Wer sind die Deutschen? Nationalismus, Patriotismus, Identität -Ergebnisse einer empirischen Längsschnittstudie
Thomas Blank
/ 22 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Dieser Beitrag verfolgt zwei Ziele: Zunächst werden die im Rahmen der deutschen Identitätsdebatte häufig verwendeten Begriffe „Nation“, „Nationalbewußtsein“, „Identität“, „Nationalismus“ und „Patriotismus“ theoretisch systematisch unterschieden und zu empirischen Daten aus einer aktuellen Studie in Beziehung gesetzt. Dabei zeigt sich, (1) daß die Befragten unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wer die Angehörigen der deutschen Nation sein sollten; (2) daß die Befragten zwischen einem Zugehörigkeitsbewußtsein als formaler Denkkategorie und einer subjektiven Identifikation mit der heutigen Bundesrepublik unterscheiden, und (3) daß zwischen Nationalismus und Patriotismus als unterschiedlichen Formen nationsbejahender Einstellungen empirisch unterschieden werden kann. Im zweiten Teil wird empirisch der Frage nachgegangen, ob nationale Identität zwangsläufig zu Antisemitismus und Fremdgruppenabwertung führt. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, daß die subjektive Identifikation mit Deutschland eine Ursache für die Ausbildung nationalistischer bzw. patriotischer Einstellungen ist. Weiter wird gezeigt, daß der Patriotismus als spezifische Form nationaler Identität die Toleranz gegenüber Fremdgruppen und Minderheiten fördert. Im Gegensatz dazu ist der Nationalismus als eine Ursache für Fremdgruppenabwertung und Antisemitismus zu betrachten. Überwiegend weisen die Befragten in Ost-und Westdeutschland eine eher patriotische Einstellung auf. Es wird deutlich, daß die bloße Identifikation mit Deutschland keine direkte Ursache für Fremdgruppenabwertung und Antisemitismus ist.
I. Einleitung und Überblick
„Was ist heute deutsch?“ Dies ist eine Frage, die seit der Wiedervereinigung 1990 besonders an Stellenwert und Aktualität gewonnen hat. In diesem Zusammenhang wurden und werden eine Vielzahl von Facetten des deutschen Selbstverständnisses wieder neu diskutiert: Fragen der Verfassungsgebung ebenso wie Fragen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenwachsens. Die Diskussion um den Umgang mit der SED-Vergangenheit knüpft an die Probleme der Aufarbeitung des Nationalsozialismus an. Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang von der „Last der doppelten Vergangenheit“ Im Ausland wurden durch die Vereinigung Ängste vor einem neuen großdeutschen Reich wach Neben diesen vereinigungsbedingten Gründen spielt aber auch der zeitlich zur Wiedervereinigung parallel verlaufene Zustrom von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen und die Zunahme fremden-feindlicher Anschläge eine wichtige Rolle für die Identitätsdebatte. Die Diskussion um das Staatsangehörigkeitsrecht und die doppelte Staatsbürgerschaft ist nicht nur eine Diskussion um Zuwanderungsbegrenzung, sondern implizit auch eine Diskussion um das eigene nationale Selbstverständnis. Die Debatte um die nationale Identität der Deutschen ist in erster Linie eine theoretisch-normative. Die in dieser Debatte vertretenen Positionen können schlagwortartig mit zwei Begriffen zusammengefaßt werden: selbstbewußte Nation versus multikulturelle Gesellschaft Die selbstbewußte Nation wird als eine Gesellschaft gesehen, die gegen die Idee der multikulturellen Gesellschaft und die Schuldgefühle über Holocaust und Zweiten Weltkrieg verteidigt werden sollte. Statt dessen müsse Deutschland eine selbstbewußte Nation werden, welche die durch den Niedergang des Kommunismus und das Ende der früheren Sowjetunion veränderten politischen Einflußmöglichkeiten nutzen sollte Die Gegner dieser Ansicht sprechen sich für eine multikulturelle Gesellschaft aus, in der Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Religion zusammen leben, die aber gemeinsame kulturelle Werte teilen
Abbildung 21
Abbildung: Wirkungsbeziehungen zwischen Identifikation, Nationalstolz und Einstellungen zu Fremdgruppen und Minderheiten Quelle: Eigene Darstellung.
Abbildung: Wirkungsbeziehungen zwischen Identifikation, Nationalstolz und Einstellungen zu Fremdgruppen und Minderheiten Quelle: Eigene Darstellung.
Diese Diskussion wirft eine Reihe von zentralen Fragen auf. Was ist unter dem Begriff „Nation“ eigentlich zu verstehen? Wer gehört dazu und wer nicht? Im wissenschaftlichen Diskurs herrscht keine Einigkeit darüber, wie der Nationsbegriff zu definieren ist und welche Unterschiede zwischen Nation und politischem Staat bestehen. Weiterhin ist zu fragen, was unter den in dieser Debatte verwendeten Begriffen Nationalismus oder Patriotismus zu verstehen ist. Können diese Begriffe gleichgesetzt werden oder nicht? Auch ist unklar, was man sich unter Begriffen wie Identität und Identifikation vorzustellen hat.
