Europäische Integration und europäische Identität Die Europäische Union im Bewußtsein ihrer Bürger
Stefan Immerfall/Andreas Sobisch
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Zusammenfassung
Die Zukunft Europas wird auch von den Einstellungen der Bürger zur Europäischen Union bestimmt. Doch die Integration Europas ist nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch im öffentlichen Bewußtsein in schweres Wetter geraten. Zwar können sich die Befürworter der Brüsseler Gemeinschaft damit trösten, daß diese nicht zum erstenmal vor großen Schwierigkeiten steht. Doch ist zu bedenken, daß die Zustimmung der Bürger zur Europäischen Union noch nie so sehr gefallen ist wie zwischen 1991 und 1994. Der Beitrag verdeutlicht, wie tiefgreifend der Ansehensverlust der EU bei ihren Bürgern ist. Sodann wird gefragt, ob es trotz der gegenwärtigen Mißstimmung nicht erste Anzeichen für eine allgemeine, über den Tag hinaus reichende Zustimmung zur europäischen Integration gibt. Dazu werden verschiedene Wertebereiche untersucht, die die Basis einer europäischen Identität abgeben könnten. Es verhieße für die Zukunft der Europäischen Union nichts Gutes, sollte die Zustimmung der Bevölkerung einer „Schönwetter-Veranstaltung“ gleichen, die fast ausschließlich von wirtschaftlichen Erwägungen abhängt. Tatsächlich gibt es aber Anzeichen für ein gewisses „mentales“ Potential zur weiteren Integration der Europäischen Union, einschließlich Ansätzen zur Entwicklung einer gemeinsamen Identität.
Die Integration Europas ist in schweres Wetter geraten -politisch, wirtschaftlich und im öffentlichen Bewußtsein. Politisch ist ungewiß, wie es nach dem Kraftakt von Maastricht weitergehen soll. Die Vorstellungen der Mitgliedsländer über Maastricht II gehen weit auseinander, und umstritten ist überdies, wann, zu welchen Konditionen und mit welchen Beitrittskandidaten die Europäische Union erweitert werden soll. Wirtschaftlich gesehen bereitet, neben der Massenarbeitslosigkeit, die für 1999 geplante Währungsunion erheblichen Kummer. Derzeit sieht es aus, als wollten einige derjenigen Länder der Währungsunion nicht beitreten, die nach den Maastrichter Kriterien vermutlich könnten (Dänemark, Großbritannien), während einige, die wollen, vielleicht nicht können (Italien, Spanien).
Sicherlich können sich die Befürworter der Brüsseler Gemeinschaft damit trösten, daß diese nicht zum erstenmal vor großen Schwierigkeiten steht. Besonders erinnerlich ist etwa die Krise des „lehren Stuhls“ Mitte der sechziger Jahre, als de Gaulle anläßlich der vorgeschlagenen Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und des geplanten Beitritts Großbritanniens die Gemeinschaft lahmlegte, oder als ihr Anfang der achtziger Jahre über die Forderung Margaret Thatchers: „I want my money back“ der finanzielle Kollaps drohte. Doch immer wieder wurden Lösungen und Kompromisse gefunden und neue Anläufe unternommen. Das Wort Jacques Delors’, des ehemaligen Kommissionspräsidenten, kommt in den Sinn, der die EG mit einem Fahrrad verglich: Nur wenn gestrampelt wird, fällt es nicht um. Eine solche Dynamik bringt vielleicht nur Europa mit seiner jahrhundertelangen Erfahrung von intensiver Interdependenz ohne Hegemon zustande
Abbildung 7
Tabelle 4: Europäische und nationale Identität (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992).
Tabelle 4: Europäische und nationale Identität (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992).
Gegenüber diesem aus der politischen Erfahrung geschöpften vorsichtigen Optimismus gilt es allerdings zu bedenken, daß die Zustimmung der Bürger zur Europäischen Union noch nie so sehr gesunken ist wie zwischen 1991 und 1995. Waren 1991 noch 81 Prozent aller EU-Bürger „alles in allem für die derzeitigen Bemühungen zur Vereinigung Westeuropas“ und hielten 72 Prozent die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Gemeinschaft „allgemein gesehen für eine gute Sache“, so lauteten 1995 die Zahlen nur noch 69 respektive 53 Prozent (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 8
Tabelle 5: Europäische Identität nach soziodemographischen Merkmalen (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992). manchmal
Tabelle 5: Europäische Identität nach soziodemographischen Merkmalen (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992). manchmal
Diese Entwicklung in der öffentlichen Meinung ist Ausgangspunkt und Anlaß unserer Analyse. Wir fragen zunächst danach, wie tiefgreifend der Ansehensverlust der EU tatsächlich ist (Abschnitt II). Uns beschäftigt sodann die Frage, ob es trotz dieses Stimmungstiefs nicht erste Anzeichen für eine allgemeine, über den Tag hinaus reichende und von kurzfristigen Verstimmungen unabhängige Zustimmung zum europäischen Integrationsprozeß bei den Bürgern gibt -eine Unterstützung also, die über das aktuelle Tal hinweghelfen könnte (Abschnitt III). Schließlich untersuchen wir mehrere Wertebereiche, die möglicherweise die Basis einer europäischen Identität bilden könnten (Abschnitt IV). Eingangs muß jedoch geklärt werden, ob die öffentliche Meinung für den europäischen Integrationsprozeß überhaupt bedeutsam ist.
I. Öffentliche Meinung und europäische Einigung
Abbildung 1
Abbildung 1: Zustimmung zur europäischen Integration (in Prozent) Quelle: Eurobarometer (verschiedene Ausgaben); Eurostat (für 1995 nach Jahreswirtschaftsbericht der Kommission vom Herbst 1992 geschätzt).
Abbildung 1: Zustimmung zur europäischen Integration (in Prozent) Quelle: Eurobarometer (verschiedene Ausgaben); Eurostat (für 1995 nach Jahreswirtschaftsbericht der Kommission vom Herbst 1992 geschätzt).
