der Krankenversorgung für Senioren) Kann ein Präsident dadurch an Statur und öffentlichem Ansehen gewinnen, daß er die siegreichen Volksvertreter der Gegenpartei am gesetzgeberischen Handeln hindert? Bisher waren die Experten der amerikanischen Politik geneigt, diese Frage zu verneinen -nicht zuletzt durch den Verweis auf den glücklosen innenpolitischen Bremser George Bush. Als Politikverhinderer, so die herrschende Meinung, könne kein Präsident dauerhaft an Profil gewinnen.
Clinton scheint diese Regel zu durchbrechen, denn nach 18 Monaten Kongreßherrschaft der „Opposition“ gelang ihm die Wiederherstellung seines Rufes als zukunftsorientierter Reformpräsident. Um sich erneut als Präsident gemäßigten Wandels zu profilieren, publizierte Clinton pünktlich zum Wahlparteitag der Demokraten seine Rezeptur für ein vitales Amerika zu Beginn des 21. Jahr-hunderts Unter den Leitmotiven „Chancen“ (opportunity), „Verantwortung“ (responsibility) und „Gemeinschaft“ (community) präsentiert sich der Demokrat Clinton als überparteilicher Staatsmann und Common-Sense-Politiker, der nicht davor zurückschreckt, bei Bedarf im populären Politikrepertoire des politischen Gegners zu wildern: Er befürwortet Ausgangssperren für Jugendliche in Großstädten nach 21 Uhr und die Ausstattung nachbarschaftlicher Sicherheitsdienste mit modernster Kommunikationstechnik. Clinton gibt sich als überzeugter Anhänger des sog. „V-Chips“, durch dessen Einsatz Eltern jugendgefährdende Fernsehsendungen verschlüsseln.
Näher an der Gedankenwelt der eigenen Partei steht eine Reihe von Bildungsmaßnahmen, mittels derer sich die Chancen aller Amerikaner, erfolgreich in einer globalisierten Weltwirtschaft bestehen zu können, verbessern sollen. Im Vordergrund steht die Erleichterung des Hochschulzugangs für Einkommensschwache durch eine gezielte Ausbildungssteuerabschreibung mit dem Ziel, allen Amerikanern eine mindestens zweijährige Coliegeausbildung zu ermöglichen. Flankierend möchte die Administration den flächendeckenden Anschluß aller amerikanischen Bildungseinrichtungen an die Informationsautobahn fortführen. Im Anschluß an die umstrittene Reform der Sozialfürsorge möchte Clinton sicherstellen, daß der konzeptionelle Kern des Gesetzes, Sozialhilfeempfängern den Übergang in die Arbeitswelt zu ermöglichen, nicht hinter dem Ziel finanzieller Einsparungen verlorengeht. Schließlich findet Clintons Vorhaben, Eltern zum Zwecke von Arztbesuchen oder Pflege von Familienangehörigen befristet von der Arbeit freizustellen -bei entsprechender Lohneinbuße -, parteiübergreifende Zustimmung. Abwesend auf der politischen Vorschlagsliste der neuen Bescheidenheit Clintons ist die politische Großidee, wie sie 1992 in Gestalt der Gesundheitsreform oder des Wirtschaftsprogramms die Wahlkampagne bestimmte. Der Haushaltkonsolidierer aus dem Weißen Haus paßte seinen Maßnahmenkatalog geschickt an das Zeitalter der knappen Ressourcen an. Zugespitzt findet sich die „Republikanisierung“ Clintons in seiner Ansprache zur Lage der Nation vor beiden Häusern des Kongresses vom 23. Januar 1996: Der Demokrat Clinton verkündete das Ende der Ära gouvernementaler Politiklösungen, ohne das Zurück in den Nachtwächterstaat anzutreten:
„The era of big government is over. But we cannot go back to the time when our citizens were left to fend for themselves."
