Flucht, Vertreibung, Migration 1945-1995. Zur Problematik von Zuwanderung und Integration
Peter J. Opitz
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Zusammenfassung
Zu den globalen Problemen am Ende des 20. Jahrhunderts gehören immer stärker wachsende Flucht-und Migrationsbewegungen. Obwohl diese weiterhin vor allem arme Länder und Regionen des „Südens“ schwer belasten, greifen sie zunehmend auch auf die wirtschaftlich entwickelten Länder der Welt über und lösen hier Beunruhigung und Abwehr aus. In seinen ersten beiden Teilen skizziert der Beitrag zunächst die Entwicklung der globalen Flucht-und Migrationsbewegungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und analysiert die wichtigsten der ihnen zugrunde liegenden Ursachen. Ein dritter Teil enthält Überlegungen zur gegenwärtigen Situation und kommt zu dem Ergebnis, daß sich ohne eine schnelle und energische Veränderung der Ursachen -vor allem Überbevölkerung und Unterentwicklung -die Gesamtproblematik weiter verschärfen und auch zu einer Destabilisierung der derzeit noch politisch-wirtschaftlich weitgehend intakten Regionen der Welt führen wird.
I. Einleitung
Die globalen Konturen des Flucht-und Migrationsproblems werden erst allmählich sichtbar. Gegen Ende der siebziger Jahre schien es sich noch primär um politische Flüchtlinge zu handeln, deren Zahlen weltweit stiegen und in einigen Regionen dramatische Ausmaße erreichten -vor allem in Ostafrika, aber bald auch in Indochina und Afghanistan. Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre wurde dann deutlich, daß die Massen der Flüchtlinge, die inzwischen weiter gewachsen waren und deren Ausläufer nun immer häufiger die Küsten und Grenzen der wirtschaftlich entwikkelten Welt erreichten, nur Teil eines viel umfassenderen Phänomens bzw. Problems sind: weltweit zunehmender Migrationsbewegungen. Auch sie sind an sich keine neue Erscheinung. Nicht nur in verschiedenen Regionen des „Südens“ hatte es schon immer größere Bewegungen von Wanderarbeitern gegeben; auch die in den fünfziger Jahren allmählich sich herausbildenden wirtschaftlichen Wachstumspole in Nordamerika, Westeuropa und Australien hatten große Zahlen von „Gast“ -und Wanderarbeitern aus der näheren und ferneren Peripherie angezogen.
Abbildung 5
Abbildung 2: Langfristige Projektionen der Bevölkerung der Makroregionen der Erde.
Quelle: United Nations, World Population Prospects. The 1994 Revision, New York 1995 (dt. Bearbeitung Kommission der EU, Brüssel).
Abbildung 2: Langfristige Projektionen der Bevölkerung der Makroregionen der Erde.
Quelle: United Nations, World Population Prospects. The 1994 Revision, New York 1995 (dt. Bearbeitung Kommission der EU, Brüssel).
Neu ist etwas anderes: Während die Migrationsbewegungen früher weitgehend kontrolliert und überschaubar verlaufen waren, nehmen sie nun nicht nur deutlich an Umfang zu, sondern entziehen sich auch immer mehr der Kontrolle. Vor allem aber mischen sich in sie nun immer mehr Migrationstypen, die es zwar ebenfalls schon früher gegeben hatte, die damals aber weniger sichtbar gewesen waren -sogenannte „Armuts-“ und „Umweltflüchtlinge“, Menschen also, die nicht nur vorübergehend nach Arbeit, sondern nach einer neuen Heimat suchen. Und noch etwas ist neu: Aufgrund der schnelleren und billigeren Beförderungsmöglichkeiten kommen immer mehr Menschen aus anderen, fernen Kontinenten und Kulturen.
Neben der Sorge um die Gefährdung der Arbeitsplätze durch Zuwanderer tritt damit auch die Angst vor „kultureller Überfremdung“. Die Beunruhigung darüber wächst und wird durch Projektionen über die beängstigende Wachstumsraten aufweisende globale Bevölkerungsentwicklung weiter verstärkt. Denn vor diesem Hintergrund erscheinen die in die wirtschaftlich entwickelten Regionen drängenden Menschen nur als Vorhut künftiger Migrationsbewegungen erheblich größeren Umfangs -sofern es nicht gelingt, die auslösenden Faktoren in den Griff zu bekommen.
Dazu aber ist es nicht nur nötig, das Migrationsgeschehen in seinen unterschiedlichen Formen ständig im Blick zu behalten und auf seine tieferliegenden Ursachen zu befragen, sondern auch immer wieder die Entwicklung und Umsetzung migrationsdämpfender Strategien anzumahnen. Wenn es eine Herausforderung globaler Dimension gibt, die „global governance“ erfordert, so scheint es diese zu sein. Beiden Aufgaben widmet sich der folgende Beitrag. In seinen ersten beiden Teilen skizziert er zunächst die Entwicklung der globalen Flucht-und Migrationsbewegungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie die ihnen zugrunde-liegenden Ursachen und reflektiert dann im dritten Teil einige der Konsequenzen, die sich aus diesen Befunden ergeben.
II. Flucht und Vertreibung seit 1945
Abbildung 2
Tabelle 1: In Europa gestellte Asylanträge 1987-1994 Quelle: Flüchtlinge, (1995) 3, hrsg. vom UNHCR.
Tabelle 1: In Europa gestellte Asylanträge 1987-1994 Quelle: Flüchtlinge, (1995) 3, hrsg. vom UNHCR.
Wie die großen Fluchtbewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so sind auch die in seiner zweiten Hälfte eng mit dem politischen Geschehen verbunden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Flucht und Vertreibung sind Phänomene, die vor allem im Umfeld interner und internationaler Konflikte auftreten -und von diesen gibt es auch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eine Fülle. So weisen die internationalen Kriegsstatistiken für die Zeit zwischen 1945 und 1995 nahezu 200 Kriege und Konflikte aus, von denen die meisten innerstaatliche Konflikte waren und es bis heute sind. Geht man ferner davon aus, daß dem Ausbruch zahlreicher Konflikte Phasen der Repression vorausgehen, die von mehr oder minder starken Verletzungen von Menschen-und Minderheitenrechten geprägt sind, so überrascht es kaum, daß die Schätzungen über die Zahl der Opfer von Flucht und Vertreibung die Hundert-Millionen-Grenze erheblich überschreiten.Das politische Geschehen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist wesentlich durch drei große Prozesse gekennzeichnet, die in enger Verbindung miteinander stehen: Während zwei von ihnen -der Ost-West-Konflikt und der Zerfall der großen Kolonialreiche der europäischen Mächte -inzwischen weitgehend abgeschlossen sind, ist ein Ende des dritten großen Prozesses -die Bildung neuer Staaten auf den Territorien jener früheren Kolonialimperien -noch nicht absehbar. Im Umfeld eines jeden dieser drei Prozesse kam es gleichzeitig mit den sie prägenden Konflikten zu einer Vielzahl riesiger Fluchtbewegungen. Der Ost-West-Konflikt Das galt zunächst für den Ost-West-Konflikt, der schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausbrach und sich -unterbrochen von einigen Phasen der Entspannung -bis zum Ende der achtziger Jahre hinzog. Nachdem er sich zunächst auf den europäischen Raum konzentriert hatte, sprang er nach dem Sieg der chinesischen Kommunisten im Bürgerkrieg, der Machtergreifung kommunistischer Regime in Nordkorea und Nordvietnam sowie der Ausbreitung kommunistischer Guerilla-Bewegungen in anderen Teilen Südostasiens zunächst auf andere Regionen Asiens, danach auf Lateinamerika und Afrika über. Während die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs noch nicht abgeschlossen war -in Deutschland betrug deren Zahl etwa 13 Millionen entstanden neue Fluchtbewegungen in vielen Teilen der Welt.