Die Einstellung der Bürger Europas 2 zur europäischen Integration ist ein seit langem untersuchtes Thema. Mit den schon seit zwanzig Jahren in den jeweiligen Mitgliedsstaaten zweimal jährlich durchgeführten Eurobarometer-Umfragen hat sich die Europäische Kommission in Brüssel ein wichtiges Instrument geschaffen, die öffentliche Meinung Europas zu beobachten und -wohl auch eine Absicht -zu beeinflussen. Trotz inhaltlicher Schwächen -besonders was die Indikatorenqualität und Repräsentativität betrifft -handelt es sich hierbei um einen einzigartigen Datenschatz, den auch die Wissenschaft gerne und häufig benutzt.
Abbildung 9
Tabelle 6: Geteilte Werte in der EU (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 30 (Herbst 1990) und Eurobarometer 37 (Frühjahr 1992).
Tabelle 6: Geteilte Werte in der EU (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 30 (Herbst 1990) und Eurobarometer 37 (Frühjahr 1992).
Zwischen dem verständlicherweise großen Interesse der eher empirisch und praktisch ausgerichteten Meinungsforschung hinsichtlich des politischen Systems der Europäischen Union und den zumeist politikwissenschaftlichen Theorien der europäischen Integration besteht ein interessantes Mißverhältnis -behauptet doch letztere, die öffentliche Meinung sei für den europäischen Integrationsprozeß nur wenig bedeutsam. Dies ist sicherlich überspitzt formuliert, doch gilt nach den Denkmodellen der einflußreichsten Lehrmeinungen, daß Ablehnung oder Zustimmung der Bevölkerung nebensächlich seien. Die funktionalistische Integrationstheorie hält die europäische Einigung für einen von maßgeblichen Eliten der beteiligten Länder und den Funktionseliten internationaler Organisationen gesteuerten Prozeß. Solange sich diese weiter darin einig sind, daß die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen internationale Lösungen erfordern, ist die Auffassung der breiten Bevölkerung für den Gang der weiteren Integration weitgehend folgenlos
Abbildung 10
Abbildung 4: Wo soll entschieden werden? (Angaben in Prozent) Quelle: Eurobarometer 44 (Dezember 1995).
Abbildung 4: Wo soll entschieden werden? (Angaben in Prozent) Quelle: Eurobarometer 44 (Dezember 1995).
Gegenüber der wechselseitigen Abhängigkeit von Staaten und ihrer Verflechtung in internationalen Organisationen hebt die neorealistische Integrationstheorie zwischenstaatliche Verhandlungen als treibendes Moment hervor. Zwar müssen die nationalen politischen Führer gesellschaftliche Interessen berücksichtigen. Doch auch in diesem Ansatz betrifft dies weniger Bevölkerungsorientierungen als vielmehr die Interessen mächtiger, gut organisierter Gruppen Hinzu kommt, daß die Bevölkerung hinsichtlich der EU wenig informiert und interessiert ist. Ihre Meinung schwankt häufig und ist, so wird weiter behauptet, oft in sich widersprüchlich. Obwohl beispielsweise viele Bürger über Rolle und Rechte des Europäischen Parlaments überhaupt nicht Bescheid wissen, wird mehr Macht für eben diese Institution gefordert Auch aufgrund dieser Indifferenz könnte sich ein breiter Spielraum für die politischen Eliten ergeben
Unseres Erachtens unterschätzen beide Ansätze die Bedeutung von Meinungen und Stimmungen für den europäischen Integrationsprozeß. Natürlich kann die Allgemeinheit nicht die dazu notwendigen Schritte und Maßnahmen im einzelnen bestimmen; dazu ist die Materie viel zu kompliziert. Aber sie beeinflußt Richtung, Geschwindigkeit und Ziel des europäischen Einigungsprozesses, wie die Debatten und Abstimmungen zu Maastricht gezeigt haben. Doch ihr Einfluß geht über gelegentliche Referenden weit hinaus. Die politischen Eliten müssen in ihrer Kalkulation der Vor-und Nachteile der Integration stets auch die Stimmung in der Bevölkerung mit berücksichtigen -zumindest so lange, wie die Bevölkerung sich tatsächlich eine Meinung zur EU bildet, die sich unter Umständen auch im Wahlverhalten ausdrückt. Diese Voraussetzung ist in Ländern wie Dänemark und Großbritannien, in denen die EU ein politisch brisantes Thema darstellt, ohnehin gegeben. In anderen Ländern ist das spätestens dann der Fall, wenn öffentlichkeitswirksame Vorgänge das Europathema aufrühren. Darauf kommen wir noch zurück.
Wie aber steht es mit der Behauptung, die Bevölkerungsmeinung sei viel zu fließend, als daß sie der Europapolitik Richtung verleihen könnte? Hier ist zunächst einmal ein Mißverständnis über politische Kommunikation und den Charakter der öffentlichen Meinung auszuräumen. Auch wenn die Bevölkerung über politische Institutionen und ihre Funktionsweisen im Detail wenig „weiß“, können Eliten durch geeignete Arrangements gezwungen werden, den langfristigen, politischen „Heuristiken“ der Bürger nachzukommen Damit ist gemeint, daß etwa im Wahlprozeß grundsätzliche Alternativen strukturiert, von den politischen Parteien sozusagen als „Pakete“ angeboten und begreiflich gemacht werden, über die folgewirksam abgestimmt werden kann.
Ein weiteres kommt hinzu, das der Behauptung, Bevölkerungseinstellungen zur europäischen Integration seien gänzlich unstrukturiert, widerspricht. Zwar erweist sich eine breite Bevölkerungsmehrheit, wie Hans Rattinger in einer sorgfältigen Analyse gezeigt hat gegenüber vielen Fragen der europäischen Integration als relativ gleichgültig. Doch darf Indifferenz nicht mit Instabilität verwechselt werden. Außerdem sind die Einstellungen selbst der Europa gegenüber weitgehend Teilnahmslosen nicht willkürlich, sondern folgen ihrer grundsätzlichen Haltung zu anderen, ihnen wichtigeren politischen Fragen. Dies alles spricht dafür, daß, wer über die Zukunft Europas nachdenkt bzw. dafür handelt, auch von den Einstellungen der Bürger zu Europa sprechen muß.
