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Desintegration und islamischer Fundamentalismus. Über Lebenssituation, Alltagserfahrungen und ihre Verarbeitungsformen bei türkischen Jugendlichen in Deutschland | APuZ 7-8/1997 | bpb.de

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APuZ 7-8/1997 Erziehung und Sozialisation in Aussiedlerfamilien Einwanderungskontext, familiäre Situation und elterliche Orientierung Neue Heimat -neue Zukunft. Eine soziologisch-pädagogische Studie über die Integration der Kinder der Aussiedler aus den GUS-Staaten Desintegration und islamischer Fundamentalismus. Über Lebenssituation, Alltagserfahrungen und ihre Verarbeitungsformen bei türkischen Jugendlichen in Deutschland

Desintegration und islamischer Fundamentalismus. Über Lebenssituation, Alltagserfahrungen und ihre Verarbeitungsformen bei türkischen Jugendlichen in Deutschland

Wilhelm Heitmeyer/Helmut Schröder/Joachim Müller

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dieser Beitrag stellt erste Ergebnisse einer im Herbst 1995 durchgeführten empirischen Untersuchung 15-bis 21jähriger türkischer Jugendlicher dar. Verarbeitungs-und Reaktionsformen hinsichtlich islamisch-fundamentalistischer Orientierungen und Organisationspräferenzen werden in Beziehung zur politischen und sozialen Umgebung der Bundesrepublik Deutschland gesetzt. Jenseits islamischer Religiosität oder demokratischer Werthaltungen werden Aspekte islamisch-fundamentalistischer Einstellungsmuster oder nationalistischer Positionen vor dem Hintergrund des in Familie und Gleichaltrigengruppe erfahrenen Sozialisationsprozesses, der im öffentlichen Raum durch Institutionen erfahrenen Diskriminierung und ethnisch-kultureller Identifikationsmuster analysiert. Sowohl Ausgrenzungserfahrungen als auch individuelle Integrationsprobleme werden nicht selten durch Rückzug in die ein Wir-Gruppen-Gefühl vermittelnde kollektive Identität religiöser Gemeinschaften kompensiert. Gesellschaftliche Desintegration korrespondiert dabei mit einer Abwendung vom sozialen und politischen System der Bundesrepublik und scheint dabei ganz erheblich für das Auftauchen islamisch-fundamentalistischer Orientierungen unter türkischen Jugendlichen zu sein.

Die Situation und die Verhaltensweisen von türkischen Jugendlichen werden in der Regel mit Blick auf ihre massiven Benachteiligungen etc. analysiert. Dieser Beitrag bildet Ergebnisse einer empirischen Untersuchung ab, die auch die Verarbeitungen von und Reaktionen auf alltägliche Erfahrungen in religiöser und politischer Hinsicht untersucht. Dies wurde bisher u. a. angesichts fremdenfeindlicher Gewalt unterlassen, was jedoch gleichzeitig dazu führen kann, daß die Öffentlichkeit keinen Begriff davon hat, ob und in welcher Form sich unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit massive ethnisch-kulturelle Konflikte *entwickeln.

I. Der kulturelle Balanceakt

Tabelle 1: Übereinstimmung mit dem elterlichen Erziehungsstil bei deutschen und türkischen Jugendlichen (Angaben in Prozent *) Quelle: Helmut Schröder, Jugend und Modernisierung, Weilheim -München 1995, S. 55; eigene Berechnungen.

Etwa vierhundertfünfzigtausend türkische Jugendliche zwischen 15 und 21 Jahren, meist als Ausländer der zweiten oder sogar bereits dritten Generation bezeichnet, leben in der Bundesrepublik Deutschland. Sie stellen damit die weitaus größte Gruppe der jugendlichen inländischen „Ausländer“ dar. Ihre Situation ist vor allem durch die Tatsache gekennzeichnet, daß sie zum größten Teil in Deutschland geboren oder aber aufgewachsen sind; sie ist somit eine gänzlich andere als die ihrer Eltern, deren Erziehung und Sozialisation noch überwiegend in der Türkei stattgefunden hat.

Tabelle 5: Religiös fundierte Gewaltbereitschaft türkischer Jugendlicher (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

So erleben türkische Jugendliche heute sicherlich in erheblich stärkerem Maße Identitätskrisen und befinden sich in einem -vielfach belastenden -Balanceakt bzw. Loyalitätskonflikt zwischen den Normen und Anforderungen „ihrer“ Kultur oder doch zumindest der Kultur ihrer Eltern und Großeltern auf der einen Seite und den Werten und auch Erwartungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft sowie ihrer deutschen jugendlichen Vergleichgsgruppe auf der anderen Seite.

Tabelle 6: Interessenvertretung durch „Graue Wölfe“ und „Milli Görü" nach Einschätzung türkischer Jugendlicher (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

Der damit einhergehende subjektive „Akkulturationsstreß“ wird zusätzlich verschärft durch zumindest zwei -wiederum entgegengesetzte und nicht zu vereinbarende -für die Jugendlichen in ihrer Alltagserfahrung sehr wesentliche Prozesse: -Zum einen entwickelt sich auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft vermehrt ein gesellschaftspolitisches Klima, in welchem Unkenntnis und Unverständnis hinsichtlich der kulturellen und religiösen Werte und Praktiken der türkischen Migranten immer häufiger in Vorurteilsstrukturen und Bedrohungs-und Aggressionsgefühlen münden. Das Anderssein türkischer Familien, ihre andere kulturelle Identität, wird in der deutschen Umgebung zumeist nicht anerkannt, sondern allenfalls geduldet, vielfach aber eben auch abgelehnt oder gar -in sehr unterschiedlicher Form -bekämpft. -Gleichzeitig gibt es zunehmend Versuche aus der Minderheit türkischer Migranten, dem drohenden Verlust der nationalen, kulturellen und religiösen Identität vor allem durch ein rigides Festhalten an traditionellen Normen zu begegnen, was dann teilweise -nicht zuletzt auch in Koranschulen -ebenfalls verbunden wird mit dem Schüren von Aggressionen und Vorurteilen gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft sowie Andersgläubigen insgesamt (so z. B. gegenüber dem Judentum).

Eine solche -hier nur skizzenhaft angerissene -Situation kann nicht ohne Auswirkungen bleiben auf die Betroffenen.

Im folgenden soll daher -vor dem Hintergrund erster Ergebnisse einer von uns im Herbst 1995 durchgeführten Befragung von 1 221 15-bis 21jährigen türkischen Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen -der Frage nachgegangen werden, wie sich in gesellschaftlichen Teilbereichen die aktuelle Lebenssituation für Jugendliche türkischer Herkunft in Deutschland darstellt. Auf welche Bedingungen treffen sie in Familie und Freizeit als den zwei zentralen Bereichen außerschulischer Sozialisation, wie erleben und verarbeiten sie die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Anforderungen, die an sie gerichtet werden, und wie und in welchem Ausmaß sind sie mit Fremdenfeindlichkeit und alltäglicher Diskriminierung konfrontiert? Nicht zuletzt möchten wir schließlich den Versuch unternehmen, erste Antworten auf die -nicht nur für uns -zentrale Frage zu geben, welcher Stellenwert diesen Bereichen für die Entwicklung von islamisch-fundamentalistischen Orientierungen unter türkischen Jugendlichen beizumessen ist.

II. Familie und Erziehung

Abbildung 1: Türkischen Jugendlichen wichtige Werte der Erziehung (Angaben in Prozent*) Quelle: Eigene Darstellung.

Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten hat auch ein Wandel der Erziehung stattgefunden, wobei insbesondere der Zuwachs an Kommunikation zwischen Kindern und ihren Eltern in einer eher partnerschaftlichen und gleichberechtigten Weise zu nennen ist. Die diese Wandlungstendenzen bestätigenden Forschungsergebnisse beziehen sich jedoch in der Regel ausschließlich auf „deutsche“ Familien

Wie sich die Situation insbesondere bei den schon länger in der Bundesrepublik lebenden Familien ausländischer Herkunft darstellt und ob aufgrund des gesellschaftlichen Wandels einerseits, der doppelten (oder zweifach halbierten?) kulturellen Zugehörigkeit andererseits auch hier ein Werte-wandel stattgefunden hat, ist bis heute weitgehend unerforscht. Um zur Aufklärung dieser Forschungslücke zunächst in bezug auf die in Deutschland lebenden türkischen Familien beizutragen, haben wir Teile des familialen Beziehungsgeflech-* tes, wie es sich aus der Sicht der Jugendlichen darstellt, untersucht. Als zwei wesentliche Faktoren dieses familialen Beziehungsgeflechts sind zum einen der Mechanismus intergenerativer Kultur-weitergabe und zum anderen die Inhalte der Erziehung berücksichtigt worden. 1. Einstellung zum Erziehungsstil der Eltern Um die intergenerative Weitergabe kultureller Muster zwischen deutschen und türkischen Jugendlichen vergleichen zu können, haben wir aufgrund der kulturellen Unterschiede zunächst von den Inhalten der Erziehung und den dahinter-liegenden Normen und Werten abstrahiert und danach Ausschau gehalten, inwieweit Jugendliche überhaupt mit den Erziehungsvorstellungen ihrer Eltern übereinstimmen, und diese Antworten mit den Angaben aus einer repräsentativen deutschen Jugenduntersuchung verglichen (vgl. Tabelle 1).

Zunächst wird deutlich, daß die große Mehrheit sowohl der deutschen als auch der türkischen Jugendlichen, d. h. etwa zwei Drittel der Befragten, den elterlichen Erziehungsstil übernehmen und die eigenen Kinder genauso oder ungefähr so erziehen würden, wie sie selbst von ihren Eltern erzogen worden sind. Sowohl bei den deutschen als auch bei den türkischen Jugendlichen lehnt ungefähr ein Drittel aller Jugendlichen den Erziehungsstil der Eltern ab. Sie würden, hätten sie eigene Kinder, diese anders oder sogar ganz anders erziehen. Obwohl also auch unter türkischen Jugendlichen der Großteil die eigene Kindererziehung an ihrer Erziehung durch die Eltern ausrichten würde, ist bei ihnen sowohl der Anteil, der die elterlichen Vorstellungen uneingeschränkt übernehmen würde, als auch der Anteil, der diese total ablehnt, wesentlich größer.Insgesamt nimmt die Übereinstimmung mit dem elterlichen Erziehungsstil -wie bei den deutschen Jugendlichen auch -mit höherem Alter leicht ab. Während es bei den deutschen Jugendlichen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt, stimmen türkische Mädchen weniger mit dem elterlichen Erziehungsstil überein als türkische Jungen. Obwohl -wie unsere Berechnungen zu einzelnen konflikthaltigen Themen zwischen Eltern und ihren Kindern gezeigt haben -die innerfamiliale Auseinandersetzung zwischen Kindern und Eltern bei den Mädchen seltener zu sein scheint als bei den Jungen, verstehen gerade sie sich mit ihren Müttern schlechter als Jungen und lehnen die elterlichen Erziehungsvorstellungen häufiger ab Hier zeigt sich ein besonders für weibliche türkische Jugendliche relevanter und bedrängender Konflikt. 2. Inhalte der Erziehung Um zu erfahren, welche Normen und Werte bei der intergenerativen Kulturweitergabe vermittelt werden und ob diese beispielsweise von denen deutscher Jugendlicher deutlich verschieden sind, haben wir die Jugendlichen danach gefragt, welche Ziele ihnen bei der Erziehung eigener Kinder wichtig wären. Sowohl die schwierige Ausgangslage der Eltern der türkischen Jugendlichen, die in der Erziehung ihrer Kinder einen Balanceakt zwischen familialen, nationalen, kulturellen und religiösen Traditionen auf der einen und (neuen) gesellschaftlichen Anforderungen auf der anderen Seite vollziehen müssen, als auch die Antworten der Jugendlichen (vgl. Abbildung 1) zeigen eine gegenüber der deutschen Bevölkerung gänzlich unterschiedliche Situation.

Ein zentraler Unterschied in der Eltern-Kind-Beziehung zwischen türkischen und deutschen Jugendlichen liegt weniger auf der emotionalen Ebene (Empathie, Verstehen etc.) als vielmehr auf der strukturellen Ebene der Kommunikation. Wie angesprochen, ist in deutschen Familien das kommunikative Aushandeln alltäglicher Arrangements zwischen Eltern und Kindern immer mehr zu einem wesentlichen Bestandteil der innerfamilialen Beziehung geworden. Hier dominieren vor allem Werte der freiheitlichen Kindererziehung wie Selbständigkeit und freier Wille. Demgegenüber macht Abbildung 1 deutlich, daß bei den türkischen Jugendlichen trotz ihres Aufwachsens in Deutschland wesentliches Merkmal des familialen Zusammenlebens eher die von uns so genannten „alten Werte“ sind. Damit zeichnen sich türkische Jugendliche durch eine deutlich andere Wertorientierung aus als deutsche Jugendliche, und sie stimmen mehr mit den Normen und Werten der Eltern überein als mit denen ihrer deutschen Altersgenossen

III. Freizeit

Abbildung 2: Cliquenzugehörigkeit türkischer Jungen und Mädchen (Angaben in Prozent*) Quelle: Eigene Darstellung.

1. Die Gleichaltrigengruppe Vergleicht man zunächst das Gesamtergebnis der Cliquenzugehörigkeit bei deutschen und türkischen Jugendlichen, zeigt sich, daß die Bedeutung von informellen Gruppen sowohl unter deutschen als auch unter türkischen Jugendlichen relativ hoch ist. Deutsche Jugendliche sind im Vergleichzu türkischen Jugendlichen etwas stärker in Cliquen integriert. Hier kommen insbesondere geschlechtsspezifische Unterschiede zum Tragen (vgl. Abbildung 2).

Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede lassen sich u. E. im wesentlichen auf eine entsprechend ausgeprägte Sozialisation unter der türkischen Bevölkerung zurückführen, die u. a. auch in einer stärkeren traditionellen Geschlechterrollenorientierung unter den türkischen Jugendlichen zum Ausdruck kommt. Mit Ausnahme dieser geschlechtsspezifischen Variation unter den türkischen Jugendlichen lassen sich insgesamt kaum Unterschiede bezüglich der Cliquenzugehörigkeit deutscher und türkischer Jugendlicher feststellen, was mit der zunehmenden Bedeutung der Gruppe der Altersgleichen für alle Jugendlichen vor dem Hintergrund eines grundlegenden Wandels der Jugendphase erklärbar ist. Von diesem grundlegenden Wandel, d. h. einem Strukturwandel der Jugendphase insgesamt, sind nicht nur die deutschen, sondern auch die türkischen Jugendlichen erfaßt.

Wenn wir die Lebenssituation von Jugendlichen türkischer Herkunft vor dem Hintergrund der Frage der Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen analysieren und dies mit der Situation bei deutschen Jugendlichen vergleichen, ist es notwendig, auch das Verhältnis der türkischen zu den deutschen Jugendlichen beispielsweise anhand der (bi-) nationalen Zusammensetzung des Freundeskreises zu untersuchen. Wir haben die Jugendlichen deshalb einerseits danach gefragt, ob sich ihr Freundeskreis ausschließlich bzw. vorwiegend aus männlichen oder weiblichen Mitgliedern zusammensetzt; andererseits haben wir untersucht, ob sie ihre Freizeit vorwiegend bzw. ausschließlich mit türkischen oder mit deutschen und türkischen Jugendlichen verbringen. Das Ergebnis ist in Tabelle 2 dargestellt.

Die Zahlen machen deutlich, daß der überwiegende Teil der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen Freizeit und Freundschaftsbeziehungen sowohl in gemischtgeschlechtlichen als auch in ethnisch gemischten Gruppen lebt. Bezogen auf den Freundeskreis ist dabei der Anteil der gemischtgeschlechtlichen Zusammensetzung bei den Mädchen und jüngeren Frauen höher, während bei den Jungen und jungen Männern der Anteil der gleichgeschlechtlichen Gruppen signifikant höher ausfällt. Hinsichtlich der Frage, ob Jugendliche ihre Freizeit eher in eigen-oder gemischt-ethnischen Gruppen verbringen, zeigen sich dagegen keine geschlechtsspezifischen, wohl aber altersbedingte Unterschiede. Es sind vor allem die jüngeren Jugendlichen, die häufiger ihre Freizeit mit türkischen und mit deutschen Jugendlichen verbringen.