Wieder ein anderer Fragenkomplex beschäftigt sich damit, wie sich das Verhältnis von Individuum und Nation darstellt. Welche Vorstellungen haben die Deutschen von ihrer Nation? Wie sehr identifizieren sie sich mit ihrer Nation? Und welche Unterschiede bestehen zwischen den alten und den neuen Bundesländern?
Auf, viele dieser Fragen kann theoretisch keine ausreichende Antwort gegeben werden. Vorliegende Befunde der Umfrageforschung sind lükkenhaft und teilweise atheoretisch, weil es bisher wenig etablierte Frageinstrumente gibt, die diese Problematik adäquat erfassen. Bisher am häufigsten wurde zur Messung nationaler Identität die Frage: „Wie stolz sind Sie darauf, Bürger/in der Bundesrepublik zu sein?“ verwendet. Danach sind ungefähr drei Viertel der Westdeutschen unbe-dingt oder überwiegend stolz darauf, Deutsche zu sein. Allerdings ist der Anteil derjenigen, die überwiegend stolz sind, deutlich größer als der Anteil derjenigen, die unbedingt stolz sind. Im internationalen Vergleich fällt der Nationalstolz der Deutschen eher gering aus Diese Befunde werden mit dem aus der deutschen Niederlage 1945 resultierenden Minderwertigkeitsgefühl erklärt. Es wird befürchtet, daß dieser relativ geringe Nationalstolz der Deutschen langfristig zur Instabilität Deutschlands führe In einer früheren Untersuchung konnten wir aber bereits zeigen, daß der Stolz darauf, „Deutscher zu sein“, positiv mit Fremden-feindlichkeit und Antisemitismus verknüpft sein kann und deshalb nur eine Facette nationaler Identität beschreibt
In einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Längsschnittstudie haben wir versucht, diesen Fragen nachzugehen Die folgenden theoretischen Überlegungen sollen deshalb mit empirischen Befunden aus dieser Studie verknüpft werden. Dazu wurden 1993 1 357 Erwachsene repräsentativ für die in der Bundesrepublik lebenden deutschen Staatsbürger erstmalig befragt. Die erste Wiederbefragung fand 1995 und die zweite Wiederbefragung Ende 1996 statt
II. Die Deutschen: Eine Nation?
Abbildung 16
Tabelle 2: Wie sehr fühlen Sie sich als Bürger(in) der heutigen Bundesrepublik? (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Tabelle 2: Wie sehr fühlen Sie sich als Bürger(in) der heutigen Bundesrepublik? (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Theoretisch kann man zwischen objektivistischen und subjektivistischen Nationsdefinitionen unterscheiden. Objektivistische Definitionen beschreiben die Nation als Abstammungs-, als Kultur-oder als Staatsbürgernation Die Abstammungsnation (oder das Volk) definiert sich über die ethnische Herkunft. Bei der Staatsbürgernation wird die Zugehörigkeit durch das Staatsangehörigkeitsrecht definiert. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht aber weist auch Aspekte der Abstammungsnation auf. Kriterien der Kulturnation können sein: Eine gemeinsame Sprache zu sprechen, die gleiche Religion zu haben, in Deutschland geboren zu sein oder die gleichen Traditionen zu pflegen.
Subjektivistische Nationsdefinitionen sprechen von Bewußtseins-oder Willensnation Unter der Bewußtseinsnation wird ein intersubjektiv geteiltes Bewußtsein über gemeinsame Traditionen oder gemeinsame Ziele verstanden. Das Konzept der Willensnation betont den Aspekt, sich zu Gruppen zusammenschließen und gemeinsame Ziele verfolgen zu wollen.
Alle diese Definitionen sind jedoch aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst wird empirisch ungeprüft davon ausgegangen, daß innergesellschaftlicher Konsens darüber besteht, welches die zentralen Merkmale der Nation sind. Nur unter der Voraussetzung eines solchen Konsenses existiert jedoch die Nation als soziale, von anderen unterscheidbare Gruppe. Ein weiteres Problem betrifft das Verhältnis zwischen formaler Zugehörigkeit und Identifikation. Nicht jeder, der formales Mitglied der wie auch immer definierten Nation ist, identifiziert sich auch mit ihr. Albert O. Hirschmann hat dieses Problem treffend in der Frage „Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?“ zum Ausdruck gebracht. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik und der DDR sind Beispiele dafür, daß eine geringe Identifikation mit dem Staat zu Instabilität führen kann. Wie sehr dagegen eine hohe Identifikation zur Stabilität einer Gesellschaft beitragen kann, zeigte sich an der durch die Alliierten von außen erzwungenen Kapitulation Deutschlands 1945 Es bleibt also die Frage, ob eine Nation nicht eher über das Kriterium der Identifikation als über die formal-objektive Mitgliedschaft definiert werden sollte. Das jedoch hätte weitreichende Konsequenzen. Dann würden zum Beispiel in Deutschland lebende Ausländer der zweiten oder dritten Generation auch zur deutschen Nation gehören können.