II. Europa in der öffentlichen Meinung
Abbildung 2
Abbildung 2: Zustimmung zu Europa -Zweifel an Maastricht (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992).
Abbildung 2: Zustimmung zu Europa -Zweifel an Maastricht (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992).
Faßt man die wichtigsten Ergebnisse der europäischen Meinungsforschung zusammen, so hat sich zwar nicht ein Konsens hinsichtlich der Frage herausgebildet, wie man die Einstellungen der Bürger zu europäischen Fragen am besten erklären könne. Doch überwiegt die Auffassung, daß die Unterstützung für das europäische Einigungswerk hauptsächlich von utilitaristischen, d. h. nutzen-orientierten Motiven gelenkt ist Zwar herrscht bei den Bürgern gegenüber Europa eine im großen und ganzen positive Grundstimmung vor. Doch nur wenn sie der Überzeugung sind, die europäische Einigung bringe ihnen oder ihrer Volkswirtschaft überwiegend materielle Vorteile (oder zumindest keine Nachteile), befürworten sie nachdrücklich die Mitgliedschaft ihres Landes in der Gemeinschaft bzw. Union. Unter diesen Umständen sind sie auch bereit, ihr mehr Kompetenzen und Rechte zuzugestehen. gibt das In der Tat es gute, empirische Belege für Argument von der nutzengelenkten Betrachtungsweise. Abbildung 1 legt eine allgemeine Überein-stimmung zwischen der Wirtschaftslage und dem Auf und Ab in der Unterstützung für EU-Europa nahe Als einfacher Indikator für die Wirtschafts-läge wurde hier die Arbeitslosenrate gewählt. Selbst mit diesem groben Indikator und für die umfassende Ebene der gesamten EU deutet sich an, daß in Zeiten sinkender Arbeitslosigkeit -etwa zwischen 1988 und 1991 -die Zustimmung zum politischen System der EU tendenziell steigt, während die EU es nach 1991, parallel zur ungünstigen Wirtschaftslage, in der Öffentlichkeit wieder schwerer hat. Darüber hinaus zeigt Abbildung 1, daß die Einstellungen gegenüber Europa erheblicher Fluktuation unterworfen sind. Dies ist im Grunde nichts Neues und läßt sich sogar bis 1962 zurückverfolgen. Die verminderte Zustimmung seit 1990 fällt jedoch, wie erwähnt, deutlich auf.
Zweitens schwanken Zustimmung oder Ablehnung nicht nur im Zeitablauf, sondern sie unterscheiden sich auch zwischen den Mitgliedsländern. Diese Unterschiede sind langfristig ziemlich stabil und zeigen Briten und Dänen regelmäßig als „Europaskeptiker“, Italiener, Iren und Niederländer als „Euroenthusiasten“. Allerdings hat die EU gerade in den besonders europakritischen Ländern an Zustimmung gewonnen. Auf diese Länderunterschiede können wir hier jedoch nicht weiter eingehen
Drittens -und für unsere Argumentation wichtiger -wird aus der Abbildung 1 deutlich: Die Befragten äußern sich zu Europa um so zustimmender, je unspezifischer und unverbindlicher die gestellte Frage ist. Die abstrakte Idee „Europa“ steht hoch im Kurs. Je stärker sie hingegen konkretisiert wird, desto mehr Zweifel werden sichtbar. Vor klare Entscheidungen gestellt -für oder gegen die Abgabe souveräner Rechte, für oder gegen eine einheitliche europäische Währung -entscheiden sich die Befragten durchaus nicht immer pro Europa.
Dieses „Gesetz der abnehmenden Abstraktion“ belegt einmal mehr, daß Meinungsumfragen sorgfältig interpretiert und nicht einfach für „bare Münze“ genommen werden können. Lange hat die Einstellungsforschung ein recht rosiges Bild von den Bevölkerungsorientierungen gegenüber der Europäischen Gemeinschaft gezeichnet Um so mehr überraschte der Einbruch nach 1991 die Brüsseler Elite. Nach unserer Überzeugung war aber der Euro-Optimismus vor Maastricht ebenso überzeichnet wie der Pessimismus heute. Viele Bürger Westeuropas mögen eine desinteressiert positive Haltung zum Einigungsprozeß aufweisen, von dem sie sich in ihrem Alltag nicht betroffen sehen. Dies ändert sich jedoch schlagartig, wenn sie persönlich betroffen sind. Dann erweisen sich EU-Angelegenheiten plötzlich als politisier-und mobilisierbar.
In fast allen Ländern stehen „politische Unternehmer bereit, um aus möglichen Anti-EU-Einstellungen politisches Kapital zu schlagen. Auch innerhalb mehrerer europäischer Großparteien gärt es. Selbst in der deutschen Christ-und Sozialdemokratie, die sich lange durch entschieden pro-europäische Geschlossenheit auszeichneten, suchen sich einzelne Führungskräfte gegen die EU zu profilieren. Hier rächt sich, daß nationale Politiker gerne „Brüssel“ verantwortlich machen, wenn sie unpopuläre Maßnahmen ergreifen müssen. Sie können dieses Schwarze-Peter-Spiel relativ ungestört spielen, weil wichtige Grundvoraussetzungen effektiver politischer Kommunikation auf der europäischen Ebene fehlen. So gilt die erwähnte Funktion demokratischer Wahlen und Wahlkämpfe, gesellschaftspolitische Alternativen folgewirksam zu bündeln und deutlich sichtbar zur Abstimmung zu stellen, ausgerechnet für die Wahl zum Europäischen Parlament nur eingeschränkt. Zwar wird im Maastrichter Vertrag (Artikel 138 a EGV) erstmals auf die politischen Parteien als Bindeglied zwischen den Bürgern und der Union Bezug genommen. Doch von einer solchen Realität sind wir noch weit entfernt. Die dazu notwendigen „europäischen“ Parteien, d. h. landesübergreifende Parteienzusammenschlüsse, die europäische Themen artikulieren, gibt es allenfalls erst in Ansätzen. Eine Zuordnung von Abgeordneten und Wähler-auftrag ist kaum erkennbar. Selbst der Wahlkampf zum Europaparlament wird überwiegend von jeweiligen nationalen Themen bestimmt und bietet dem Wähler damit keine Möglichkeit, über verschiedene Visionen von Europa zu entscheiden.