Trotz dieses auf den ersten Blick relativ hohen interethnischen (deutsch-türkischen) Interaktionsgeflechts im Freizeitbereich der türkischen Jugendlichen, das insgesamt als ein nicht unerheblicher Faktor einer bereits fortgeschrittenen Integration in die Gesellschaft (der Altersgleichen) angesehen werden könnte, haben wir dennoch Grund zu der Annahme, daß auch hier nicht von einer gelungenen Integration gesprochen werden kann. Auf die Frage: „Möchten Sie mit deutschen Jugendlichen intensiveren Kontakt haben?“ antworteten 65, 6 Prozent mit ja und 27, Prozent mit nein (6, 5 Prozent machten keine Angabe). Wenn immerhin fast zwei Drittel aller Jugendlichen den Wunsch nach mehr Kontakt zu deutschen Jugendlichen äußern, dann scheinen die Kontakte, insbesondere in der Freizeit, zu deutschen Jugendlichen doch eher noch sporadisch zu sein. Will man die Alltagssituation von türkischen Jugendlichen vor dem Hintergrund der Frage ihrer Integration einschätzen, ist es jedoch nicht nur wichtig zu erfahren, mit wem, sondern auch, wo sie ihre Freizeit verbringen und welchen Aktivitäten sie dort nachgehen. 2. Freizeitorte und -aktivitäten Um die Bedeutung der einzelnen Freizeitorte und -aktivitäten für die Jugendlichen aufzuzeigen, ist in Abb. 3 die prozentuale Verteilung der Antworten zu den einzelnen Items 8 dargestellt.

Die jugendtypischen Aktivitäten „Fernsehen“ und „Musik hören“ erfreuen sich auch unter den türkischen Jugendlichen einer außerordentlichen Beliebtheit. Werden diese Aktivitäten nach soziodemographischen Merkmalen analysiert, dann zeigt sich, daß hier keine wesentlichen Unterschiede feststellbar sind: „Fernsehen“ und „Musik hören“ ist für Jüngere und Ältere, für Jungen undMädchen sowie für Jugendliche mit niedrigem, mittlerem oder hohem Aspirationsniveau in gleicher Weise zentraler Bestandteil der Freizeitgestaltung. Während der Konsum von Fernsehen kultur-und Status-, insbesondere aber altersübergreifend zu sein scheint, gilt die Musik, in der Einstellungen und subjektive Befindlichkeiten zum Ausdruck gebracht werden, als jugendkulturelles Interesse schlechthin Aufgrund der technischen Voraussetzungen in vielen türkischen Haushalten (Satellitenanlagen) ist der Konsum auch türkischer Sender unter den Jugendlichen relativ weit verbreitet. Während eine Nutzung vor allem der privaten Sender wie ATV (46, 8 Prozent), Inter Star (52, 7 Prozent) oder Show TV (45, 0 Prozent) häufig stattfindet, ist diese beim staatlichen Fernsehen TRT-Int (23, 8 Prozent) oder beim religiösen Sender TGRT (24, 8 Prozent) vergleichsweise gering.

Auch die Präferenz für bestimmte (Pop-) Musik kennzeichnet nicht nur einen wie auch immer gearteten Musikgeschmack, sondern verdeutlicht die normierende Wirkung auf große Teile der Gruppe der Gleichaltrigen mit ähnlichen Vorlieben und Interessen. Als Träger einer Kultur oderzumindest subkultureller Lebensweisen formt die Gesellschaft der Altersgleichen dabei den Lebensstil des einzelnen Jugendlichen mit: Jugendliche übernehmen Umweltbezüge, Interessen für Gegenstände der jeweiligen subkulturellen „Mode“ und entwickeln ein Lebensgefühl, das sie mit vielen Altersgenossen teilen.

Läßt die außerordentliche Beliebtheit von „Fernsehen“ und „Musik hören“ sowohl bei den deutschen als auch auch bei den türkischen Jugendlichen insgesamt auf nationen-und status-übergreifende jugend-und freizeitkulturelle Interessen schließen, stellt sich dies bei den übrigen Freizeitaktivitäten ganz anders dar.

Das Aufsuchen von Cafes, Gaststätten, Diskotheken, Konzerten oder Kinos weist mit Ausnahme des Diskothekenbesuches in erster Linie altersbedingte Unterschiede auf. Da den 18-bis 21jährigen Jugendlichen ein Kino-oder Konzertbesuch, vor allem aber der Besuch von Kneipen oder Diskotheken von den Eltern wahrscheinlich eher erlaubt wird als 15-bis 17jährigen, halten sich hier eher ältere als jüngere Jugendliche auf. Sind bei deutschen Jugendlichen hinsichtlich des Besuches von Kneipen oder Diskotheken keine wesentlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede (mehr) festzustellen, so ist die Situation unter türkischen Jugendlichen gänzlich davon verschieden.

Während sich beim Besuch von Kneipen, Kinos oder Konzerten unter türkischen Jugendlichen kaum wahrnehmbare geschlechtsspezifische Variationen feststellen lassen, sind diese beim Besuch von Diskotheken ganz besonders deutlich. Obwohl der Diskothekenbesuch mit zunehmendem Alter auch bei türkischen Mädchen stark ansteigt, ist der Unterschied zwischen den 18-bis 21jährigen jungen Männern und Frauen immer noch frappant. Falls Mädchen überhaupt von den Eltern die Erlaubnis eines Diskothekenbesuches erhalten, ist dies häufig an die Begleitung einer männlichen Bezugsperson aus der Familie geknüpft Hier zeigt sich u. E. ganz deutlich die sozialisations-und kulturbedingt höchst unterschiedliche Rollenzuweisung türkischer Jungen und Mädchen, die immer noch auf die geschlechtsspezifischen Erziehungsvorstellungen der Eltern zurückgeht.

Deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich auch hinsichtlich des Besuchs von (Sport-) Vereinen oder Moscheen bzw. türkischen Kaffee-/Teehäusern. Während sich der Besuch von den oben genannten (eher allgemeinen) Orten der Freizeitgestaltung noch am ehesten durch alters-spezifische Unterschiede auszeichnet, ist die Präsenz der männlichen Jugendlichen bei den ehereigenethnischen Einrichtungen wie beispielsweise den Moscheen oder Kaffee-/Teehäusern wesentlich höher als die der weiblichen. Die Dominanz der männlichen Jugendlichen in diesen Bereichen ist wohl nicht zuletzt Ausdruck der kulturell und religiös geprägten Vorstellung von der unterschiedlichen Stellung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit.

IV. Diskriminierung

Tabelle 2: Freundeskreis und Freizeit türkischer Jugendlicher (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung

Zur spezifischen Situation türkischer Jugendlicher in der Bundesrepublik gehören neben der Bewältigung der Anforderungen, die sich aus dem Leben „zwischen zwei Kulturen“ ergeben, in zentraler Weise ihre alltäglichen Erfahrungen von Diskriminierung aufgrund ihres Status als „Ausländer“ Dabei sind solche ethnischen Diskriminierungen schon deshalb schwierig zu verarbeiten, weil sie in sehr unterschiedlichen Formen und oft nicht ohne weiteres erkennbar existieren. Neben der unmittelbaren Diskriminierung durch Personen bzw. Personengruppen gibt es auch Formen der institutionalisierten Diskriminierung, die sowohl direkt als auch indirekt sein können, wobei letztere wiederum „mal intentional und mal nicht intentional erfolgen“