Den vermutlich größten Anteil daran hatten zunächst die Europäer, von denen sich seit Mitte der vierziger Jahre viele der Unterdrückung durch die neuen totalitären Regime in den östlichen Teilen des Kontinents durch Flucht in den Westen zu entziehen suchten -Ungarn, Polen, Serben, Tschechen, Deutsche; allein die Zahl der Deutschen überstieg schon nach kurzer Zeit die Millionen-marke und hielt auch nach dem Bau der Mauer weiter an. Nur wenig kleiner waren die Fluchtbewegungen im außereuropäischen Bereich: Weit über zwei Millionen Menschen flohen vom chinesischen Festland nach Taiwan und Hongkong; mehr als fünf Millionen aus dem nördlichen Teil der koreanischen Halbinsel; zirka drei Millionen -über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg -aus den drei indochinesischen Staaten. Kuba verließen nach der Machtübernahme Castros zunächst zirka 800 000 Menschen, weitere 200 000 folgten in den Jahrzehnten danach; Trecks von rund fünf Millionen Menschen flohen nach der sowjetischen Intervention aus Afghanistan. Millionen flüchteten in den achtziger Jahren vor den nun eskalierenden Bürgerkriegen in Zentral-amerika und Afrika.
Während in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sich der Eiserne Vorhang öffnete und die Zahlen der politischen Flüchtlinge aus dem Osten und Südosten Europas deutlich zurückgingen, kam es in Asien noch einmal zu einer Verschärfung der Situation. So flohen seit der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Juni 1989 zirka 50 000 Dissidenten aus der Volksrepublik China, und auch in der britischen Kronkolonie Hongkong nimmt die Zahl derer zu, die sich mit dem Herannahen der Rückführung der Stadt in die chinesische Souveränität ins sichere Ausland absetzen. Lediglich die noch immer hermetisch abgeriegelte Grenze zwischen den beiden koreanischen Staaten verhindert, daß sich größere Zahlen von zur Flucht entschlossenen Menschen in den Süden der Halbinsel absetzen; doch auch dies könnte sich bald ändern 1. 2. Die Entkolonisierungsprozesse Fast gleichzeitig mit dem Ausbruch des Ost-West-Konflikts trat die Auflösung der Kolonialreiche der westeuropäischen Mächte in ihre entscheidende Phase. Dies geschah zunächst in Asien, wo der japanische Imperialismus die europäischen Positionen entscheidend geschwächt hatte und nun, nach der Kapitulation der japanischen Armeen, die einheimischen Befreiungsbewegungen den Kampf um die Unabhängigkeit gegen die rückkehrenden Kolonialmächte mit neuem Elan aufnahmen. Während die europäischen Mächte ihre kolonialen Positionen in Asien entweder freiwillig räumten -wie in Indien, Ceylon und Burma -oder sich nach kurzem Versuch der Niederschlagung der Aufstandsbewegungen zurückzogen -wie in Indonesien, Malaysia und Indochina -, leisteten sie in Afrika zum Teil zähen und blutigen Widerstand. Das galt für Frankreich in Algerien ebenso wie für die britischen Siedlerkolonien in Rhodesien, Kenia und in Südafrika, vor allem aber für Portugal, das seine afrikanischen Gebiete bis Mitte der siebziger Jahre verteidigte.
Eine erste große Welle der im Rahmen der Entkolonisierung ausgelösten Fluchtbewegung bestand aus Mitgliedern der einheimischen Befreiungsbewegungen und großen Teilen der mit ihnen sympathisierenden und kooperierenden Bevölkerungen; sie suchten vor der kolonialen Repression entweder in sicheren Landesteilen oder in schon unab-hängig gewordenen afrikanischen Nachbarstaaten Zuflucht. Insbesondere im südlichen Afrika handelte es sich dabei um Millionen von Menschen. Eine zweite Welle bildeten nach dem Zusammenbruch der kolonialen Regime die europäischen Siedlerpopulationen -so flohen 300 000 Holländer aus Niederländisch-Indien, fast eine Million französischer Siedler aus Algerien und 800 000 Portugiesen aus Angola und Mocambique sowie Zehntausende britischer Siedler aus Rhodesien.
Seine bislang letzte Phase erreichte der Entkolonisierungsprozeß zu Beginn der neunziger Jahre. Nachdem im Frühjahr 1990 die drei baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, folgten nach dem mißglückten Putsch kommunistischer Kräfte im August 1991 die anderen Sowjetrepubliken in Osteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien. Dies bedeutete nicht nur das Ende der Sowjetunion, sondern, da diese das imperiale Erbe des Russischen Reiches angetreten hatte, letztlich auch das Ende des letzten großen europäischen Kolonialreiches, das die zaristischen Herrscher über viele Jahrhunderte in Asien geschaffen hatten.
Obwohl der Zerfall der Sowjetunion in 15 unabhängige Staaten vergleichsweise unblutig verlief und Moskau bislang lediglich in der Kaukasus-Region weiteren Abspaltungsbewegungen dortiger Völker militärisch entgegentritt, wurden durch die Auflösung der Sowjetunion zirka 54 bis 65 Millionen Menschen -ein Drittel der Gesamtbevölkerung -mit einem Schlage zu Ausländern darunter 34 Millionen Russen, Ukrainer und Weißrussen. Gewalttätige Konflikte und ein militanter Nationalismus in einigen der Nachfolgestaaten hatten bislang 3, 6 Millionen Flüchtlinge, Binnenflüchtlinge und unfreiwillig umgesiedelte Personen zur Folge. Den jüngsten Brennpunkt der Auseinandersetzungen bildet Tschetschenien, das seit dem Ausbruch der Kämpfe vor zwei Jahren bislang mindestens 40 000 Todesopfer und 400 000 Flüchtlinge zu beklagen hat. Insgesamt beträgt die Zahl der Menschen, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ihre früheren Wohnsitze verlassen haben -sei es als Flüchtlinge, als Umsiedler, als Arbeitsmigranten oder als Aussiedler -weit über zwei Millionen.
Ob die Entkolonisierungsprozesse auch China -das letzte große Kolonialimperium -erfassen werden, ist angesichts der zahlenmäßigen Dominanz der Han-Chinesen und der Schwäche und Isoliertheit der Minderheiten-Bevölkerungen wenig wahrscheinlich. Zunehmen wird dagegen mit wachsender antichinesischer Militanz in Tibet und Xinjiang sowie als Folge der repressiven Gegenmaßnahmen Pekings die Zahl der Menschen, die jenseits der Grenzen in den neuen zentralasiatischen Staaten Zuflucht suchen. 3. Probleme der Nationenbildung Den größten Einfluß auf das Fluchtgeschehen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wahrscheinlich die Nationenbildungsprozesse, die sich unmittelbar aus der Entkolonisierung ergaben und bis heute andauern. Ihren deutlichsten Ausdruck findet die sie kennzeichnende Gewalttätigkeit in der Zahl der Kriege und Bürgerkriege, von denen sie bis heute begleitet werden -wobei sich die Konflikte vor allem in jenen Regionen entzündeten, in denen die staatliche Neuordnung nicht an bestehende nationalstaatliche Traditionen anschließen konnte. Das gilt insbesondere für das Afrika südlich der Sahara, für einige Gebiete des Mittleren Ostens, für Südasien, Südosteuropa und die Kaukasusregion. Bei den im Zusammenhang mit den Nationenbildungsprozessen auftretenden Konflikten dominieren drei Grundtypen:
Zwischenstaatliche Konflikte um kontroverse Grenzen und Territorien, um knappe Ressourcen und regionale Dominanz. Beispiele dafür sind in den neunziger Jahren der seit 1947 andauernde Konflikt um Kaschmir, die gewaltsame Annexion Kuwaits durch den Irak, in deren Verlauf zirka 200 000 Kuwaitis sowie rund 700 000 arabische und asiatische Gastarbeiter zu Flüchtlingen wurden, sowie der noch immer nicht abgeschlossene Konflikt auf dem Balkan.