Dieser Zustand ist für die nationalen politischen Eliten zwar bequem, weil er ihnen hilft, Kontroversen über Europa zu vermeiden, die ihre Geschlossenheit auf die Probe stellen könnten. Erträgt aber auch entscheidend zum demokratischen Defizit der EU und damit zum Unmut über Europa bei Der aktuelle Streit um Europa stellt -in demokratietheoretischer Hinsicht -für die Europäische Union sogar einen wünschenswerten Klärungsprozeß dar. Letztlich kann sich erst unter dem Druck einer breit und kontrovers geführten Debatte zeigen, ob die Zustimmung der Bevölkerung zur EU einer „Schönwetter-Veranstaltung“ gleicht, die fast ausschließlich von wirtschaftlichen Erwägungen abhängt. Doch lassen sich bereits jetzt die Chancen andeutungsweise ausloten, die die EU bei dieser Auseinandersetzung hat.
III. Europa jenseits des Nutzenprinzips?
Abbildung 3
Tabelle 1: Vorbehalte gegenüber der europäischen Integration (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 44 (Dezember 1995)
Tabelle 1: Vorbehalte gegenüber der europäischen Integration (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 44 (Dezember 1995)
Der Zusammenhang von materieller Leistungsfähigkeit und Akzeptanz politischer Systeme wird in der vergleichenden Sozialwissenschaft u. a. im Rahmen der „politischen Kultur“ untersucht. Dieses Konzept geht davon aus, daß jedes politische System in ein Muster ganz bestimmter Orientierungen für das politische Handeln eingebettet ist Dies sind Konventionen und Normen im Verhältnis von Individuum und politischer Ordnung, die weitgehend unabhängig von der Ebene institutioneller und rechtlicher Regulierungen sind. Für die Zukunft dieses Systems ist insbesondere wichtig, ob die Zustimmung zur Herrschaftsordnung über die Erfüllung materieller Erwartungen hinausgeht; das Scheitern der Weimarer Republik steht hier als Menetekel
Hier geht es nicht darum, welche ökonomischen Erwartungen zu Recht oder zu Unrecht an „Brüssel“ adressiert werden. Daß die Integration Europas nicht zuletzt ein wirtschaftliches Unternehmen ist, an das vornehmlich wirtschaftliche Erwartungen gerichtet werden, steht außer Frage. Dies gilt gleichermaßen für die Selbsteinschätzung der EU wie für Fremdzuschreibungen. Gerne lobt sich die EU als Motor wirtschaftlicher Entwicklung. Dem Binnenmarktprojekt wurde durch beinahe euphorische Hoffnungen auf einen ökonomischen Aufschwung Schubkraft verliehen; und als 1994 die Volksabstimmungen in Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen anstanden, wurde den Beitrittskandidaten signalisiert, daß nur ihr Beitritt weiteren wirtschaftlichen Erfolg garantieren könne
Auch von außen wird die EU an der Elle wirtschaftlicher Erfolge oder Mißerfolge gemessen. Dies gilt auf verschiedenen Ebenen gleichermaßen: So variiert das Interesse, das die amerikanische Öffentlichkeit der EU entgegenbringt, mit dem Ausmaß, in dem sie die EU als wirtschaftlichen Konkurrenten ernstnimmt. Umgekehrt haben auf der landespolitischen Bühne jüngst die Ministerpräsidenten Schröder (Niedersachsen) und Biedenkopf (Sachsen) behauptet, ihr Einsatz zugunsten ihrer Bundesländer werde durch ungebührliche Wirtschaftskompetenzen Brüssels gebremst.
Die Frage -insbesondere für die Befürworter der Union -ist deshalb, welche anderen, nichtutilitaristischen Faktoren an einer positiven Wertschätzung der EU seitens ihrer Bürger mitwirken. Im folgenden werden wir eingehend verschiedene Dimensionen der Unterstützung der EU durch die Bürger untersuchen. Insbesondere versuchen wir abzuwägen, inwiefern sich das Gefühl einer europäischen „Identität“ bereits unter EU-Bürgern entwickelt hat, und falls dies der Fall ist, wie stark dieses ist. Zunächst aber erörtern wir indirekte Indikatoren von Unterstützung für das „europäische Projekt“.
Im Eurobarometer 1990 wurde gefragt, wie sehr die Europäer an EG/EU-im Vergleich zu nationalen Angelegenheiten interessiert sind. Im allgemeinen ist das Interesse an EG/EU-Themen mäßig: Gerade etwas über die Hälfte der befragten Personen sind allenfalls „ein wenig“ interessiert. Es ist im Durchschnitt allerdings nicht niedriger als das Interesse an den nationalen Themen, und in Ländern wie Frankreich und Italien finden EU-Angelegenheiten sogar mehr Aufmerksamkeit als nationale. Noch wichtiger ist, daß das Interesse für die EU sich in den letzten zwanzig Jahren nahezu verdoppelt ist mit Unter Sicher, Interesse nicht -stützung gleichzusetzen, mag sogar Ausdruck einerProtesthaltung sein. Interesse ist aber sicherlich ein möglicher Weg zu aktiver Unterstützung. Wie unsere (hier nicht wiedergegebenen) Analysen zeigen, sind interessierte Bürger besser informiert, was durchaus zu mehr Unterstützung führen kann. Zumindest beim Maastrichter Vertrag kann vermutet werden, daß Widerstand gegen diesen Vertrag teilweise auf Unwissenheit gründet. 80 Prozent der Befragten geben zu, „wenig oder nichts“ über den Vertrag zu wissen, dennoch hat nur ein Drittel „keine Meinung“.