Wir werden uns im folgenden auf den Teilaspekt von Erfahrungen der Diskriminierung durch Institutionen im öffentlichen Raum beschränken, da sich in diesen Diskriminierungsformen am deutlichsten die gesellschaftliche Distanz zu den Migranten widerspiegelt (vgl. Tabelle 3). Eine solche Fokussierung bedeutet natürlich keinesfalls, daß es Diskriminierungen von Migranten im allgemeinen und in diesem speziellen Fall von türkischen Jugendlichen nicht auch im privaten Bereich gäbe und diese nicht womöglich sogar vielfach subjektiv als gravierender empfunden würden. Ältere Jugendliche berichten insgesamt häufiger von Diskriminierungen im öffentlichen Bereich als jüngere. Dies gilt sowohl für den Bereich Arbeitsplatz/Schule als auch für die Bereiche Wohnung, Behörden und Polizei. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, daß die älteren Jugendlichen insgesamt selbständiger agieren und insofern mehr Kontaktsituationen im öffentlichen Bereich erleben. Unterscheidet man nach dem Geschlecht, so differieren die Erfahrungen in den Bereichen Wohnung und Schule/Arbeitsplatz nicht, allerdings fühlen sich männliche Jugendliche sowohl von Behörden als auch von der Polizei eher ungleich behandelt als weibliche Jugendliche. Hier dürfte eine zentrale Erklärung in den stark ausgeprägten geschlechtsspezifischen Rollenmustern liegen, die dazu führen, daß männliche Jugendliche gerade im öffentlichen Leben eine erheblich größere Eigenständigkeit nicht nur entwickeln dürfen, sondern auch müssen, was dann zwangsläufig mehr Erfahrungen -auch negativer Art in Form von Diskriminierungen -mit sich bringt.

Eine Aufschlüsselung nach dem Schulbesuch ergibt, daß Gymnasiasten, gefolgt von Berufsschülern, am häufigsten von Ungleichbehandlungen im öffentlichen Raum berichten. Am geringsten diskriminiert fühlen sich in den hier diskutierten Bereichen jeweils die Hauptschüler. Diese Unterschiede beruhen vermutlich auf dem Umstand, daß die Diskriminierung von denen am deutlichsten wahrgenommen wird, die ihre Integrationsbestrebungen intensivieren und sich zugleich in unterschiedlichen Konkurrenzsituationen mit Deutschen befinden. Zugleich haben sich türkische Hauptschüler aufgrund ihrer generell margi nalisierten Position vermutlich in stärkerem Maße mit ihrer Diskriminierungssituation „arrangiert“, so daß sie diese nicht mehr in vergleichbarem Ausmaß als solche registrieren.

Die bisherigen Ergebnisse sollten die Wahrnehmung relevanter Ausschnitte der aktuellen Lebenssituation von türkischen Jugendlichen verdeutlichen Gleichzeitig nehmen die Jugendlichen jedoch vielfältige Diskriminierungen wahr, die von verdeckten Varianten bis hin zur massiven offenen Fremdenfeindlichkeit reichen. Im Zuge eines dialektischen Verständnisses von Sozialisationsprozessen ist es deshalb angemessen, der Frage nachzugehen, wie Situationen und Erfahrungen subjektiv verarbeitet werden und zu aktuell relevanten, zum Teil stabilen, zum Teil labilen kognitiven wie emotionalen Folgerungen führen, die u. a. dadurch zustande kommen, daß neue bzw. verstärkte Orientierungsangebote aus religiösen oder politischen Gruppen ortsnah oder via Medien offeriert werden, die identitätsstabilisierend oder sozialkulturell sichernd wirken.

Der Verarbeitungsprozeß selbst steht allerdings aus methodischen Gründen hier nicht zur Debatte, sondern jene neuen Zusammenhänge mit problembeladenen Orientierungen, die sich jenseits islamischer Religiosität in Form von Aspekten eines islamischen Fundamentalismus und ebenso jenseits demokratischer Einstellungen in Gestalt nationalistischer Positionen finden lassen.

V. Fundamentalistische und nationalistische Orientierungen

Abbildung 3: Orte und Aktivitäten der Freizeitgestaltung (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung

1. Die Verarbeitung von privater Lebenssituation und öffentlicher Diskriminierung Wenn wir uns im folgenden innerhalb des Spektrums religiöser Überzeugungen vorwiegend mit islamisch-fundamentalistischen Orientierungsmustern bei türkischen Jugendlichen befassen, so bedeutet dies aus unserer Sicht keineswegs, daß islamische Religiosität an sich bereits als Vorbote extremistisch religiöser Präferenzen anzusehen ist. Denn unsere Ergebnisse zeigen, daß die Religion des Islam für türkische Jugendliche nach wie vor eine relativ große Bedeutung jenseits einseitiger, politisch motivierter Überhöhungen besitzt. Gleichwohl ist vor dem Hintergrund eines weltweit sichtbarer werdenden islamischen Fundamentalismus einerseits und zunehmender ethnisch-kultureller Konfliktlinien in der Bundesrepublik Deutschland andererseits die Frage nach der Bedeutung von Religion und nationaler Zugehörigkeit für die in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen neu zu stellen. Von besonderer Dringlichkeit ist dabei die Frage, unter welchen Bedingungen religiöse und nationale Merkmale und Inhalte in islamisch-fundamentalistische bzw. nationalistische Orientierungsmuster münden oder von extremistischen Organisationen entsprechend ihrer demokratie-und integrationsfeindlichen Ziele instrumentalisiert werden.

Empirisch nähern wir uns dem Phänomen islamisch-fundamentalistischer Orientierungen unter türkischen Jugendlichen über drei unterschiedliche Zugänge. Um das Potential islamisch-fundamentalistischer und nationalistischer Orientierungen bei türkischen Jugendlichen zu erfassen, wurden den Befragten deshalb Statements vorgelegt, die sich auf die unterschiedlichsten sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Aspekte des Islam beziehen. Mit Hilfe dieser Items haben wir die im folgenden zu diskutierenden Skalen „Islamzentrierter Überlegenheitsanspruch“ und „Religiös fundierte Gewaltbereitschaft“ gebildet und gleichzeitig nach der Interessenvertretung durch die „Grauen Wölfe“ und „Milli Görü" Ausschau gehalten, da diese mit einem Vereinsstatus ausgestatteten Organisationen als wichtigste Vertreter nationalistischer bzw. islamisch-fundamentalistischer Orientierungen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelten können.

Alle drei Aspekte (Überlegenheitsanspruch, Gewaltbereitschaft und Interessenvertretung) sind im Zusammenhang der folgenden Analyse als „Einfallstore“ zum islamischen Fundamentalismus zu verstehen. Damit bilden wir nicht das gesamte Spektrum eines islamischen Fundamentalismus ab. Religiöser Fundamentalismus existiert beispielsweise auch ohne Gewalt. Dieser Zugang gewinnt aber die Möglichkeit, große Teile islamisch-fundamentalistischer Orientierungsmuster und Organisationspräferenzen unter türkischen Jugendlichen durch die unterschiedlichen Zugangsweisen adäquat zu beschreiben und sie im Zuge der unterschiedlichsten sozialen Erscheinungsformen einer sozialwissenschaftlichen Analyse auch zugänglich zu machen (vgl. Kap. VI).2. Islamzentrierte Überiegenheitsansprüche Islamzentrierte Überlegenheitsansprüche zeichnen sich durch religiös motivierte Orientierungen aus, die den Vorrang der Religion gegenüber nationalen Zugehörigkeiten und politischen Ansichten betonen. Die Ablehnung der westlichen Lebensweise bei gleichzeitiger Präferenz traditioneller und fundamentalistischer Positionen des Islam bis hin zur Betonung der absoluten Vorrangstellung vor anderen Religionen ist u. E. ein erster Indikator, der im Zusammenhang mit islamisch-fundamentalistischen Orientierungen und Einstellungsmustern von in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen diskutiert werden muß (vgl. Tabelle 4).