Konflikte aufgrund separatistischer Bestrebungen von Völkern und Ethnien, die unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht bestehende Staaten verlassen und eigene Staaten gründen wollen: Ibo, Ostpakistanis, Tibeter, Tamilen, Eriträer, Timoresen, Sahauris, Tschetschenen und Abchasen. Die in diesen Konflikten ausgelösten Fluchtbewegungen umfassen viele Millionen Menschen.
Innerstaatliche Konflikte -sei es um eine gerechtere Verteilung von Land und wirtschaftlichen Ressourcen, sei es um die Verteilung der Macht zwischen verschiedenen Ethnien (z. B. in Ruanda, Burundi, Sudan), sei es um die politische, ideologische und religiöse Grundordnung von Staaten. Nachdem über viele Jahrzehnte die ideologisch motivierten Auseinandersetzungen zwischen pro-westlichen und proöstlichen Regimen und Eliten verlaufen waren und in Indochina, Afghanistan, Zentralasien und Afrika zu riesigen Fluchtbewegungen geführt hatten, sind in den achtziger Jahren zwei neue Frontlinien aufgebrochen, die sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts weiter verfestigt haben:
Eine von ihnen wird markiert durch religiöse Gruppierungen, die gegen die durch Kolonisierung und Modernisierung eingeleiteten Säkularisierungs-und Verwestlichungsprozesse Front machen und um die Wiederherstellung religiös fundierter Gesellschaftsordnungen kämpfen. Von ihnen ausgehende Auseinandersetzungen haben seit Beginn der achtziger Jahre eine Vielzahl islamischer Gesellschaften erfaßt und zur Verfolgung und Vertreibung von Hunderttausenden Menschen geführt. Zentren sind derzeit Algerien, Ägypten, der Sudan und Tadschikistan. Die Gefahr, daß sich in Indien eine ähnliche Entwicklung durchsetzt -hier allerdings in Form eines aggressiven Hindu-Nationalismus, der sich gegen die 120 Millionen indischer Muslims richtet scheint derzeit gebannt, gilt aber keineswegs als beseitigt. Bei der Teilung des Subkontinents 1947 war es in nur wenigen Wochen zur Flucht von 8, 5 Millionen Hindus und Sikhs nach Indien und von 6, 8 Millionen Muslims nach Pakistan gekommen -ein Hinweis auf die Dimensionen des hier lagernden Konfliktpotentials.
Die andere Frontlinie zeichnet sich derzeit besonders scharf in Afrika ab: Sie verläuft zwischen autoritären, nicht selten korrupten und inkompetenten Einparteienregimen und Gruppierungen, die sich für eine stärkere Demokratisierung ihrer Länder einsetzen. Während in einigen afrikanischen Staaten ein gewaltfreier Wechsel zu demokratisch gewählten Parlamenten und Präsidenten gelang -etwa in Benin, Zambia, Malawi, Mogambique -, leisten die Regime anderer Staaten -Togo, Zanzibar, Ruanda, Burundi, Zaire -erbitterten Widerstand. In Somalia und Liberia endeten die Auseinandersetzungen mit weitgehendem staatlichen Zerfall sowie -in beiden Ländern -mit Fluchtbewegungen von je über zwei Millionen Menschen.
In keinem der angeführten Fälle sind Konflikte und Vertreibungen allerdings monokausal verursacht -in der Regel resultieren sie aus dem Zusammenspiel unterschiedlichster politischer, religiöser, wirtschaftlicher, demographischer und anderer Faktoren, deren Mischung und Gewichtung von Fall zu Fall variieren.
Im wesentlichen waren es wohl diese drei leicht zeitverschoben einsetzenden, in vielen Regionen des „Südens“ sich überlagernden Prozesse, die zu einem steten Anstieg der Flüchtlingszahlen führten. Betrug diese bis zur Mitte der siebziger Jahre noch etwa 2, 5 Millionen Menschen, so eskalierte sie bis 1985 auf über elf Millionen und stieg bis 1990 weiter auf 17 Millionen an. Auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erhöhte sich ihre Zahl zunächst noch weiter auf 18, 2 Millionen im Jahre 1993, um in den folgenden beiden Jahren auf 13, 4 Millionen zu fallen.
Allerdings muß man davon ausgehen, daß die wirklichen Zahlen erheblich höher liegen. So errechnete das US-Committee for Refugees für Ende 1993 weltw Millionen zu fallen.
Allerdings muß man davon ausgehen, daß die wirklichen Zahlen erheblich höher liegen. So errechnete das US-Committee for Refugees für Ende 1993 weltweit einen Bestand von zirka 24 Millionen Binnenflüchtlingen. Rechnet man weitere Flüchtlingsgruppen, die statistisch zumeist unberücksichtigt bleiben, mit ein, so nähert sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge deutlich der 50-Millionen-Grenze, wobei der weitaus überwiegende Teil auf die Regionen des „Südens“ entfällt 3.
III. Weltweite Migrationsbewegungen seit 1945
Abbildung 3
Tabelle 2: Größte Flüchtlingsbevölkerungen nach Herkunftsland, 1995
Tabelle 2: Größte Flüchtlingsbevölkerungen nach Herkunftsland, 1995
1. Grenzüberschreitende Wanderungen Erst gegen Ende der achtziger Jahre erkannten größere Teile der westlichen Öffentlichkeit, daß die wachsenden Fluchtbewegungen in den Regionen des „Südens“ lediglich einen Aspekt eines vom Umfang her viel größeren Migrationsproblems darstellten, das nun zunehmend auch auf die entwickelten Staaten übergreift. Die enge Verflechtung der beiden Phänomene zeigt sich nicht zuletzt darin, daß sich in die rapide anschwellenden Ströme von Asylbewerbern wachsende Zahlen von Menschen mischen, die weniger aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen als aufgrund von Arbeitslosigkeit, Armut und fehlenden Lebensperspektiven.
Zu den Reaktionen in vielen Ländern des „Nordens“ gehören eine Verschärfung der Asylrechts-bestimmungen, eine immer restriktiver werdende Zuwanderungspolitik sowie eine zunehmende Beunruhigung der Bevölkerungen, die sich in einigen Staaten Europas bereits in aggressiven Akten gegen Ausländer entlud.