Wie erklärt sich andererseits die mäßige Bilanz des als „konservative Revolution“ überhöhten Wahltriumphs der Republikanischen Kongreßpartei? Drei Gründe spielen hier zusammen. Erstens wurde die Kongreßführung um Gingrich und die Gruppe der konservativ radikalisierten 70 Kongreßneulinge zu Opfern ihres eigenen Unvermögens, ihrer schweren Strategiefehler während des Haushaltsstreits im Winter 1995/96 sowie ihres eigenen unterkomplexen Verständnisses des politischen Prozesses in den USA. Gingrich, der den Staat auf Bundesebene in die Rolle eines Linien-richters im freien Spiel von Wirtschaft und Gesellschaft zurückstufen wollte, glaubte paradoxerweise an die Möglichkeit rascher und nachhaltiger Gesellschaftsveränderung mit den Mitteln staatlicher Politik. Nur wenige freshmen vermochten es, die selbstgesetzten hohen ethischen Erwartungen in die Amtsführung eines Kongreßabgeordneten der Mehrheitsfraktion zu erfüllen. Ein Jahr nach der historischen Machtübernahme beherrschten die konservativen Kongreßneulinge die Washingtoner Praxis, den Amtsinhaber-und Mehrheitsstatus zum gemeinsamen Wohle der Lobbyisten und der eigenen Wiederwahl zu nutzen, nicht nur ebensogut wie ihre abgewählten demokratischen Vorgänger, sie entwickelten das System sogar zur Perfektion
Zweitens fehlt der Republikanischen Partei eine alle Partei-und Wählerschattierungen integrierende politische Botschaft. Niemand ist heute in der Lage, die Essenz des modernen Republikanismus auf einen Nenner zu bringen. Bei der Republikanischen Partei der neunziger Jahre handelt es sich um eine verworrene Koalition aus Marktliberalen, fundamentalchristlichen Moralisten, Steuer-rebellen, Fiskalkonservativen, technokratischen Fortschrittsutopisten sowie kulturpessimistischen Reaktionären und Anti-Modernisten 3’. Keine kohärente Weitsicht vereinigt heute die Republikanische Partei. Der von den Sozialkonservativen und Christian Coalition initiierte innerparteiliche Dauerstreit über gesellschaftspolitische Reizthemen wie die Abtreibung, das Schulgebet oder Zensurmaßnahmen wirkt spaltend und entfremdet nicht nur tolerante Fiskalkonservative, der virtuelle Cyberspace-Konservatismus Gingrichs und seiner Vordenker überfordert das biedere Fußvolk des Bibelgürtels, das forsche Auftreten der Defizitfalken verschreckt die Senioren Floridas. Bei den erfolgreichen Zwischenwahlen von 1994 diente das Feindbild eines unfinanzierbaren, moralisch fragwürdigen Wohlfahrtsstaates als einigendes Moment. Längerfristige Popularität genoß die Revolte gegen den Staat in der Vergangenheit jedoch nur dann, wenn sie sich wie unter Präsident Reagan im Gewand einer populistischen Steuer-rebellion präsentierte. Stellt sie jedoch, wie im Vertrag mit Amerika geschehen, den Haushaltsausgleich durch Ausgabenkürzungen bei vielgenutzten Sozialprogrammen in den Vordergrund, verliert die Anti-Staats-Revolte rasch an Unterstützung.
Schließlich und drittens besitzen die ambivalenten Erfolgsbilanzen des Präsidenten und der republikanischen Kongreßmehrheit eine Gemeinsamkeit: Sie sind sowohl Opfer als auch Begünstigte der veränderten Rahmenbedingungen moderner amerikanischer Politik: Im Zeitalter des televisionären „advocacy advertising“ (Tendenzwerbung), angesichts des abnehmenden Vertrauens breiter Bürgerschichten in staatliche Institutionen und staatlich administrierte politische Lösungen ist es um ein Vielfaches leichter, hochkomplexe Reforminitiativen wie die Reform des Gesundheitswesens (Demokraten) oder die Konsolidierung der Rentenfinanzen (Republikaner) erfolgreich zu attakkieren, als ihre langfristigen Vorzüge zu erläutern und zu verteidigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die zur Debatte stehenden Reformen von schlagkräftigen Interessengruppen wie Ärzteverbänden und Pharmazeuten oder von machtbewußten Wählerschichten wie den Senioren als Eingriff in ihre Besitzstände gedeutet werden. Das offene und fragmentierte Regierungssystem der USA in Verbindung mit der Wahlenthaltung einer Bevölkerungshälfte gewährt gutorganisierten Verbänden und selbstbewußten Teilwählerschaften einen überproportionalen Einfluß auf den politischen Entscheidungsprozeß.