In den frühen siebziger Jahren führten Lindberg und Scheingold den Begriff des „permissiven Konsenses“ in das EU-Vokabular ein Damit ist eine stillschweigende, nicht explizite oder gar enthusiastische Zustimmung gemeint, von der die europäischen politischen Eliten beim Aufbau der EG/EU-Institutionen ausgehen konnten. Diese Unterstützung war passiv, d. h., sie nahm die Integration hin und erlaubte ihr, sich zumindest so lange fortzuentwickeln, wie sie die nationalen Belange und Interessengruppen nicht ernsthaft gefährdete. Dies wurde ohnehin für unwahrscheinlich gehalten, da zunächst die Integration in erster Linie eine „negative“ war, die sich mit der Abschaffung diverser Handelsbarrieren, nicht aber mit dem Aufbau suprastaatlicher Kompetenzen beschäftigte.
Ein möglicher Hinweis auf das Fortbestehen des „permissiven Konsenses“ ist das geringe Vorkommen entschieden anti-europäischer Einstellungen. Lediglich 15 Prozent der Europäer bewerten die Zugehörigkeit ihres Landes zur EG/EU als eine „schlechte Sache“ (Tabelle 1). Sogar bei den euro-skeptischen Dänen und Briten sind es nur ein Viertel. Das ist um so bemerkenswerter, als mehr als ein Drittel der Europäer nicht mehr glauben, die EU nütze ihrem Land! Mit anderen Worten: Viele Europäer sind bereit, mit und in der EU zu leben, obwohl sie sie als nachteilig für eine ihr Land ansehen. Dies sollte als ein Beleg für eine „diffuse“ Unterstützung angesehen werden -eine Zustimmung die so allgemein ist, daß sie von der konkreten Wirtschaftslage unabhängig ist. Ähnlich verhält es sich mit der Einstellung zum Binnenmarkt. Während im Herbst 1993 29 Prozent das Gefühl hatten, der Einheitliche Markt sei schädlich für ihr eigenes Land, und ihn sogar 37 Prozent persönlich fürchteten, hielten ihn dennochnur 12 Prozent für eine explizit „schlechte Sache“. Im Herbst 1995 war die Zahl derjenigen, die dem Binnenmarkt hauptsächlich mit Furcht begegnen, leicht auf 32 Prozent zurückgegangen. Gleiches gilt für den Maastrichter Vertrag: Von denjenigen, die gegen ihn sind -das ist ein gutes Fünftel, knapp die Hälfte ist dafür -ist weniger als ein Viertel „euro-negativ“ eingestellt; von den in dieser Frage Neutralen oder Gleichgültigen -wie gesagt: ein Drittel -sind es weniger als 5 Prozent (Abbildung 2). Erneut bleibt nur ein kleiner Anteil an „hartgesottenen“ Anti-Europäern übrig: weniger als 10 Prozent. Auch so gesehen scheint der „permissive Konsens“ zu halten.
Viel wurde über das demokratische Defizit der EU gesprochen und geschrieben. Dies spiegelt sich in Tabelle 2: Nahezu die Hälfte der Befragten waren 1995 enttäuscht über die Demokratie in der EU; dies ist mehr als die Zahl der Zufriedenen. Allerdings ist ein noch höherer Prozentsatz mit der Demokratie im eigenen Land unzufrieden. Hier gab es zu Beginn der neunziger Jahre einen deutlichen Einbruch. Auch ist das Vertrauen in das jeweilige nationale Parlament nur unwesentlich geringer, das Mißtrauen sogar noch etwas größer (nämlich 32 Prozent), als in die Institutionen der EU (vgl. Tabelle 1). Bei diesen Urteilen mögen unterschiedliche Maßstäbe und Erwartungen eine Rolle spielen aber dessen ungeachtet läßt sich hieraus kein Beleg für eine extreme oder ungewöhnliche Unzufriedenheit mit europäischen Institutionen ableiten. Auf der anderen Seite deckt Tabelle 2 einen viel eher beunruhigenden Sachverhalt auf: Nahezu drei Viertel der Befragten glauben, daß der „demokratische Einfluß“ der Bürger auf die EU-Entscheidungen unzulänglich ist. Aber aus der Perspektive der europäischen Integration könnte man diesen Befund auch durchaus positiv bewerten -zeigt er doch eine Bevölkerung, die sich mit der EU auseinandersetzt und mehr Einfluß in deren Entscheidungsabläufe verlangt.
Drei weitere Beweise, die auf eine „diffuse“ Zustimmung hindeuten, seien angefügt. Tabelle 2 zeigt, daß nur 22 Prozent der Befragten meinen, den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes müßte nicht Folge geleistet werden. In keinem einzigen Land sind das mehr als 30 Prozent, und in jedem Land befindet sich diese Position, selbst wenn man die Meinungslosen hinzuzählt, in der Minderheit. Dies ist nicht nur im gegenwärtigen Streit um die Subventionen Sachsens an VW von besonderem Interesse, da kaum angenommen werden kann, daß der Europäische Gerichtshof in der anhängigen Entscheidung der Rechtsauffassung der sächsischen Staatsregierung folgen wird. Es ist ja ein Kernsatz demokratischer Verfahrensweise -und ein Schlüssel für Systemlegitimität -, daß ihren Institutionen Folge geleistet wird, auch wenn keine Übereinstimmung mit ihren Entscheidungen besteht. Jeder, der sich mit der EG/EU befaßt, weiß um die kontroverse Natur vieler Entscheide des Europäischen Gerichtshofs der letzten Jahre. Tatsächlich wurde der Europäische Gerichtshof zu einer zentralen Institution bei der Europäischen Integration Auch von daher mag überraschen, daß relativ wenige Befragte den Willen oder den Wunsch äußern, sich seinen Entscheidungen zu widersetzen. Tabelle 3 bezieht sich auf das Europäische Parlament -eine Institution, die in den letzten Jahren besonders im Zusammenhang mit dem „demokratischen Defizit“ diskutiert wurde. Nicht nur, daß eine Mehrheit der Befragten diese Institution -fälschlicherweise vielleicht -als „bedeutend“ ansieht. Wichtiger noch ist, daß die Hälfte der Befragten ihren Einfluß erweitert haben möchte. Dies mag als Hinweis für ein durchaus vorhandenes Potential angesehen werden, die EU-Institution zu stärken und auf diese Weise die supranationale Integration weiter voranzutreiben. Unterstützt wird diese Interpretation von der Kluft zwischen der „bestehenden“ und der „gewünschten“ Geschwindigkeit der Integration. Allerdings hat sich diese Kluft unlängst vermindert -und zwar von Seiten der gewollten Geschwindigkeit her.