Der Rückblick auf das internationale Migrationsgeschehen seit 1945 läßt zwei große Phasen der Migration erkennen, die sich vom Umfang wie von der Zusammensetzung her erheblich unterscheiden 4: Die erste dieser beiden Phasen setzte schon bald nach dem Weltkrieg ein -Hauptziele der damals anbrechenden Wanderungen waren Nordamerika, Westeuropa und Australien. In allen drei Regionen war es angesichts großer wirtschaftlicher Wachstumsraten zu Engpässen auf den Arbeitsmärkten gekommen, die durch die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte behoben wurden. Während in Nordamerika und Australien dabei zunächst Zuwanderer aus Europa favorisiert wur-den und man erst ab Mitte der sechziger Jahre verstärkt Zuwanderer aus anderen Regionen -vor allem aus Asien und Lateinamerika -berücksichtigte, bezogen die zu dieser Zeit industriell boomenden Länder Westeuropas ihre Arbeitskräfte teils aus den weniger entwickelten Staaten Süd-und Südosteuropas und der Türkei, teils aus den ehemaligen Kolonialgebieten.Diese Phase endete Anfang der siebziger Jahre. Zu den Ursachen gehörte die sogenannte Ölkrise von 1973/74, die in vielen entwickelten Ländern eine wirtschaftliche Rezession herbeigeführt hatte, von der sie sich nur allmählich erholten; hinzu kamen tiefgreifende Veränderungen im internationalen Wirtschaftssystem und in der Wirtschaftpolitik der entwickelten Staaten. Gleichzeitig kam es aufgrund steigender Energiekosten, fallender Rohstoffpreise, eines rapiden Bevölkerungswachstums, politischer Instabilität und gigantischer Verschuldung in vielen Regionen des „Südens“ u wachsender wirtschaftlicher und sozialer Marginalisierung weiter Bevölkerungsgruppen. Hatte die Zahl „absolut Armer“ 1973 nach Weltbankberichten 700 Millionen Menschen betragen, so war sie ein Jahrzehnt später dabei, die Milliarden-Grenze zu überschreiten.
Zu den Folgen dieser Entwicklungen gehörten auch tiefgreifende Veränderungen im Migrationsbereich:
Zum einen nahmen die Wanderungsbewegungen in die industrialisierten Staaten des „Westens“ weiter zu. So erhöhte sich die ausländische Bevölkerung in den USA zwischen 1980 und 1991 um 9, 2 Millionen Menschen. In Kanada stieg sie im selben Zeitraum um 1, 6 Millionen, in Australien zwischen 1983 und 1991 um 987 000. Und obwohl die Länder Westeuropas nicht nur die Zuwanderung von Gastarbeitern Millionen, in Australien zwischen 1983 und 1991 um 987 000. Und obwohl die Länder Westeuropas nicht nur die Zuwanderung von Gastarbeitern gestoppt hatten, sondern sich zunehmend um die Rückführung früherer Gastarbeitergenerationen bemühten, wiesen auch hier -vor allem aufgrund von Familienzusammenführungen -die Anteile der ausländischen Bevölkerung steigende Tendenzen auf. Eine Zunahme ausländischer -vor allem nordafrikanischer -Zuwanderer verzeichneten dabei die südeuropäischen Staaten; so kam es z. B. in Italien in den achtziger Jahren fast zu einer Verdreifachung der ausländischen Bevölkerung auf zirka 800 000 Menschen, nicht eingeschlossen eine unbekannte, aber nicht unwesentliche Zahl illegaler Einwanderer. Gleichwohl entspricht das nur etwa einem Zehntel der ausländischen Bevölkerung in Deutschland.
Eine zweite Tendenz bildete die Diversifizierung der Zielländer der internationalen Migration. Zu neuen Zielpunkten insbesondere der Arbeitsmigration entwickelten sich zum einen die wirtschaftlich prosperierenden Golfstaaten, die ihren wachsenden Bedarf an Arbeitskräften durch die Anwerbung von Gastarbeitern aus arabischen und asiatischen Staaten deckten 5. Deren Zahl belief sich am Ende der achtziger Jahre auf rund sieben
Millionen Menschen, von denen viele wegen des Golfkriegs von einem Tag auf den anderen ausgewiesen wurden bzw. aufgrund des Ölembargos der Vereinten Nationen gegenüber dem Irak dort keine Arbeit mehr fanden.
Zu einem anderen Zielpunkt entwickelten sich zunehmend Japan und die „Tiger-Staaten“ Süd-ostasiens: So erhöhte sich die Zahl der ausländischen Arbeiter in Japan von nur 783 000 im Jahre 1980 auf die vergleichsweise immer noch sehr geringe Zahl von 1, 2 Millionen im Jahre 1991; in Singapur und Hongkong stieg sie in den neunziger Jahren auf je 300 000; Zuwächse in ähnlicher Höhe wurden aus Taiwan und Südkorea gemeldet. Steigende Zuwanderungszahlen verzeichnete aber auch die nächste Generation von „Tiger-Staaten“: So wird die Zahl der -zumeist illegalen -Gastarbeiter in Malaysia auf 1, 3 bis zwei Millionen, in Thailand auf 600 000 bis eine Million Menschen geschätzt. Ziel verstärkter Zuwanderung sind zunehmend auch wirtschaftlich weniger erfolgreiche Staaten. So „exportiert“ Bangladesh Teile seiner rasch wachsenden Überbevölkerung in die Nachbarländer, vor allem nach Indien, wo die Zahl dieser unerwünschten Zuwanderer auf 20 Millionen geschätzt wird. Besorgniserregende Zuwanderungszahlen aus China verzeichnet auch der russische Ferne Osten. Das gleiche gilt für den Himalayastaat Bhutan, der sich gegen hunderttausend Zuwanderer aus Nepal wehrt.
Insgesamt betrug -nach Schätzungen einer ILO/UNHCR-Konferenz -die Zahl der Menschen, die 1993 nicht in ihren Heimatländern lebten, zwischen 70 und 85 Millionen Menschen; nicht enthalten sind in diesen Schätzungen erhebliche Zahlen illegaler Zuwanderer sowie zirka 16 Millionen Flüchtlinge und Asylbewerber 6. 2. Binnenmigration Während die grenzüberschreitenden Migrationsströme aufgrund der Beunruhigung, die sie in vielen Ländern ausgelöst haben, inzwischen von einer Vielzahl internationaler Organisationen beobachtet und registriert werden, wird ein anderer, von den Dimensionen her viel gewaltigerer Aspekt des Migrationsgeschehens in vielen Ländern und Regionen weniger beachtet: die internen Wanderbewegungen, die zumeist von den armen Land-gebieten in die Städte und Metropolen ihrer Heimatländer verlaufen und hier die Slum-Gürtel anschwellen lassen. Hatte der Anteil der Stadtbevölkerung in den Entwicklungsländern 1950 weltweit erst 16, 2 Prozent (267 Millionen Menschen) betragen, so war er 1980 schon auf 30, 5 Prozent (972 Millionen Menschen) und 1995 sogar auf 36 Prozent angestiegen, wobei der Zuwachs mehr als zur Hälfte aus Wanderungsgewinn resultierte Besonders dramatisch vollzog sich das Wachstum der Megastädte im „Süden“: Gab es 1950 weltweit erst acht solcher Städte mit mehr als fünf Millionen Einwohnern, von denen lediglich zwei in der „Dritten Welt“ lagen, so hat sich ihre Zahl inzwischen auf 39 erhöht, von denen 28 in den Entwicklungsländern liegen. Angesichts des Wachstums der Weltbevölkerung -und das heißt vor allem die der „Dritten Welt“ -um jährlich etwa 100 Millionen Menschen dürfte nicht nur dieses Problem, sondern auch das der Migration insgesamt weiter an Schärfe zunehmen.
Schätzungen, denen zufolge in den kommenden zehn Jahren mehr als 400 Millionen Menschen in die 13 größten Städte Asiens abwandern werden, zeigen nicht nur die Dimensionen, um die es dabei geht, sondern auch die gewaltigen Aufgaben, die sich den Regierungen und Stadtverwaltungen stellen. Sofern diese dabei scheitern, droht neben einer politischen Destabilisierung die Abwanderung größerer Teile dieser Bevölkerungen in benachbarte Regionen, was ebenfalls wieder zu Konflikten führen kann.