VII. Zum gegenwärtigen innenpolitischen Klima der USA
Hatte es zu Beginn der Clinton-Präsidentschaft den Anschein, als stünden die USA unter der Führung des Clinton-Teams vor einer „Europäisierung“ ihrer sozial-und ordnungspolitischen Lösungsansätze so erweist sich diese These rückblickend eher als Wunschdenken transatlantisch gesinnter Europäer denn als realistische Einschätzung der gesellschaftlichen Situation der USA in den neunziger Jahren. Bei der Steuerung des Marktes wird sich Amerika auf absehbare Zeit nicht an kontinental-europäischen Modellen orientieren. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert steht weder die Übernahme eines Krankenversicherungssystems nach deutschem Vorbild noch die Einführung einer germanisierten Berufsausbildung auf der politischen Tagesordnung Amerikas Hat sich mit Clintons Schwenk in die politische Mitte die Ideenwelt Ronald Reagans in den USA endgültig gegen die politischen Vorstellungen der Demokraten durchgesetzt? Einiges spricht für diese Deutung. Nach anderthalb Jahrzehnten republikanischer Anti-Defizit-Rhetorik ist eine breite Bevölkerungsmehrheit von der schädlichen Wirkung staatlicher Haushaltsdefizite überzeugt. Nach dem Scheitern des letzten demokratischen Großprojekts, der Gesundheitsreform, wird eine Ausweitung staatlicher Tätigkeit in den USA weder haushaltspolitisch noch konzeptionell ernsthaft diskutiert. Dennoch verkörpern die Grundideen der Republikaner (noch) kein hegemoniales Projekt für das frühe 21. Jahrhundert. Obgleich Teile der republikanischen Programmatik populär und mehrheitsfähig bleiben, besitzt Amerika in den neunziger Jahren keine dominierende Partei
Die Demokraten haben ihre jahrzehntelange Vorherrschaft eingebüßt, die Republikaner haben landesweit gleichgezogen, ohne bereits eine neue Phase der parteipolitischen Vorherrschaft (realignment) begonnen zu haben. In der amerikanischen Bevölkerung herrscht zweifellos ein reduzierteres Verständnis staatlicher Verantwortung als auf dem europäischen Kontinent. Gleichwohl wäre es falsch und verkürzt, die Mehrheit der politisch aktiven Amerikaner pauschal als antistaatlich und sozialstaatsfeindlich einzuschätzen. Die umfassendsten und kostenintensivsten bundesstaatlichen Sozialprogramme, die staatliche Rentenversicherung (social security) und die staatliche Krankenversicherung für Senioren (Medicare) erfreuen sich bei abhängig Beschäftigten, bei Frauen und älteren Bürgern größter Beliebtheit Clintons Aussichten auf die Verteidigung seines Amtes stiegen nicht zufällig in dem Moment, als es ihm während des letzten Haushaltsstreits mit der Kongreßführung meisterhaft gelang, die Republikaner in den Augen der Öffentlichkeit als Gegner dieser Programme und damit als Totengräber der Rentenversicherung und der Gesundheitsfürsorge der Senioren zu demaskieren. Die Mehrheit der Amerikaner wünscht einen reformierten, keinen finanziell strangulierten Staat und unterstützt die Anpassung staatlicher Programme an veränderte Rahmenbedingungen, nicht aber deren ersatzlose Streichung. Auch im Land des blühendsten „Dritten Sektors“ der Welt kann die Privatinitiative nicht über Nacht alle Aufgaben übernehmen, derer sich die öffentliche Hand entledigt. Jenseits der parteipolitischen Polarisierung schimmern die Konturen eines nachwohlfahrtsstaatlichen Politikkonsenses, der sich jedoch institutionell schwer organisieren läßt. Der Konsens umfaßt folgende Punkte:
1. die Akzeptanz der Notwendigkeit eines ausgeglichenen Staatshaushalts,
2. den weitgehenden Verzicht, gegen die Marktlogik eines globalisierten Kapitalismus anzuregieren,
3. das Zurückschrauben bundesstaatlicher Tätigkeit auf die Standardsetzung bei gleichzeitiger Delegierung der Politikausführung an Einzelstaaten, Kommunen und semi-private Träger und
4. das Zurückfahren der universellen Anspruchs-rechte des Bürgers auf staatliche Solidarleistungen.