Positionen, die einen islamzentrierten Überlegenheitsanspruch zum Ausdruck bringen, erfuhren bei den Befragten eine Zustimmung zwischen 49 und 56 Prozent, also bei gut der Hälfte aller Jugendlichen. Das Ausmaß der Zustimmung zu solchen Positionen variiert leicht nach Alter und Geschlecht. So lassen sich sowohl bei jüngeren als auch bei männlichen Jugendlichen etwas höhere Werte feststellen. Ganz anders sieht es aus, wenn nach Schulbesuch und Aspirationsniveaus differenziert wird, Merkmalen also, die Rückschlüsse auf die persönlichen Zukunftschancen der in der Mehrheitsgesellschaft aufwachsenden und zum größten Teil auch in Deutschland geborenen Minderheit der türkischen Jugendlichen zulassen. So zeigt sich, daß insbesondere Jugendliche an Haupt-schulen deutlich stärker islamisch begründete Überlegenheitsansprüche aufweisen als Jugendliche an Gesamtschulen und vor allem an Gymnasien. Auch die Differenzierung nach der Bildungsund Berufsaspiration der Jugendlichen läßt eindeutige Schlüsse zu. Während Jugendliche mit mittlerer, insbesondere aber mit niedrigerer Bildungs-und Berufsaspiration deutlicher islamzentrierte Überlegenheitsansprüche aufweisen, sind diese bei Jugendlichen mit höherem Aspirationsniveau merklich geringer. 3. Religiös fundierte Gewaltbereitschaft Um das Spektrum der Einstellungen, die im Zusammenhang mit religiösem Fundamentalismus debattiert werden, um die politische Dimension zu erweitern und stärker auf islamisch-fundamentalistische Orientierungsmuster zu fokussieren, haben wir insbesondere einen Aspekt in den Blick genommen, der vor allem in der medial vermittelten Öffentlichkeit im Mittelpunkt steht: der Zusammenhang von Religion und Gewalt

Das von uns präferierte politisch unterlegte Konzept einer Variante von islamischem Fundamentalismus, die ideologisch begründete Gewalt beinhaltet, haben wir zu einer Skala „Religiös fundierte Gewaltbereitschaft“ zusammengefaßt, die auf den in Tabelle 5 dargestellten Items basiert. Die Zustimmungen zu den einzelnen Items zeigen, daß von einem nicht unerheblichen Potential islamisch-fundamentalistischer Orientierungen, die mit Gewalt einhergehen, gesprochen werden kann 17.

Obwohl die Zustimmungswerte zu den einzelnen Items hier „nur“ zwischen 23, 2 Prozent („Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten“) und 35, 7 Prozent („Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubige durchzusetzen“) liegen -bei den islamzentrierten Überlegenheitsansprüchen waren die Zustimmungwerte wesentlich höher -, zeigen unsere Berechnungen dennoch einen überaus starken Zusammenhang zwischen den islamzentrierten Überlegenheitsansprüchen mit ihren vorwiegend konservativ-traditionellen Sichtweisen einerseits und den politisch und gewaltförmig unterfütterten islamisch-fundamentalistischen Orientierungen andererseits

In bezug auf die soziale Lage der Jugendlichen zeigen sich ähnlich wie bei den Items zur religiös fundierten Gewaltbereitschaft deutliche Unterschiede. Der Tendenz nach ist die Zustimmung sowohl bei den Jüngeren als auch bei den männlichen Jugendlichen stärker ausgesprägt; insbesondere sind es wiederum Jugendliche aus Haupt-schulen bzw. mit insgesamt eher geringerer Bildungsaspiration und geringeren Berufschancen, die stärker militant islamisch-fundamentalistische Orientierungen aufweisen. 4. Organisatorische Strukturen: „Milli Görü"

und „Graue Wölfe“

Da sowohl islamzentrierte Überlegenheitsansprüche als auch eine religiös fundierte Gewaltbereitschaft vor allem dann eine besondere Brisanz entwickeln, wenn sie sich mit Präferenzen für Organisationen verbinden, die solche Haltungen propagieren, werfen wir im folgenden einen zusätzlichen Blick auf die Bedeutung von „Milli Görü§“ und den „Grauen Wölfen“ für türkische Jugendliche in Deutschland.

Ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotential liegt hier in der Tatsache, daß in der Ausrichtung gerade auch dieser beiden Organisationen eine Überschneidung von islamisch-fundamentalistischen Orientierungen und nationalistischen Positionen deutlich wird.

„Milli Görü" und die „Grauen Wölfe“ bzw. als Parteien-Pendants in der Türkei die Refah-Partei und die „Partei nationalistischer Bewegung“ (MHP) bewegen sich strategisch und ideologisch auf politischen Feldern, die sich partiell überlappen und Übergänge aufweisen. Während „Milli Görü§“ (bzw. in der Türkei die Refah-Partei) eine überwiegend islamistische Politik mit nationalistischen Elementen betreibt, definiert sich die Politik der „Grauen Wölfe“ (bzw. in der Türkei der MHP)in erster Linie über die Ideologie des türkischen Nationalismus, der wiederum die Religion des Islam konstitutiv zugeordnet ist. Islamisch-fundamentalistische und türkisch-nationalistische Orientierungen sind insofern keinesfalls als deckungsgleich anzusehen; das tatsächliche politische Handeln beider Organisationen in der Bundesrepublik nicht zuletzt in der konkreten Arbeit mit Jugendlichen hin zu integrationshemmenden bzw.demokratiefeindlichen Identifikationsangeboten läßt jedoch eine Nähe beider Orientierungsrichtungen als gegeben annehmen.

Insgesamt gibt mehr als ein Drittel aller türkischen Jugendlichen explizit an, sich in seinen Interessen sowohl durch „Milli Görü" als auch durch die „Grauen Wölfe“ gut oder teilweise vertreten zu fühlen (vgl. Tabelle 6).

Betrachtet man die Bejahung einer Interessenvertretung durch eine der beiden Organisationen näher unter sozialstrukturellen Merkmalen, so fällt zum einen auf, daß die Vereinigung der „Grauen Wölfe“ jüngeren und weiblichen Jugendlichen weniger bekannt ist als allen anderen Jugendlichen. Darüber hinaus wird deutlich, daß männliche Jugendliche sich wesentlich eher als weibliche Jugendliche durch die „Grauen Wölfe“ gut vertreten fühlen. Obwohl nicht signifikant, stellt sich die Interessenvertretung durch die „Grauen Wölfe“ je nach Aspirationsniveau und dem von den Jugendlichen besuchten Schultyp so dar, daß Jugendliche mit hohem Aspirationsniveau sich durch die „Grauen Wölfe“ deutlich schlechter vertreten fühlen als Jugendliche mit mittlerem oder niedrigem Aspirationsniveau. Haupt-und Berufsschüler fühlen sich in ihren Interessen durch die „Grauen Wölfe“ eher vertreten als Schüler und Schülerinnen an Gymnasien oder Gesamtschulen. Hinsichtlich der Präferenz der Schüler und Schülerinnen für „Milli Görü" zeigt sich gegenüber den „Grauen Wölfen“ ein leicht anderes Bild. Im Vergleich zu allen anderen Schulformen setzen sich hier vor allem die Schüler und Schülerinnen der Gymnasien ab; diese fühlen sich in ihren Interessen durch „Milli Görü" am deutlichsten nicht vertreten. Darüber hinaus läßt die Interessenvertretung durch „Milli Görü" bezüglich der Bildungs-und Berufsaspiration das gleiche Muster wie bei den „Grauen Wölfen“ erkennen: Je schlechter türkische Jugendliche ihre Zukunftschancen qua Bildungs-und Berufsaspiration einschätzen, desto eher sehen sie ihre Interessen auch durch diese vertreten.

Dies ist u. E. ein zentraler Hinweis darauf, daß die Anfälligkeit Jugendlicher für extreme nationalistische bzw. religiös-fundamentalistische „Angebote“ dann besonders hoch zu sein scheint, wenn sie für sich persönlich in der Mehrheitsgesellschaft deutlich schlechtere Bildungs-und Berufspositionen und damit allgemein schlechtere Zukunftschancen antizipieren. Angesichts der sich verschlechternden Arbeitsmarktsituation gerade auch für Personen mit niedriger schulischer Qualifikation (zumal in den großen Städten mit ihrem abnehmenden Produktionsgewerbe) bildet dies vor dem Hintergrund zusätzlicher Diskriminierungserfahrungen keine erfreuliche Zukunftsperspektive.