Es ist aus heutiger Sicht schwer feststellbar, ob in den neunziger Jahren eine neue Phase der nationalen Migrationsgeschehen angebrochen ist. Eine Reihe von Anzeichen deuten darauf hin, daß sich in den kommenden zwei Jahrzehnten vier große Tendenzen, auf die Castles und Miller hingewiesen haben weiter fortsetzen werden: -eine weitere Globalisierung der Migration, d. h.
die Einbeziehung von immer mehr Ländern, sowohl als Ziel-als auch Herkunftsländer, in das Migrationsgeschehen;
-eine weitere Beschleunigung bzw. Zunahme der Migration, die sich derzeit schon in vielen Regionen abzeichnet;
-eine weitere Differenzierung der Migration in Gestalt der Entstehung neuer Formen von Migration;
-eine zunehmende Feminisierung der Migration, die zwar immer schon viele Fluchtbewegungen kennzeichnete, sich inzwischen aber auch immer stärker in der Arbeitsmigration beobachten läßt.
Für die Richtigkeit dieser Prognose spricht eine Reihe von Ursachenkomplexen, die sich kaum oder doch nur langfristig -und auch dann nur bei Einsatz erheblicher Mittel -beeinflussen lassen.
Den ersten, zentralen Problemkomplex bildet das anhaltende Bevölkerungswachstum. Sollte die mittlere von drei UN-Prognose-Varianten zutreffen, so wird bis zum Jahr 2025 die Weltbevölkerung auf zirka 8, 5 Milliarden Menschen anwachsen. Besonders hohe Zuwachsraten werden dabei auf Afrika, entfallen, dessen Bevölkerung von 681, 7 Millionen um rund eine Milliarde (1992) auf 1, 6 Milliarden (2025) ansteigt, während sich die Bevölkerung Asiens von 3, 2 Milliarden auf 4, Milliarden und diejenige Lateinamerikas von 458 Millionen auf 701 Millionen Menschen erhöht 9.
Daß diese Projektionen niedriger ausfallen, ist zwar nicht auszuschließen, jedoch wenig wahrscheinlich. Im Gegenteil: So wird z. B. trotz energischer Maßnahmen der Regierung die Bevölkerung Chinas im Jahre 2000 mit 1, 3 Milliarden Menschen um 100 Millionen höher ausfallen, als noch 1989 berechnet; und auch die Prognose für 2050 muß schon heute kräftig nach oben korrigiert werden -auf 1, 4 bis 1, 5 Milliarden. Doch auch diese Zahl ist noch keineswegs gesichert: „Bei einem höheren Fertilitätsniveau, als dieses die niedrigen Zuwachsraten der 90er Jahre suggerieren“, so das Ergebnis westlicher Forschungen, „kann die Bevölkerung im Jahre 2050 auch leicht auf 1, 7 Milliarden steigen.“ Wenn aber schon China die Vorgaben seiner strikten Bevölkerungspolitik nicht einhalten kann, um wieviel geringer sind dann die Chancen, daß dies anderen, weniger autoritär regierten Ländern Afrikas gelingen wird -ganz zu schweigen von denjenigen Staaten, für die ein hohes Bevölkerungswachstum ein politisches Druckmittel darstellt. Unmittelbare Folge des demographischen Anstiegs ist eine starke Zunahme der in das Arbeitsleben eintretenden Bevölkerungen -Berechnungen zufolge werden dies in den kommenden zwei Jahrzehnten zirka 700 Millionen Menschen sein. Nur bei sehr hohen wirtschaftlichen Zuwachsraten dürfte es möglich sein, die Mehrzahl dieser Menschen in Lohn und Arbeit zu bringen. Da solche Zuwachsraten aber gerade in den Regionen kaum zu erwarten sind, die -wie im subsaharischen Afrika, aber auch in Nordafrika, Pakistan oder Bangladesch -hohe Bevölkerungszuwächse aufweisen, sind Massenarbeitslosigkeit, soziale und politische Instabilität sowie erhebliche regionale und überregionale Migrationsströme vorprogrammiert.
Nicht minder problematisch als die hohe Arbeitslosigkeit ist angesichts knapper werdender Böden und Wasserreserven die Erzeugung ausreichender Nahrungsmittel. Signifikante Fortschritte in der Intensivierung der Landwirtschaft sind aber nach Ansicht vieler Experten in nächster Zukunft nicht zu erwarten. Nach Berechnungen der FAO wäre aber zur Ernährung der steigenden Weltbevölkerung in den nächsten drei Jahrzehnten eine Steigerung der Lebensmittelproduktion um 75 Prozent notwendig.
Eng mit den Folgeproblemen des demographischen Wachstums verknüpft ist ein zweiter migrationsrelevanter Komplex: die wachsende Belastung der Umwelt. Daß die in den vergangenen Jahrzehnten vonstatten gegangene Umweltzerstörung -auch diese nicht zuletzt eine Folge der Überbevölkerung -die „Hauptursache“ der Migrationen darstellt, hatte schon der Weltbevölkerungsbericht von 1973 festgestellt, ohne dies allerdings überzeugend nachzuweisen Näher an der Wirklichkeit erscheint die Zahl von 25 Millionen Menschen, die -vor allem im Sahel, am Horn von Afrika, in Südasien, Mexiko und China -im Jahre 1995 aufgrund schwerer Umweltschäden ihre Siedlungsgebiete verlassen hatten und als „Umweltflüchtlinge“ anzusehen sind. Realistisch erscheinen auch Schätzungen, denen zufolge derzeit weltweit die Siedlungsgebiete von zirka 135 Millionen Menschen unmittelbar bedroht sind
Dabei ist absehbar, daß bei zunehmender Unwirtlichkeit der Städte und der Absperrung von Grenzen zwecks Abwehr unerwünschter Zuwanderung die Abwanderung wachsender Bevölkerungsteile in ökologisch labile Regionen erfolgen und damit die Zerstörung der dortigen Umwelt durch Über-belastung weiter zunehmen wird. Vor diesem Hintergrund gewinnen Warnungen der FAO, daß in den Jahren bis 2015 der Verlust von zirka 140 Millionen Hektar Land droht, sofern der Umgang mit den Böden nicht erheblich schonender als derzeit erfolgt, an Plausibilität.
Völlig unberücksichtigt bleiben vor diesem sehr konkreten Problemhorizont die Konsequenzen, die sich aus den prognostizierten globalen Klima-veränderungen für das Migrationsgeschehen ergeben können -zumal sie in ihren apokalyptischen Ausmaßen die Grenzen menschlicher Vorstellung erheblich übersteigen. Andererseits trägt die, insbesondere in der asiatisch-pazifischen Region, sich rasant vollziehende Industrialisierung und Modernisierung sowie die blinde Nachahmung energie-intensiver westlicher Konsumgewohnheiten und Lebensstile wenig zur Widerlegung der Horrorszenarien bei.
Das aber lenkt die Aufmerksamkeit auf einen dritten Problemkomplex, dessen migrationsfördernde Wirkung über den unmittelbaren wirtschaftlichen, demographischen und ökologischen Problemen häufig übersehen oder bagatellisiert wird. Gemeint ist die Erosion traditioneller Werthaltungen und Weltanschauungen und die sie begleitende geistige Entfremdung und Heimatlosigkeit in vielen Regionen der Welt. Denn sie beschleunigt die durch den Zerfall der materiellen Lebensgrundlagen ohnehin schon vollzogene Schwächung traditioneller Bindungen, Loyalitäten und Lebens-welten.