Trotz dieser Puzzlestücke waren bislang unsere Belege für „diffuse“ Unterstützung weitgehend indirekt und vage. Glücklicherweise enthält das Eurobarometer auch einige Indikatoren, die eine direktere Einschätzung des Ausmaßes einer solchen Unterstützung und -noch spezieller -des Ausmaßes einer europäischen Identität zulassen. Wie die Ergebnisse des Eurobarometer 38 (Herbst 1992) deutlich zeigen, fühlt sich bis heute nur eine eher kleine Minderheit der „De-jure“ -Europäer auch im psychologischen Sinne als „Europäer“. Während immerhin eine Mehrheit die europäische Staatsbürgerschaft für eine „gute Sache“ hält, nehmen sich nur 15 Prozent häufiger als „Europäer“ wahr -gegenüber 51 Prozent, die „niemals“ so empfinden. Gleichermaßen fühlen sich nur 12 Prozent „stark“ mit Europa oder der EU verbunden; nur 3 Prozent erwarten in Zukunft eine exklusive europäische Staatsbürgerschaft; 24 Prozent sind stolz auf die europäische Flagge, und 19 Prozent sind stolz auf Sportmannschaften anderer EU-Länder.
Diese Prozentangaben decken sicherlich keine umwerfende Empfänglichkeit für eine europäische Identität auf, die auf irgendeine Weise der nationalen -oder lokalen bzw. regionalen -Identität Konkurrenz machen könnte. Daran wird sich auch so schnell nichts ändern. Wenn sie sich entscheiden müssen, erwarten auch 1995 nur 5 Prozent der Europäer, daß sie sich in naher Zukunft „nur als Europäer oder Europäerin sehen werden“ (s. Abbildung 3). Eine Ausnahme ist verständlicherweise Luxemburg, denn dort beträgt der Anteil an EU-Ausländern an der Wohnbevölkerung 29 Prozent. Aber es wäre auch falsch, die verschiedenen Identitäten als einander ausschließend betrachten zu wollen So urteilen auch die meisten Befragten nicht. Nahezu die Hälfte sieht in der EU einen Beschützer ihrer nationalen Identität; beinahe zwei Drittel machen keinen Konflikt zwischen EU-und nationaler Identität aus, und eine Mehrheit erwartet, daß beide Identitäten in Zukunft koexistieren.
Im Anschluß an Tabelle 4 läßt sich das europäische Identitätskonzept noch eingehender analysieren. Dazu ist ein kurzer Rückgriff auf die Theorie der „kognitiven Mobilisierung“ erforderlich. Ronald Inglehart hatte Anfang der siebziger Jahre die sicherlich nicht neue These aufgestellt, daß es gebildeten und geistig beweglichen Personen leichter fällt, sich auf weit entfernte und wenig gegenständliche Institutionen einzustellen und eine kosmopolitische Blickrichtung zu entwickeln „Kognitive Mobilisierung“ meint hier vor allem die erhöhte Fähigkeit zu politischem Handeln. Sie ist in Tabelle 5 durch zwei Fragen erfaßt (die zu einem vierstufigen Indikator verbunden wurden): die nach der Häufigkeit politischer Diskussionen mit Freunden und Familienmitgliedern sowie nach dem Willen, andere von seiner politischen Meinung zu überzeugen.
Die EU stellt sicherlich eine -in doppelter Hinsicht -„weit entfernte“ Institution dar. KognitivenFaktoren, insbesondere der „kognitiven Mobilisierung“, sollte daher eine große Rolle bei der Entwicklung der europäischen Identität zukommen. Außerdem sind die nachwachsenden Generationen im Durchschnitt besser ausgebildet als ihre Elterngeneration und sollten von daher der EU positiver gegenüberstehen als diese.
Unsere Auswertungen stimmen zunächst mit dieser Hypothese überein. Wie in Tabelle 5 zu sehen ist, fühlen sich anteilsmäßig Akademiker doppelt so häufig „europäisch“ als Personen mit niedrigerformaler Bildung. Die Beziehung mit der kognitiven Mobilisierung ist sogar noch stärker. Eine klare Minderheit der „hoch Mobilisierten“ empfindet sich „niemals“ als Europäer; bei den „niedrig Mobilisierten“ ist das eine Zweidrittelmehrheit. Überdies sollte man nach Ingleharts Argumentation aber auch einen stark negativen Zusammenhang zwischen Alter und europäischer Identität erwarten; schließlich haben sich die Ausbildungsmöglichkeiten in den letzten 40 Jahren in Europa stark verbessert. Tabelle 5 entspricht jedoch nicht dieser Erwartung. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen sind gering.