Daß gerade Organisationen wie „Milli Görü" oder die „Grauen Wölfe“ bei den Jugendlichen starken Anklang finden, ist ohne Zweifel ein weiterer deutlicher Hinweis auf die Hinwendungsbereitschaft türkischer Jugendlicher zu islamischfundamentalistischen Orientierungen, ohne daß bisher klar ist, wie stabil oder labil diese Einstellungen sind. Wir haben gesehen, daß nicht nur • Einstellungen, die vorwiegend auf ein religiös-traditionelles Überlegenheitsverständnis des Islam abzielen, sondern auch solche, die ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft signalisieren, eine nicht unerhebliche Verbreitung unter den befragten Jugendlichen haben. Bei all diesen Indikatoren zeigt sich insgesamt, daß dabei alters-und geschlechtsspezifische Unterschiede eine nur untergeordnete Rolle spielen, die aktuelle Positionierung im Bildungswesen sowie das eigeneAspirationsniveau insgesamt dagegen von höchster Bedeutung sind.

Wenn -und darauf deuten unsere Auswertungen unzweifelhaft hin -tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der Interessenvertretung durch die „Grauen Wölfe“ oder „Milli Görü" einerseits und islamisch-fundamentalistischen Einstellungsmustern andererseits besteht und gleichzeitig islamisch-fundamentalistische oder nationalistische Organisationen die von der Mehrheitsgesellschaft selbst eröffnete soziokulturelle „Versorgungslücke“ für türkische Jugendliche schließen können, dann potenziert sich auch das Risiko islamischfundamentalistischer Einstellungen und Werthaltungen aufgrund fehlgeschlagener Integration bzw. einsetzender Desintegration.

VI. Zusammenhänge

Tabelle 3: Diskriminierung türkischer Jugendlicher im öffentlichen Bereich (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

Nachdem wir das Ausmaß islamisch-fundamentalistischer Orientierungen unter türkischen Jugendlichen im Zusammenhang mit einer Interessenvertretung durch extremistische Organisationen wie die „Grauen Wölfe“ oder „Milli Görü" dargestellt haben, wollen wir diese Orientierungen nun vor dem Hintergrund des oben bereits diskutierten sozialen Umfeldes der Jugendlichen, d. h.der Familien und der Freizeitsituation sowie der Diskriminierungserfahrungen, analysieren. Ergänzend beziehen wir uns auch noch auf Fragen zur ethnisch-kulturellen Identifikation und zur Staatsangehörigkeit. Hinwendung zu islamisch-fundamentalistischen Positionen provoziert auch die Frage nach einer Abwendung vom sozialen und politischen System der Aufnahmegesellschaft. Dabei geht es insbesondere um die Klärung der Frage, inwieweit die Präferenz islamisch-fundamentalistischer Orientierungsmuster von einer Beurteilung der Umwelt abhängig ist, in der sich eine Distanz zur sozialen Umgebung bzw. zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland ausdrückt.

Auch wenn man davon ausgehen kann, daß unter Plausibilitätsgesichtspunkten der traditionsgeprägte Erziehungsstil türkischer Eltern mit seinen (nach wie vor) autoritär-patriarchalisch und geschlechtsrollenspezifisch ausgerichteten Verhaltensweisen von den Jugendlichen selbst als unangemessen zur Förderung der eigenen Handlungskompetenz in einer modernen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland angesehen wird dann ist es -wie wir oben gesehen haben -um so erstaunlicher, daß nicht nur fast zwei Drittel der Jugendlichen sich am Erziehungsstil der Eltern orientieren, sondern daß sie auch selbst stark auf autoritär-patriarchalisch und geschlechtsspezifisch ausgerichtete Normen und Werte rekurrieren. Für eine Analyse der Ursachen islamisch-fundamentalistischer Orientierungen hinsichtlich der familialen Voraussetzungen ist dieses Ergebnis deshalb von Bedeutung, weil Jugendliche, die sich an den Erziehungsvorstellungen der Eltern sowohl auf der formalen (Modus der Kulturweitergabe) als auch auf der inhaltlichen Ebene (Werte, Erziehungsziele) ausrichten, eher islamzentrierte Überlegenheitsansprüche oder religiös fundierte Gewaltbereitschaft aufweisen als die türkischen Jugendlichen insgesamt.

Ganz anders diejenigen, die dem Erziehungsstil ihrer Eltern eher ablehnend gegenüberstehen oder mit einer Präferenz der eher modernen Werte der Kindererziehung wie beispielsweise Selbständigkeit und Unabhängigkeit dem „Wertehimmel“ deutscher Jugendlicher näher sind: Diese Jugendlichen zeigen deutlich weniger Neigung zu solchen Einstellungen. Selbstverständlich sind türkische Jugendliche, die sich in einer demokratischen und eher liberale Erziehungsziele präferierenden Gesellschaft an den in der Tendenz eher traditionalen Erziehungsvorstellungen der eigenen Eltern orientieren, nicht per se als von Überlegenheitsgefühlen geprägte und gewaltbereite islamische Fundamentalisten anzusehen. Die aufgezeigten Zusammenhänge deuten aber darauf hin, daß ein Festhalten an in dieser Gesellschaft längst brüchig gewordenen rigiden Norm-und Wertvorstellungen wenig hilfreich für den Prozeß der Integration in die Gesellschaft zu sein scheint.

Wenn wir den Einfluß von „Umweltvariablen“ auf islamisch-fundamentalistische Orientierungsmuster bei türkischen Jugendlichen untersuchen, dann spielt neben der Familie auch die Gleichaltrigengruppe (Peergruppe) und die in und mit dieser verbrachte Freizeit eine zentrale Rolle. Wie bereits verdeutlicht, sind türkische Jugendliche (insbesondere Jungen) stark in Cliquen integriert, die vorwiegend gemischtgeschlechtlich, aber auch ethnisch gemischt zusammengesetzt sind. Gleichzeitig besteht der eindeutige Wunsch nach intensiveren Kontaktmöglichkeiten zu deutschen Jugendlichen. In bezug auf islamischfundamentalistische Orientierungen zeigt unsereUntersuchung folgendes: Jugendliche, die nicht fest in Cliquen integriert sind und angeben, lieber allein zu sein, weisen deutlich stärker islam-zentrierte Überlegenheitsansprüche und religiös motivierte Gewaltbereitschaft auf als Jugendliche, die in Cliquen integriert sind oder aber starke Freundschaftskontakte betonen. Darüber hinaus läßt sich der Tendenz nach zeigen, daß Jugendliche, deren Freundeskreis etwa zu gleichen Teilen aus Jungen und Mädchen besteht, weniger anfällig für islamisch-fundamentalistische Orientierungen sind als Jugendliche, deren Freundeskreis überwiegend gleichgeschlechtlich zusammengesetzt ist.

Für die Klärung der Frage nach den Hintergründen islamisch-fundamentalistischer Orientierungen ist im Zusammenhang der Peeraktivitäten aber der Aspekt der ethnisch gemischten Zusammensetzung des Freundeskreises von zentraler Bedeutung. Hier zeigt sich, daß Jugendliche, die ihre Freizeit ausschließlich mit ihren „Landsleuten“ verbringen, eher zu islamzentrierten Überlegenheitsansprüchen und zu einer religiös fundierten Gewaltbereitschaft neigen als diejenigen, die ihre Freizeit sowohl mit türkischen als auch mit deutschen Jugendlichen verbringen. Ferner haben diejenigen, die keinen intensiveren Kontakt zu deutschen Jugendlichen wünschen, ebenfalls eine höhere Affinität zu islamisch-fundamentalistischen Orientierungen. Vor diesem Hintergrund ist der Rückzug in eigenethnische Gruppen als problematisch anzusehen; dies um so mehr, als ein solcher Rückzug insgesamt eine zunehmende Tendenz aufweist. Zwar fand Esser in einem intergenerativen Vergleich unter türkischen Migranten heraus, daß sich innerhalb der zweiten Generation die Widerstände gegen interethnische Beziehungen in deutlicher Weise aufzulösen beginnen. Diese Untersuchung von 1989 liegt allerdings vor jenen Jahren nach 1990, die in besonderer Weise durch eine sichtbar und öffentlich werdende Fremdenfeindlichkeit geprägt gewesen sind. Diese Entwicklung der letzten Jahre begünstigte auch einen starken Rückgang interethnischer Freundschaftsbeziehungen bei der türkischen Bevölkerung, der insgesamt „als Indiz für eine wachsende Distanz zwischen der ausländischen und der deutschen Bevölkerung gewertet werden“ muß.