Auch dieser Prozeß hat eine lange Geschichte. Er begann in vielen Regionen des „Südens“ mit der Kolonisierung und wurde dann durch die allmähliche Einbindung jener Gebiete in das Weltwirtschaftssystem fortgesetzt und vertieft. Eine neue Qualität erreichte er aber erst, als infolge der Revolutionierung der modernen Kommunikationssysteme und der Dominanz westlicher Medienkonzerne die inzwischen in den westlichen Industriestaaten entstandenen konsum-und emanzipationsorientierten Lebensstile in die fernsten Winkel der Welt übertragen wurden. Die Flucht zahlloser junger Menschen aus den Landgebieten des „Südens“ ist deshalb nicht nur Flucht vor Armut und Arbeitslosigkeit, sondern auch vor Lebensstilen und Sozialstrukturen, die zunehmend als beengend empfunden werden, sowie zugleich Aufbruch in eine „neue Welt“, die sozialen Aufstieg, Frieden und Freiheit verspricht. Daß die Realität diese Versprechungen nur selten einlösen kann, wird man erst später merken.
IV. Überlegungen zur gegenwärtigen Situation
Abbildung 4
Tabelle 3:Größte Flüchtlingsbevölkerungen nach Asylland, 1995 Quelle: UNHCR-Report 1995/96. Die Lage der Flüchtlinge in der Welt, S. 275.
Tabelle 3:Größte Flüchtlingsbevölkerungen nach Asylland, 1995 Quelle: UNHCR-Report 1995/96. Die Lage der Flüchtlinge in der Welt, S. 275.
Bei nüchterner Betrachtung der gegenwärtigen Situation und der sie prägenden historischen Entwicklungen drängt sich eine grundlegende Einsicht auf: Nichts deutet darauf hin, daß sich auch nur eine der Ursachen, die den Flucht-und Migrationsbewegungen zugrunde liegen, in absehbarer Zeit wesentlich entschärfen oder beseitigen läßt -wie dies Politiker angesichts der Furcht vor weiteren Zuwanderungen optimistisch, aber völlig realitätsfern behaupten. Das gilt vor allem für die demographischen und ökologischen Ursachen, die sich bekanntlich nur über längere Zeiträume beeinflussen lassen; es gilt jedoch auch für die ökonomischen und im geringeren Maße selbst für die politischen Ursachen. Bei letzteren dürfte noch die größte Chance einer Einflußnahme bestehen, vorausgesetzt, die internationale Gemeinschaft bringt den politischen Willen -und die nötigen Mittel -dazu auf, wofür es derzeit wenig Hinweise gibt.
Wenn dieser Befund zutrifft -und die meisten Migrationsforscher dürften ihm zustimmen -, so ist davon auszugehen, daß der Migrationsdruck weiter anhalten, ja sich sogar noch erheblich verstärken wird. Zusammen mit ihm werden sich auch die ihn begleitenden Phänomene schärfer ausprägen.
Für die Regionen des „Südens“ heißt das: 1. Die Abwanderung in die Städte wird weitergehen, mit allen negativen Konsequenzen, die auf der Habitat-Konferenz 1996 thematisiert wurden. 2. Die Besiedlung ökologisch labiler Regionen wird sich fortsetzen und damit in vielen Fällen deren Zerstörung. 3. Innerhalb vieler Gesellschaften werden sich die Verteilungskämpfe um die immer knapper werdenden Güter Arbeit, Boden und Nahrung verschärfen, mit der Folge gesellschaftlicher Radikalisierung und der Hinwendung zu autoritären Regierungsformen. 4. Die dadurch zunehmende gesellschaftliche Unsicherheit sowie die Verweigerung von Demokratie und Menschenrechten werden die Abwanderung qualifizierter Bevölkerungsgruppen weiter fördern, mit allen verheerenden Folgen für die Entwicklung und Modernisierung der betreffenden Staaten. 5. Schließlich droht eine Zunahme der regionalen Konflikte über die Verteilung knapper Ressourcen. Diese Konflikte lassen sich wiederum kaum auf die Regionen des „Südens“ begrenzen, sondern werden in unterschiedlichsten Formen auch auf die Länder des „Nordens“ übergreifen.
Schwerer abschätzbar sind die Folgen des wachsenden Migrationsdrucks in den Regionen des „Nordens“. Sicher scheint jedoch, daß sich die Abschottung gegen Zuwanderung, die seit mehr als einem Jahrzehnt die Politik fast aller OECD-Staaten bestimmt, fortsetzen wird. Zunehmen werden auch die Versuche illegaler Einwanderung -mit allen kriminellen Nebenfolgen, die sie begleiten. Sollte durch die Erweiterung der Märkte hin zu einem globalen Markt und die mit ihr wachsende internationale Konkurrenz die derzeit bestehende hohe Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten weiter anhalten oder sich sogar verstärken, so werden sich die soziale und wirtschaftliche Zerklüftung und der sie begleitende Abbau des Sozial-staats weiter vertiefen. In Ländern mit einem hohen Ausländeranteil droht dann ein weiterer Anstieg der Ausländerfeindlichkeit; zudem wächst die Gefahr nachlassender staatlicher Integrationsmaßnahmen mit der Folge ethnischer und sozialer Fragmentierung bis hin zur Ghettoisierung (Ethnisierung sozialer Konflikte). Insgesamt gesehen treibt die Welt damit einer Phase verstärkter politischer und gesellschaftlicher Destabilisierung entgegen -sowohl innerhalb der Regionen des „Südens“ wie des „Nordens“, was sich auf dieBeziehungen zwischen den beiden Regionen nicht positiv auswirken wird.
Auch wenn sich die skizzierten Entwicklungen kaum werden vermeiden lassen, ist eine verstärkte Suche nach tragfähigen Strategien zur Senkung des Migrationsdrucks unverzichtbar. Diese Bemühungen müssen angesichts des regionalen und gleichzeitig internationalen Charakters der Migrationsbewegungen ebenfalls sowohl auf den verschiedenen regionalen wie internationalen Ebenen durchgeführt werden. Daß dabei den Ländern des „Nordens“ eine besonders wichtige Rolle zukommt, ergibt sich aus ihrer historischen Mitverantwortung für die derzeitige Situation ebenso wie aus einem aufgeklärten Eigeninteresse, vor allem aber aus der Tatsache, daß sie noch am ehesten über die dafür notwendigen finanziellen und technischen Mittel verfügen.
Was aber ist zu tun? Zunächst einmal sollten wir uns vor allzu simplen Lösungsvorschlägen hüten. Zu diesen gehört die Annahme, eine großzügige Einwanderungspolitik der entwickelten Länder des „Westens“ könne sowohl zur Entschärfung des Migrationsdrucks aus dem „Süden“ wie auch zur Behebung bevölkerungsstruktureller Probleme beitragen, die auf einige Länder Westeuropas als Folge von Überalterung und Geburtenrückgang zukommen.