Die Gewährung solidarischer Leistungen wird an strenge Bedingungen geknüpft. Sie wird bei arbeitsfähigen Erwachsenen als Investitionsleistung verstanden, die zeitlich befristet mit starker Eigenbeteiligung gewährt wird. Angestrebt wird nicht länger die staatliche Rundumversorgung, sondern die Ermächtigung (empowerment) der Bürger zu eigenverantwortlichem Handeln.
Auf nationaler Ebene verlangen diese Kriterien nach einer politischen Führungskraft, die die Fähigkeit zu richtungweisenden und prinzipiengeleiteten Visionen, zur strategischen Finesse und zum legislativen Management in sich vereinigt. Ex-Präsident Bush besaß diese Fähigkeiten nur in bezug auf die Außenpolitik und wurde abgewählt. Bob Dole, Präsidentschaftskandidat der Republikaner, erwarb sich in 35 Kongreßjahren den Ruf eines gesetzgeberischen Virtuosen und überlegenen Strategen, dem es jedoch an Visionen mangelt. Ob es ausreicht, den eigenen Perspektiven-mangel durch die Auswahl des visionsreicheren Vizepräsidentschaftskandidaten Jack Kemp zu kompensieren, darf bezweifelt werden. Als „Dauerwahlkämpfer“ mangelt es Präsident Clinton nicht an der Fähigkeit, politische Zielvorstellungen nachvollziehbar und wirkunsvoll zu verbreiten. Seine anfänglichen Schwächen lagen auf dem Gebiet des Managements und der Strategie. Korrigiert der Präsident -wie bereits geschehen -seinen gouverneurshaften Regierungsstil, verkörpert Bill Clinton aus heutiger Sicht als einziger Spitzenpolitiker auf Bundesebene sämtliche drei genannten Qualifikationen.
Bill Clintons Politik zeigt darüber hinaus Ausstrahlungswirkung in die übrige westliche Welt. Insbesondere eröffnet die neodemokratische Strategie der Bejahung des globalen Marktes und des Freihandels, sein Eintreten für traditionelle Werte, Härte bei der Verbrechensbekämpfung und der illegalen Einwanderung und eine auf Selbstverantwortung aufbauende Sozialpolitik den Mitte-links-Parteien westlicher Industrieländer eine Macht-perspektive. Unter ihrem Vorsitzenden Tony Blair begibt sich die oppositionelle britische „New“ Labour Party bereits seit zwei Jahren auf den Clinton-Kurs -mit beachtlichem Erfolg in den Meinungsumfragen Dort, wo Parteien der linken Mitte heute in der Regierungsverantwortung stehen, in Schweden, Kanada und Italien, beziehen sie gegenüber einem ausufernden Sozialstaat, gegenüber Haushaltsdefiziten und Steuerlast sowie in einer Konfliktvermeidungsstrategie mit den Finanzmärkten die wesentlichen Positionen des Clintonismus. Aus europäisch-deutscher Sicht muß daher die Frage, ob der amerikanische Weg, innenpolitische Herausforderungen anzunehmen und zu lösen, für Europa eine Brücke in die Vergangenheit oder eine Brücke in die Zukunft darstellt, in letztere Richtung beantwortet werden.
Martin Thunert, Dr. phil., geb. 1959; Studium in Frankfurt am Main, Montreal und Augsburg; wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg im Bereich Vergleichende Regierungslehre; 1996/97 John F. Kennedy-Memorial Fellow am Minda de Gunzburg Center for European Studies der Harvard University in Boston/Cambridge, USA. Veröffentlichungen u. a.: Grundrechtspatriotismus in Kanada? Zur politischen Funktion der Canadian Charter of Rights and Freedoms, Bochum 1992; Beiträge zur Verfassungspolitik, zur Innenpolitik in Kanada, den USA und Schweden, zu Grund-und Menschenrechten, zur politischen Kultur Nordamerikas sowie zum internationalen Studentenaustausch.
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