Ein weiterer Hinweis darauf, daß mangelnde Integration in die Gesellschaft der gemischtethnischen Gleichaltrigen extreme islamisch-fundamentalistische Positionen stärken kann, ist die Feststellung, daß Jugendliche, die sich in ihren Interessen durch die „Grauen Wölfe“ oder „Milli Görü" vertreten fühlen, deutlich häufiger ihre Freizeit ausschließlich mit türkischen Jugendlichen verbringen. In die gleiche Richtung verweist schließlich auch die Tatsache, daß bei denjenigen, die ethnisch eher unspezifische Freizeitorte wie Cafes, Gaststätten oder Kinos intensiv nutzen, die Formulierung islamzentrierter Überlegenheitsansprüche deutlich geringer ausgeprägt ist, während eine starke Frequentierung eigenethnischer Lokalitäten wie des türkischen Tee-oder Kaffeehauses oder der Moschee eindeutig mit der Ausformulierung islamzentrierter Überlegenheitsansprüche, insbesondere aber mit religiös fundierter Gewaltbereitschaft korreliert. Die Ergebnisse deuten insgesamt darauf hin, daß Jugendliche, die nicht hinreichend in die Welt der Altersgleichen beider Kulturkreise integriert sind, häufiger islamisch-fundamentalistische Orientierungen aufweisen und damit zugleich verstärkt dem ideologischen Zugriff islamischfundamentalistischer bzw. nationalistischer Gruppen wie „Milli Görü" oder der „Grauen Wölfe“ ausgesetzt sind.

• Gerade in der Freizeit sind türkische Jugendliche im besonderen Maße der potentiellen Gefahr alltäglicher Diskriminierung ausgesetzt. Wie oben bereits dargestellt, bezieht sich diese sowohl auf den öffentlichen als auch den privaten Bereich. Unsere Untersuchung verdeutlicht zunächst, daß insgesamt davon ausgegangen werden muß, daß bewußt erlebte und wahrgenommene Diskriminierungserfahrungen mit islamzentrierten Überlegenheitsansprüchen und religiös motivierter Gewalt-bereitschaft einhergehen. Dabei ist allerdings auffällig, daß die Neigung zu islamisch-fundamentalistischen Orientierungsmustern weitgehend unabhängig von den im öffentlichen Bereich erlebten Diskriminierungen ist, daß sich die im privaten Bereich erlebten -insgesamt geringeren -Diskriminierungserfahrungen wie z. B. in Jugendzentren oder in Sportvereinen hingegen auswirken in Form verstärkter islamzentrierter Überlegenheitsgefühle bzw. erhöhter religiös fundierter Gewaltbereitschaft.

Die Kennzeichen von Integration oder Desintegration gehen jedoch über bloße Muster täglicher Verhaltensvorlieben im Freizeitbereich hinaus; sie liegen tiefer. Wir haben den Jugendlichen deshalbauch Fragen zur ethnisch-kulturellen Identifikation auf der personalen, nationalen und religiösen Ebene gestellt Schaut man sich die entsprechenden Antworten auf der personalen Ebene etwas genauer an, dann wird deutlich, daß sich ca. ein Drittel aller Jugendlichen türkischer Herkunft unter Deutschen wohler fühlt als unter Türken und sich zwei Drittel der Befragten unter Türken wohler fühlen. Auffällig ist hier, daß die Extremposition, sich unter Deutschen sehr wohl und unter Türken schlecht zu fühlen, sehr selten anzutreffen ist. Die ethnisch-kulturelle Identifikation im Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland scheint sehr stark an ein Wir-Gruppen-Gefühl der eigenethnischen Gruppe geknüpft zu sein. Anders sieht es aus, wenn das Herkunftsland (zumeist nur der Eltern) in die Dimension ethnisch-kultureller Identifikation einfließt. Hier ist immerhin mehr als ein Fünftel aller türkischen Jugendlichen der Ansicht, daß die Aussage, sich in der Türkei als Fremder im eigenen Land zu fühlen, ihr Lebensgefühl sehr gut treffe.

Zusätzlich zu diesen das individuelle Lebensgefühl betreffenden Aspekten wurden auch Fragen gestellt, die sich auf die nationale und religiöse Ebene der ethnisch-kulturellen Identifikation beziehen. So spielt beispielsweise bei der Wahl eines möglichen Lebenspartners für die Mehrheit der türkischen Jugendlichen die Nationalität und Religionszugehörigkeit (nach wie vor) eine erhebliche Rolle. Dabei wird der Frage der Religionszugehörigkeit eine noch stärkere Bedeutung als der der Nationalität zugesprochen. In diesem Zusammenhang muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß beispielsweise im Vergleich zu deutschen Jugendlichen die Wahl eines Lebenspartners oder einer Lebenspartnerin sehr viel stärker dem elterlichen Einfluß unterliegt. In dieser Einflußnahme kommt sicher der Wunsch vieler in der Diaspora lebenden Türken zum Ausdruck, auch für die zweite und dritte Generation die Bindung an das Heimatland aufrechtzuerhalten. Die Heirat der Kinder mit einem Mann oder einer Frau aus dem Bekanntenkreis aus der Türkei, möglichst sogar aus dem Heimatdorf, soll diese Bindung sicherstellen Insgesamt zeigen die einzelnen Items zur ethnisch-kulturellen Identifikation sowohl auf der personalen als auch auf der nationalen und religiösen Ebene im Hinblick auf sozialstrukturelle Differenzierungen das gleiche Muster: Während sich nach dem Alter oder dem Grad der Bildung unter den Jugendlichen keine Unterschiede feststellen lassen, weisen Mädchen auf der personalen Ebene stärker ethnisch-kulturelle Identifikationsmuster auf als Jungen. Auch Nationalität und Religionszugehörigkeit sind für sie bei der Wahl des Lebens-partners von größerer Bedeutung.

Die einzelnen Statements, die ethnisch-kulturelle Identifikationsmuster unter den Jugendlichen türkischer Herkunft symbolisieren, haben wir in Beziehung zu islamzentrierten Überlegenheitsansprüchen und religiös fundierter Gewaltbereitschaft gesetzt. Dabei zeigt sich folgendes: Auch die Indikatoren zu ethnisch-kulturellen Identifikationen belegen die Desintegrationsthese: Je geringer türkische Jugendliche in die Mehrheitsgesellschaft integriert sind, desto eher lassen sich islamischfundamentalistische Einstellungs-und Orientierungsmuster sowie Organisationspräferenzen für islamisch-fundamentalistische und nationalistische Vereine feststellen.

Auch die Frage zur deutschen Staatsbürgerschaft schließlich gibt Hinweise, daß gesellschaftliche Desintegration mit islamisch-fundamentalistischen Orientierungen bei türkischen Jugendlichen korreliert. So antworteten auf die Frage, ob sie beabsichtigten, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen, 40, 7 Prozent mit ja, 33, 9 Prozent mit vielleicht, 21, 4 Prozent mit nein, und 4, 0 Prozent gaben keine Antwort. Bezogen auf islamisch-fundamentalistische Orientierungen zeigt sich, daß die Gruppe der türkischen Jugendlichen, die die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen würden, deutlich geringere islamisch-fundamentalistische Orientierungen aufweist als jene Jugendlichen, die diese vielleicht oder nicht beantragen würden.