Diese Annahme ist nach beiden Seiten hin höchst problematisch: Daß sie hinsichtlich der Senkung des Migrationsdrucks jeder Grundlage entbehrt, ergibt schon die einfache Überlegung, daß durch die Öffnung für Zuwanderung keine einzige der Ursachen, die der Migration zugrunde liegen, beseitigt wird. Alle genannten Ursachen bleiben unberührt und mit ihnen die Strukturen und Mechanismen, die Migration erzeugen bzw. erzwingen. Ferner zeigen simple Rechnungen, daß angesichts des schnellen Bevölkerungszuwachses in vielen Abwanderungsregionen nicht einmal eine vorübergehende Entlastung eintreten würde. Denn wenn sich etwa die Bevölkerung Nordafrikas und des Nahen Ostens Woche für Woche um mehrere Hunderttausend Menschen vermehrt, so wäre auch bei Aufnahme nur eines Bruchteils dieses Zuwachses die Aufnahmekapazität der angrenzenden EU-Staaten in nur wenigen Monaten auf lange Zeit erschöpft. Ferner zeigt die Erfahrung, daß selbst eine großzügige und human gestaltete Zuwanderungspolitik in der Regel eher den Bedürfnissen der Zuwanderungsländer zugute kommt. Statt die Herkunftsländer zu entlasten, hat sie häufig den gegenteiligen Effekt: Durch den Abzug qualifizierter Fachkräfte schwächt sie vorhandene Entwicklungspotentiale und führt so zu einer zusätzlichen Behinderung der Entwicklungsprozesse
Eine verstärkte Zuwanderung würde aber nicht nur ohne nachhaltige positive Auswirkungen auf die Regionen des „Südens“ bleiben. Mit Sicherheit würde sie auch die ohnehin schwierige wirtschaftliche und soziale Situation in vielen OECD-Ländern weiter verschärfen und damit deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Hilfe für den „Süden“ weiter schwächen. Schon jetzt immer weniger Arbeitskräfte benötigende Märkte würden dann noch weiter überfordert und ohnehin überstrapazierte soziale Netze noch stärker belastet. Eine politische Radikalisierung wäre damit ebenso vorprogrammiert wie soziale Konflikte, deren erstes Opfer erfahrungsgemäß die zugewanderte ausländische Bevölkerung ist. Selbst unter normalen Bedingungen ist die Integration größerer zugewanderter ausländischer Bevölkerungen -insbesondere, wenn sie anderen Kulturen entstammen -eine überaus schwierige Aufgabe für die Bevölkerung des „Gastlandes“, für die es kaum gelungene Beispiele gibt; in wirtschaftlich so schwierigen Zeiten, wie wir sie derzeit durchleben, ist sie mit zusätzlichen schweren Risiken belastet Für diejenigen aber, deren Häuser brennen, sind Lichter-ketten und Mahnwachen nur ein schwacher Trost.
Daraus folgt: Solange Millionen von Ausländern in Westeuropa -Zehntausende von ihnen hier geboren und aufgewachsen -noch um die volle soziale und nationale Integration kämpfen müssen und solange Hunderttausenden politischer Flüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge aufgrund der vehementen Ablehnung der einheimischen Bevölkerung durch immer schärfere Zugangsbestimmungen Aufnahme und Asyl verweigert werden -solange stellen sich andere Aufgaben dringlicher als die Entschärfung des Migrationsdrucks durch liberale Einwanderungsbestimmungen. Solche wären auch großen Teilen der einheimischen Bevölkerung, und zwar gerade jenen Teilen, die unter andauernder Arbeitslosigkeit und brüchiger werdenden Sozialnetzen zu leiden haben, nicht vcrmittelbar. Das gilt für die meisten Staaten der Europäischen Union, in der überdies eine Einigung auf ein einheitliches Einwanderungsgesetz noch in weiter Ferne steht: es gilt ebenso für das dicht besiedelte Japan. Für Kontinentalstaatcn wie die USA und Kanada, aber auch für Australien mögen sich die Prioritäten noch etwas anders darstellen; doch auch dort stößt die Zuwanderung zunehmend an Grenzen und erweist sich ebenso-wenig als Königsweg für die Lösung der internationalen Arbeits-und Armutsmigration.
Wenn dies aber so ist, dann verbietet es sich, Fragen des Zuwanderungsbedarfs, die sich in einigen entwickelten Staaten aufgrund der Geburtenrückgänge und daraus resultierender sozialpolitischer Probleme stellen, mit der erheblich schwierigeren Migrationsproblematik zu verknüpfen. Eine solche Verknüpfung wird weder dem einen noch dem anderen Problem sachlich gerecht und dürfte mehr langfristige Schwierigkeiten schaffen, als sie löst.
Nicht minder problematisch ist die Annahme, durch verstärkte Entwicklungshilfe den Zuwanderungsdruck senken zu können. Richtig ist zweifellos, daß sich die bilaterale wie multilaterale Entwicklungshilfe noch stärker, als dies bislang geschieht, den Flüchtlings-und Migrationsproblemen zuwenden muß. Sinnvolle Aufgaben stellen sich dabei vordringlich im Rahmen der Ursachen-bekämpfung, etwa im Bereich der ländlichen Entwicklung, bei der Sanierung ökologisch gefährdeter Gebiete, bei der Unterstützung demographischer Programme, insbesondere durch eine verstärkte Frauenförderung; sie stellen sich inzwischen aber auch immer stärker im städtischen Bereich, in dem sich als Folge der Massenzuwanderung die Probleme bedrohlich verschärfen. Wichtige Aufgaben kommen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aber auch im Bereich der Folgenbekämpfung zu -sei es bei der Unterstützung von Umsiedlungsprogrammen, sei es bei der Rückführung und Integration von Millionen von Flüchtlingen, demobilisierten Soldaten und Guerilleros.
Allerdings weist allein schon das der öffentlichen Entwicklungshilfe zur Verfügung stehende begrenzte Finanzvolumen dieser Art von Hilfe bestenfalls eine flankierende Bedeutung zu. Doch selbst eine signifikante Erhöhung des Budgets -etwa eine Verdoppelung -würde keine nachhaltige Entlastung bringen, da das rasche Bevölkerungswachstum in den Krisengebieten die dadurch erreichten wirtschaftlichen Zuwächse schon nach kürzester Zeil wieder neutralisieren würde. Angesichts der Überschuldung der öffentlichen Haushalte vieler Geberländer, des nachlassenden internationalen Gewichts der Länder des „Südens“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, wachsender Ernüchterung über die Wirksamkeit bi-und multilateraler Entwicklungshilfe sowie zunehmender Kreditrückzahlungen des „Südens“, die ebenfalls die verbleibende Hilfe verringern, ist vielmehr die Fortsetzung des Schrumpfungsprozesses der öffentlichen Entwicklungshilfe absehbar. Da sich zudem seil Beginn der neunziger Jahre durch den Zerfall der Sowjetunion die Zahl der Entwicklungsländer erhöht hat und wachsende Anteile der Entwicklungshilfe in den Bereich der Katastrophenhilfe fließen, wo sie zwar dringend benötigt werden, aber nur noch in geringem Umfang der langfristigen Ursachenbekämpfung zugute kommen, besteht wenig Anlaß, von der Entwicklungshilfe eine Entschärfung der Migrationsproblematik zu erwarten.