Dies zieht die Annahme in Zweifel, europäische Identität werde primär durch die unterschiedliche Sozialisation in der Generationenabfolge hervorgerufen. Sie scheint sich mehr auf konkrete (und positive) Lebenserfahrungen „mit Europa“ zu beziehen. Von daher könnte man vermuten, daß sich zwar -wie unsere Daten belegen -eine starke europäische Identität noch nicht herausgebildet hat, dies aber in Zukunft durchaus möglich ist, und zwar dann, wenn europäische Institutionen und der Umgang mit ihnen mehr und mehr geläufig werden. Überdies wird eine solche europäische Identität eher komplementär als konträr zur nationalen Identität sein. Alles in allem deutet vieles darauf hin, daß nicht nur der „permissive Konsens“ fortbesteht, sondern auch Elemente diffuser Unterstützung hinzugekommen sind. Mit anderen Worten: Eine Mehrheit der EU-Bürger billigt nicht nur die Integrationsschritte ihrer Politiker, sondern begrüßt und -in einigen wenigen Teilbereichen -fordert sie sogar.
IV. Auf dem Weg zu einer europäischen Identität?
Abbildung 4
Tabelle 2: Demokratie in Europa (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 42 (Dezember 1994) und Euro-barometer 38 (Herbst 1992) (die letzten beiden Fragen).
Tabelle 2: Demokratie in Europa (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 42 (Dezember 1994) und Euro-barometer 38 (Herbst 1992) (die letzten beiden Fragen).
Was könnte die Basis einer europäischen Identität sein, sollte sich eine solche je herausbilden? Tabelle 6 gibt einen ersten Versuch wieder, das Ausmaß gemeinsamer Werte unter Europäern zu untersuchen. Hervorzuheben ist zunächst, wie sehr sie den Glauben an die Demokratie teilen. Eine beträchtliche Mehrheit in jedem Land unterstützt die Aussage, daß „Demokratie immer das beste politische System ist“. Ähnlich viele unterstützen Grundrechte wie Meinungs-und Religionsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und sogar Eigentumsrechte, Informationsfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Nur bei dem kontroversen Thema Asyl besteht ein Konsensdefizit. Besonders diejenigen Länder, die der Wucht der letzten Flüchtlings-und Einwanderungswellen ganz besonders ausgesetzt waren, sind wenig geneigt, weitere zu akzeptieren. Doch auch sie wollen mehrheitlich Ausländer-rechte nicht weiter einschränken.
EU-Bürger trauen einander mehr als anderen Nationen (mit Ausnahme von Schweizern und Amerikanern, denen sie gleich stark vertrauen). Ferner treten sie für Umweltschutz sowie für denWohlfahrtsstaat ein, wie er sich im Recht auf Arbeit und in der europäischen Sozialcharta ausdrückt. Die sozialstaatliche Ausrichtung stellt eine durchaus europäische Besonderheit dar und hat zu Überlegungen geführt, ob es so etwas wie eine „europäische“, stärker sozial gebundene Form des Kapitalismus geben könnte.
Wenn auch das hierzu vorhandene Datenmaterial nicht erschöpfend ist, so scheint es doch europäisch geteilte Wertschätzungen zu geben, auf denen eine stärker gemeinschaftliche Politik aufbauen könnte. Das heißt übrigens nicht, die „nationalen Gefühlshaushalte“ in den westeuropäischen Ländern stimmten überein. Aus vergleichenden Wertestudien -wie etwa der European Value Study, die 1981 durchgeführt und zehn Jahre später wiederholt wurde -wissen wir, daß das nicht der Fall ist. Einstellungen zur Arbeit, Familie, zur angemessenen Rolle im öffentlichen Leben und zu geistlichen Fragen fallen national manches Mal recht unterschiedlich aus Dennoch lassen sich annähernd identische Auffassungen in wichtigen Wirtschaftsfragen und hinsichtlich der Rolle des Gemeinwesens erkennen, auf denen eine gemeinschaftliche Politik verstärkt aufbauen könnte.
Wie könnte eine solche Politik aussehen? Abbildung 4 wirft etwas Licht auf diese Frage. Im Euro-barometer werden regelmäßig nicht nur allgemeine Einstellungen zu einzelnen politischen Problemen abgefragt, sondern auch, ob die EU eine stärkere Rolle bei ihrer Lösung einnehmen sollte. Was aus diesen Daten hervorgeht, ist recht deutlich: Es gibt Unterstützung für eine stärkere Beteiligung der EU in einer Vielzahl von Bereichen. Das sind zum einem solche, bei denen regierungsübergreifende -intergouvernementale oder sogar supranationale -Abmachungen einen unmittelbar praktischen Sinn haben. Darunter fällt ein höheres Gesamtgewicht Europas durch eine gemeinsame Außenpolitik, Einsparungen durch das Zusammenfassen von Ressourcen in der Verteidigungs-und Sicherheitspolitik sowie mehr Effizienz durch eine größere Zusammenarbeit etwa beim Umweltschutz oder dem Schutz der Menschenrechte. Zum anderen wird eine stärkere Rolle der EU auch in solchen Gebieten gewünscht, in denen es wenig oder keine Interessenskonflikte zwischen den Mitgliedern gibt. Diesumfaßt etwa die Bereiche Drogenbekämpfung, Kriminalität, Entwicklungspolitik und Forschung.
Auf der anderen Seite gibt es Bereiche mit einem beträchtlichen Konfliktpotential. Differenzen in politischen Prioritäten oder, noch wichtiger, in speziellen Wertschätzungen oder konkreten wirtschaftlichen Interessen bestehen auf den Feldern der Subventions-, Wirtschafts-und Sozialpolitik. Auch die Frage der einheitlichen Währung spaltet die Europäer. Das gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen halten sich zahlenmäßig europaweit Gegner und Verfechter ziemlich die Waage (mit einem leichten Übergewicht zugunsten der Befürworter). Zum anderen stellen sich die Hartwährungsländer -Deutschland, Großbritannien, Dänemark -eher gegen den Euro, während die Länder mit weicheren Währungen, allen voran Italien und Griechenland, dafür sind.