VII. Fazit

Tabelle 4: Islamzentrierte Überlegenheitsansprüche türkischer Jugendlicher (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

Weder skandalisierende Szenarien noch eine -vermeintlich ausländerfreundliche -Tabuisierung sind angebracht, wenn es darum geht, Art, Umfang und Hintergründe von islamisch-fundamentalistischen Orientierungsmustern bei türkischen Jugendlichen in der Bundesrepublik zu analysieren. Das Problem eines vorhandenen und wachsenden islamischen -möglicherweise Funda mentalismus auch in Deutschland ist in den damit verbundenen ethnisch-kulturellen Konfrontations-und Konfliktlinien zu sehen, deren innere Dynamik und gesellschaftliche Problematik heute noch kaum angemessen eingeschätzt werden kann. Die Gefahren sind nicht zu übersehen, daß individuelle Probleme der Integration in die aufnehmende differenzierte Gesellschaft ausgeglichen werden könnten durch Intensivierung eines Rückzugs in die kollektivierende ethnisch-kulturelle Gemein-schaft. Es sind nicht zuletzt Ausgrenzungstendenzenin der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die identitätsstiftende bzw. -sichernde Abgrenzungstendenzen bei Teilen der türkischen Migranten befördern. Diese können sich dann auch mit gesellschaftlich riskantem, weil demokratieablehnendem bzw. -gefährdendem religiösem Fundamentalismus und/oder Nationalismus verbinden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Als Versuch, dieser Gefahr entgegenzuarbeiten, sind die hier in Ausschnitten vorgestellten Ergebnisse zu werten, deren vollständige Auffächerung unter dem Titel „Verlockender Fundamentalismus“ in der Reihe „Kultur und Konflikt“ der „edition suhrkamp“ (Frankfurt am Main 1997) erscheint. Unseres Wissens ist es die erste empirische Untersuchung, die sich Fragen des quantitativen Ausmaßes islamisch-fundamentalistischer Orientierungen stellt. Vgl. Matthias Jerusalem, Akkulturationsstreß und psychosoziale Befindlichkeit jugendlicher Ausländer, in: Report Psychologie, 16 (1992), S. 16-25.

  2. Die Studie wurde finanziert vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen.

  3. Vgl. u. a. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend und Erwachsene ’ 85. Generationen im Vergleich, 5 Bände, Bd. 3, Hamburg 1985, S. 97 f., 151 ff., 193 f.; Jürgen Zinnekker, Jugendkultur 1940-1985, Opladen 1987; Yvonne Schütze, Jugend und Familie, in: Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.), Handbuch der Jugendforschung, Opladen 1988, S. 242 ff.; Hans Oswald, Intergenerative Beziehungen (Konflikte) in der Familie, in: Manfred Markefka/Rosemarie Nave-Herz (Hrsg.), Handbuch der Familien-und Jugend-forschung, Band 2, Jugendforschung, Neuwied-Frankfurt am Main 1989, S. 377.

  4. Die einzelnen Prozentwertangaben getrennt nach Geschlecht: „genau so“ (m = 22, 9, w = 19, 7); „ungefähr So“ (m = 47, 9, w = 37, 9); „anders“ (m = 18, 0, w = 22, 7); „ganz anders“ (m = 11, 1, w = 19, 7).

  5. Vgl. für die deutschen Jugendlichen dazu Jugendwerk der Deutschen Shell (Anm. 3), Bd. 3, S. 208; Emnid-Institut (Hrsg.), Umfrage und Analyse, (1992) 3/4, S. 104 f.

  6. Vgl. Wolfgang Melzer/Elke Nolteernsting/Helmut Schröder, Jugend in der Republik Polen, in Ost-und Westdeutschland. Strukturwandel, Kulturunterschiede und interkulturelle Kommunikation, Datenband, Bielefeld 1993.

  7. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Cliquenzugehörigkeit haben sich bei deutschen Jugendlichen bereits seit Mitte der 60er Jahre weitgehend aufgelöst; vgl. u. a. Klaus Allerbeck/Wendy Hoag, Jugend ohne Zukunft? Einstellungen, Umwelt, Lebensperspektiven, München-Zürich 1985; Hans Oswald, Jugend ’ 92. Lebenslagen, Orientierungen und Entwicklungsperspektiven im vereinten Deutschland, 4 Bände, Bd. 2, Hamburg 1992, S. 319-332.

  8. Item = Element eines Fragebogens oder einer Skala; als eine Frage oder als ein Urteil formulierte Aussage, zu der sich die Befragten äußern sollen.

  9. Das Aspirationsniveau ist ein Indikator, der das Ausmaß der erreichten oder angestrebten Bildungs-und Berufs-abschlüsse darstellt.

  10. Vgl. Dieter Baacke, Jugendkulturen als Lebensstil. Zu neuen Formen der Sinndeutung, in: Kulturpolitische Gesellschaft, (1986) 3.

  11. Vgl. hierzu ausführlich Elke Nolteernsting, Jugend, Freizeit und Geschlecht. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Ost-und Westdeutschland, Opladen 1996.

  12. Vgl. Sami Özkara, Auswirkungen der Migration auf die Norm-und Wertvorstellungen der Migrantenfamilien in der Bundesrepublik Deutschland, in: Konstantin Lajios (Hrsg.), Die zweite und die dritte Ausländergeneration. Ihre Situation und Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1991, S. 91-106.

  13. Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit Politik, Medien, Öffentlichkeit und auch Wissenschaft in diesem Zusammenhang den Begriff „Ausländer“ benutzen angesichts des Umstandes, daß nicht wenige der so bezeichneten Kinder und Jugendlichen ihr „Heimatland“ Türkei nur aus Erzählungen der Familie bzw. aus dem Fernsehen kennen und zum Teil überhaupt noch hie in irgend einem „Ausland“ gewesen sind. Vielleicht wäre die konsequente Benutzung einer Bezeichnung wie „Inländer ohne deutsche Staatsangehörigkeit“ schon aufgrund ihrer sprachlichen Unbequemlichkeit sinnvoll, weil dies bereits beim Formulieren eine permanente Mahnung gegen unzulässige Vereinfachungen und Verkürzungen wäre.

  14. Vgl. Michael Bommes/Frank-Olaf Radtke, Institutionalisierte Diskriminierung von Migrantenkindern. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, in: Zeitschrift für Pädagogik, (1993) 3, S. 483-497, hier S. 490.

  15. Vgl. die ausführlichen theoretischen und analytischen Ausführungen in Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1997.

  16. Zur Vielschichtigkeit des Fundamentalismusbegriffes vgl. u. a. Peter Heine, Fundamentalisten und Islamisten. Zur Differenzierung der Re-Islamisierungsbewegungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33/92, S. 23-30.

  17. Die Korrelation zwischen dem Faktor „Islamzentrierte Überlegenheit“ und der Skala „Religiös motivierte Gewalt-bereitschaft“ beträgt r = . 51, ein Wert, der in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen nicht oft anzutreffen ist.

  18. Zum Zeitpunkt der Erhebung unter der offziellen Bezeichnung AMGT (Europäische Organisation der Nationalen Weitsicht) fungierend. Inzwischen ist nach einer internen Spaltung eine Umbenennung in IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görü§) erfolgt.

  19. Vgl. Regina Arnold-Rösner, Berufliche Integration junger Türken: Chancen und Realitäten in der aktuellen Beschäftigungskrise, Hamburg 1986, S. 40 ff.

  20. Vgl. Hartmut Esser, Interethnische Freundschaften, in: ders. /Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Generationen und Identität. Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie, Opladen 1990, S. 185-205.

  21. Wolfgang Seifert, Zunehmende Arbeitsmarktintegration bei anhaltender sozialer Segregation, in: ISI, 15 (1996), S. 7-11, hier S. 10.

  22. Aus Platzgründen sind die Ergebnisse an dieser Stelle nicht gesondert aufgeführt, vgl. hierzu Heitmeyer/Müller/Schröder (Anm. 15). hierzu auch Faruk

  23. Vgl. Sen/Andreas Goldberg, lürken in Deutschland. Leben zwischen zwei Kulturen, München 1994, S. 84.

Weitere Inhalte

Wilhelm Heitmeyer, Dr. phil., geb. 1945; Professor für Sozialisation an der Universität Bielefeld, geschäftsführender Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Veröffentlichung u. a.: (zus. mit Jutta Conrads u. a.) Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, Weinheim -München 19962; (Hrsg. zus. mit Rainer Doilase) Die bedrängte Toleranz. Ethnisch-kulturelle Konflikte, religiöse Differenzen und die Gefahren politisierter Gewalt, Frankfurt am Main 1996. Helmut Schröder, Dr. phil., geb. 1955; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Veröffentlichung u. a.: Jugend und Modernisierung. Strukturwandel der Jugendphase und Statuspassagen auf dem Weg zum Erwachsensein, Weinheim -München 1995. Joachim Müller, Dipl. -Päd., geb. 1960; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Veröffentlichung u. a.: (zus. mit Wilhelm Heitmeyer) Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen, Bonn 1995.