Signifikante Auswirkungen auf das Flucht-und Migrationsgeschehen sind langfristig nur von regional und international koordinierten Strategien auf globaler Ebene bei der Bekämpfung der Migrationsursachen zu erwarten. Doch auch hier spricht wenig dafür, daß man sich auf solche Strategien einigen wird: Im wirtschaftlichen Bereich sind entwicklungskonforme wie sozialverträgliche Entschuldungsstrategien gefordert; verstärkte private und öffentliche Kapitalzuflüsse in die armen Regionen der Welt; eine größere Öffnung der Märkte der entwickelten Länder; ein verstärkter Technologietransfer. Eingebettet in diese wirtschaftlichen Maßnahmen sind Maßnahmen zur Absenkung des Bevölkerungswachstums und zur Entlastung der Umwelt notwendig; für beide Bereiche wurden auf den UN-Weltkonferenzen für Bevölkerungs-und Umweltfragen 1994 in Kairo und 1992 in Rio de Janeiro Aktionsprogramme verabschiedet, deren praktische Umsetzung aufgrund fehlenden politischen Willens -im „Norden“ wie im „Süden“ -allerdings kaum vorankommt. Seit langem bekannt sind auch die Maßnahmen zur Bekämpfung der politisch bedingten Flucht-bewegungen. Neben einer Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen gehört zu diesem Bereich die Durchführung demokratischer Reformen zur Sicherung der Menschen-und Minderheitenrechte. Um dafür eine wirkungsvolle regionale und internationale Abstützung zu erreichen, sind verstärkte Anstrengungen beim Aus-und Aufbau funktionsfähiger Regionalorganisationen erforderlich. Nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa haben die ethnisch motivierten Konflikte der vergangenen Jahre erhebliche Strukturdefizite der bestehenden Regionalorganisationen sichtbar gemacht, die dringend zu beheben sind. Beunruhigende Schwachstellen weisen auch die Vereinten Nationen auf, die weder auf dem Balkan noch in Somalia, Ruanda oder Burundi sich als fähig erwiesen haben, durch neue Formen von friedenssichernden Maßnahmen den Ausbruch interner Konflikte einzudämmen. Sowohl im Hinblick auf die Vereinten Nationen als auch auf die Regionalorganisationen müßtensich Reformen auf drei Bereiche konzentrieren: auf die Verbesserung der Mechanismen für eine friedliche Austragung interner und zwischenstaatlicher Konflikte; auf international vereinbarte Regelungen für „humanitäre Interventionen“ in jenen Fällen, in denen der Ausbruch gewaltsamer Auseinandersetzungen nicht verhindert werden konnte, in deren Folge massive Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung drohen; sowie auf die Schaffung der organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für multilaterale Einsätze bei Konflikten, die die regionale und die internationale Sicherheit bedrohen. Grundlegende Verbesserungen in diesen drei Bereichen sind insofern besonders dringlich, als die in den kommenden Jahrzehnten sich abzeichnende Verschlechterung der demographischen, wirtschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen die internen und internationalen Verteilungskämpfe erheblich verschärfen werden. Sollten Verbesserungen im Bereich der kollektiven Sicherheit ausbleiben, so droht als Alternative eine verstärkte Aufrüstung der Staaten sowie die Bildung von Militärallianzen -beides hätte einen erneuten Anstieg der Rüstungsausgaben zur Folge und würde damit zu Lasten ziviler Entwicklung gehen.
So einfach und einleuchtend die hier nur kurz skizzierten Zielsetzungen auch sein mögen, so schwierig ist deren praktische Umsetzung. Sie scheitert nicht nur daran, daß für viele der angesprochenen Einzelprobleme -sei es eine international gerechte Handelsordnung, sei es eine nachhaltige Senkung des weltweiten Rohstoff-und Wasserverbrauchs -erfolgversprechende Strategien noch nicht in Sicht sind. Da solche Strategien aber nicht nur Symptome bekämpfen sollen, sondern strukturelle Veränderungen einleiten müssen, die wiederum national wie international erhebliche Veränderungen politischer und wirtschaftlicher Machtstrukturen zur Folge haben, stoßen Umsetzungsversuche auf den massiven Widerstand derer, zu deren Lasten sie gehen. Wie zäh dieser Widerstand sein kann, zeigt exemplarisch die seit einigen Jahren diskutierte, bislang jedoch stagnierende Reform des UN-Sicherheitsrates. Wenn aber schon die Reform dieses UN-Organs sich als kaum machbar erweist -wie schwierig ist dann erst die von der „Commission on Global Governance" geforderte Schaffung eines „Rats für wirtschaftliche Entwicklung“, der die Aufgaben des Wirtschafts-und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC), der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) übernehmen soll?
Eine nachhaltige Verringerung der Flucht-und Migrationsbewegungen ist -wie sich zeigt -nur über die Entschärfung der tieferen Ursachen jener Phänomene weltweiter Unter-und Fehlentwicklungen möglich, deren Reflex sie letztlich sind. Das aber stellt an die Länder des „Südens“ und des „Nordens“ äußerst tiefgreifende Anforderungen. Insbesondere an letztere: Denn von ihnen wird mehr verlangt als nur erhebliche wirtschaftliche Opfer zugunsten der Armen dieser Welt -nämlich die Bereitschaft zu einer grundlegenden Umstellung der während der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts entwickelten Konsumgewohnheiten und Lebensstile, Wert-systeme und Produktionsweisen, die zur Über-nutzung knapper werdender Ressourcen geführt haben. Doch auch darüber, wie ein -mit dem System der westlichen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft kompatibler -ökonomischer, ökologischer und zugleich kultureller Umbau aussehen könnte, vor allem aber, wie er gesellschaftlich umgesetzt werden kann, herrscht noch weitgehend Unklarheit.
Nicht minder schwierig dürfte es sein, die Eliten und wachsenden Mittelklassen des „Südens“ davon zu überzeugen, daß das im „Westen" entstandene Zivilisationsmodell und die hier dominierende Wirtschaftsweise nicht globalisierungs-und damit auch nicht zukunftsfähig sind, daß deshalb statt nachholender eine „nachhaltige“ Entwicklung notwendig ist und daß deshalb die Entwicklung alternativer, den regionalen Besonderheiten entsprechender Lebensformen und Wirtschaftsweisen eine der wichtigsten Aufgaben darstelll. Ohne eine deutlich erkennbare Wende im Lebensstil und in der Produktionsweise der entwickelten Länder braucht man mit solchen Ermahnungen allerdings gar nicht erst an die Staaten des „Südens“ heranzutreten; sie würden allein schon aus Gründen fehlender Glaubwürdigkeit kein Gehör finden.
Derzeit deutet wenig darauf hin, daß die in den verschiedenen Bereichen notwendigen Weichen-stellungen in absehbarer Zeit erfolgen werden. Im Gegenteil: Die Triebkräfte der Globalisierung haben den internationalen Wettbewerb unter den Industrieregionen um Macht, Einfluß und Standortvorteile weiter dynamisiert und die Spielräume für verantwortliches globales Handeln weiter eingeengt. Nicht viel besser sieht cs in vielen Regionen und Subregionen des „Südens“ aus: Entweder findet Entwicklung nicht bzw. nur ungenügend statt oder sie erfolgt -wie in den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern der asiatisch-pazifischen Region -nach vom Westen gelieferten Vorbildern, ohne Rücksicht auf knapper werdende Ressourcen, überlastete Ökosysteme und die Marginalisierung wachsender Bevölkerungsteile.Nicht viel anders steht es schließlich um den immer dringender werdenden konstruktiven Dialog zwischen „Nord“ und „Süd“ und die gemeinsame Entwicklung tragfähiger Strategien. Bezeichnenderweise überlebte die von vielen Ländern des „Südens“ als entwicklungspolitisches Korrektiv zur Welthandelsorganisation (WTO) und als Instrument zur Entwicklung von Alternativen geschätzte UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) ihren 9. Gipfel im Frühjahr 1996 in Südafrika nur in sehr geschwächter Form. Damit hat sich der Prozeß der Entmachtung von UN-Organisationen zugunsten der ökonomischen Institutionen der westlichen Welt und der WTO fortgesetzt. Je lauter der Ruf nach „global governance“ wird, um so weniger geschieht; und je eindringlicher „globale Verantwortung“ angemahnt wird, um so erbitterter wird der globale Kampf aller gegen alle.
Wie immer man diese Untätigkeit auch deuten und erklären mag, so viel scheint absehbar: Gelingt es nicht, für die verschiedenen Problembereiche in absehbarer Zeit tragfähige Lösungen zu finden und auch umzusetzen, so wird sich neben den Problemen wie Massenarmut, Bevölkerungswachstum und ökologischem Verfall auch der Migrationsdruck weiter verstärken und auch in den derzeit noch politisch-wirtschaftlich stabilen Regionen der Welt zu einer erheblichen Destabilisierung führen. Die „eine Welt“ ist nicht unsere Zukunft, sondern auch unser Schicksal.
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