Doch ist die Währung keineswegs der Bereich, in dem die Beschränkung nationaler Kompetenzen auf den stärksten Widerstand stößt. Es gibt ganze Politikfelder, in denen eine klare Mehrheit eine europäische Vergemeinschaftung nicht wünscht. Dazu gehört das Gebiet der Kultur, der Medien, der Bildung und Erziehung. Bereiche der Überein-stimmung finden offenbar ihre Grenze dort, wo sie an national unterschiedliche Mentalitäten stoßen
V. Schlußbemerkungen
Abbildung 5
Tabelle 3: Die Rolle des Europarlaments (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992).
Tabelle 3: Die Rolle des Europarlaments (in Prozent) Quelle: Eurobarometer 38 (Herbst 1992).
Insgesamt gesehen, finden die europäische Einigung und die Europäische Union breite Zustimmung. Diese Zustimmung ist jedoch sehr global, und es stellt sich daher die Frage, wie robust sie ist. Es verhieße für die Zukunft der Europäischen Union nichts Gutes, sollte die Zustimmung der Bevölkerung nur einer „Schönwetter-Veranstaltung“ gleichen, die fast ausschließlich von wirtschaftlichen Erwägungen abhängt.
Nun gibt es tatsächlich Anzeichen für ein gewisses „mentales“ Potential zur weiteren Integration der Europäischen Union, einschließlich Ansätzen zur Entwicklung einer gemeinsamen Identität. Diese Identität, die der diffusen Unterstützung für das politische System der EU zugute kommt, kann zudem von einem zwar vagen, aber ansatzweise doch vorhandenen, historisch gewachsenen Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer profitieren Doch diese Feststellung muß sogleich eingeschränkt werden. Häufig folgen die Einstellungen der EU-Bürger einer Leitlinie, die weniger der Vision der Gründungsväter vom Schlage Monnets, Schumans, de Gasperis oder Adenauers gleicht, sondern Europa als „Versicherungs-und Schutz-modell" sieht, gerichtet beispielsweise gegen unerwünschte Wanderungsströme und gegen den drohenden wirtschaftlichen Abstieg Europas.
Gegenüber eher idealistischen Visionen der europäischen Idee fällt diese Grundhaltung natürlich ab, doch muß ihr utilitaristischer Grundzug einer sich vertiefenden EU-Identität nicht im Wege stehen. Dies ist eher eine Frage der Zeit oder vielmehr eine Frage des Zeithorizonts der beteiligten Akteure Je länger die EU besteht, je stärker die Binnenverflechtung zunimmt, je mehr sich ihre Gesellschaften einander annähern, desto weniger werden die Nützlichkeitserwägungen ihrer einzelnen Mitglieder einander entgegenstehen. Dann ist man im Vertrauen auf zukünftige Erlöse bereit, selbst jene Bereiche mitzutragen, in denen wirtschaftliche Opfer mit undeutlichen oder geringen Vorteilen einhergehen. Auch unter Nützlichkeitserwägungen betrachtet, bildet sich so etwas wie eine „Schicksalsgemeinschaft“ heraus.
Etwas spekulativ und zugegebenermaßen von unseren hier angeführten Daten nicht gedeckt könnte man folgende Abfolge in der öffentlichen Meinung Europas vermuten: Zunächst, wenn man die vorübergehende Anfangsbegeisterung der Nachkriegsjahre außer acht läßt, war die grundlegende Einstellung zur Europäischen Gemeinschaft vom „permissiven Konsens“ gekennzeichnet. Mit wachsenden Gemeinschaftsaufgaben traten verstärkt nutzenorientierte Motive hinzu. Die Palette gemeinsamer Aufgaben nahm zu, doch mußten diese immer wieder konkret auf ihren Nutzen für die einzelnen Staaten und ihre Bevölkerungsgruppen befragt werden. Heute, so unsere These, stehen wir trotz der derzeitigen Schwierigkeiten am Übergang zur „diffusen“, allgemeineren Unterstützung. Sonst wäre es eigentlich verwunderlich, daß nach „vierzig Jahren demokratischen Defi-zits" und nach einem Vertrag, der die extrem geringe Transparenz des politischen Systems der EU nicht gerade verbessert hat, sich ihr weiterhin fast die Hälfte der Bevölkerung „sehr“ oder „ziemlich verbunden“ fühlt.
Auch aus der Perspektive der politischen Kultur-forschung muß man für die Zukunft der EU nicht schwarzsehen, wenn das potentielle Reservoir an Zustimmung zu vermehrt integrierenden Maßnahmen in der EU überwiegend in der Form utilitaristischer Unterstützung besteht. Gerade die Bundesrepublik selbst ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie eine institutioneile Ausgestaltung politisch-kulturell „greifen“ kann, wenn sie von glücklichen Umständen unterstützt und begleitet wird. Ein solcher günstiger Umstand dürfte u. a. auch im offensichtlichen Mangel an politischen Alternativen zur EU bestehen. Die EU wird, selbst in Großbritannien und Dänemark, als Faktum betrachtet, mit dem auch in Zukunft zu rechnen ist. Die Zeit arbeitet wenn nicht für die EU, so doch für ihre Legitimität: Mit dem Alter eines politischen Systems wachsen auch, statistisch gesehen, seine künftigen Überlebenschancen
Stefan Immerfall, Dr. phil. habil., geb. 1958; Hochschulassistent am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Passau; Gastprofessur an der University of North Carolina, Chapel Hill. Veröffentlichungen u. a.: Territorium und Wahlverhalten, Opladen 1992; Einführung in den europäischen Gesellschaftsvergleich, Passau 19952; Das Kapital des Vertrauens. Über soziale Grundlagen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, in: Gegenwartskunde, (1996) 4; Zwischen Deregulierung und Reorganisation: Zur Entwicklung der Industriellen Beziehungen in Europa, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, (1997) 1; Territoriality in the Global Society, Berlin 1997 (i. E.). Andreas Sobisch, Ph. D., geb. 1959; Assist. Professor an der John Carroll University, Cleveland, Ohio. Veröffentlichungen u. a.: (zus. m. David W. Patterson) Materialism, social values, and attitudes towards European Integration, in: History of European Ideas, (1994) 1-3; Developing European Citizens, Sheffield 1997 (i. E.).