Aufgewachsen und sozialisiert in Deutschland, jedoch ohne deutsche Staatsbürgerschaft, haben viele von ihnen zu Deutschland eine Art Heimat-gefühl und damit auch eine spezifische Form der Identifikation mit Deutschland entwickelt. Auch sie tragen durch ihre gesellschaftliche Integration zur Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele bei Andererseits müßten bei einer solchen Konzeption zum Beispiel Auswanderungswillige, die auch zur Aufgabe ihrer deutschen Staatsbürgerschaft bereit sind, aufgrund ihrer geringen Identifikation mit Deutschland als nicht zur deutschen Nation gehörend eingestuft werden. Anhand dieser Überlegungen wird deutlich, daß die Nation nicht einfach zu definieren ist. Wie stellt sich nun das Problem der Nationsdefinition in den Köpfen der Bundesbürger dar? 1993 fragten wir: Welche der folgenden Voraussetzungen sollten Ihrer Meinung nach für die Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft unbedingt erfüllt sein?
In Ost-und Westdeutschland gibt es bezüglich der Kriterien „Kenntnis der deutschen Sprache“ und „lange Zeit in Deutschland gelebt zu haben“ einen großen Konsens. Große Mehrheiten sehen in diesen Merkmalen eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Implizit dürfte hier an die Notwendigkeiten innergesellschaftlicher Kommunikation gedacht sein. Im Gegensatz dazu sehen in der „Rasse“ nur etwa 10 Prozent der Befragten ein notwendiges Kriterium, verwenden also ein Nationskonzept im Sinne der Abstammungsnation.
In einer weiteren Analyse dieser Fragebatterie wurde nach Gruppen gesucht, die durch ein spezifisches Antwortmuster über diese acht Kriterien charakterisiert werden können. Es konnten drei Gruppen hinsichtlich ihres Zustimmungsprofils unterschieden werden. Die erste Gruppe (13, 8 Prozent der West-und 21, 8 Prozent der Ostdeutschen) hält alle Kriterien für wichtig und verfügt damit über ein abstammungs-und kulturorientiertes Nationskonzept. Diese Gruppe ist in Ostdeutschland deutlich größer als in Westdeutschland. Die zweite Gruppe (52, 8 Prozent der Westund 48, 1 Prozent der Ostdeutschen) lehnt die Abstammungskriterien „Rasse“ und „deutsche Abstammung“ ab, befürwortet aber kulturbezogenen Kriterien wie Sprache, Kenntnis der deutschen Kultur, einen europäischen Lebensstil und lange in Deutschland gelebt zu haben. Die dritte Gruppe (jeweils ca. ein Drittel der Befragten im Westen und im Osten) befürwortet nur die zwei eher diffusen Kriterien „Kenntnis der deutschen Sprache“ und „lange in Deutschland gelebt zu haben“. Dabei handelt es sich aber mitnichten um eine Gruppe, die keine klare Vorstellung über ihre Nation hätte, sondern diese Gruppe weist ein explizit offenes Nationsverständnis auf: Wie weitere Analysen zeigten, handelt es sich bei dieser Gruppe nicht um Personen, denen ihre nationale Zugehörigkeit unwichtig ist, sondern auch diese Gruppe identifiziert sich deutlich mit Deutschland. Die Bürger, sowohl in Osten als auch in Westen, verfügen nach diesem Ergebnis über unterschiedliche Vorstellungen darüber, wer Deutscher ist bzw. wer Deutscher sein dürfte. Es besteht unter den von uns Befragten keineswegs Einigkeit darüber, wer „deutsch“ ist. Aus diesem Grunde erscheint es aus unserer Sicht problematisch, von der nationalen Identität der Deutschen zu sprechen.
III. Nationalbewußtsein und Identifikation
Abbildung 17
Tabelle 4: Identifikation der Deutschen mit ihrer Nation (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Tabelle 4: Identifikation der Deutschen mit ihrer Nation (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, daß Nation nicht als ein abstraktes Gebilde gedacht ist, sondern mittel-und langfristig als das Handlungsergebnis von Individuen. Sie besteht -soziologisch betrachtet -aus Individuen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen zu einer Gruppe zusammenfinden, gemeinsame Handlungs-und Kommunikationsregeln vereinbaren (Nation?), Organisationsformen ausbilden (Staat) und Stellvertreter bestimmen (Regierung). Nationale Identität kann sich deshalb auf der individuellen Ebene in Einstellungen gegenüber der wie auch immer definierten Nation ausdrücken. Solche Einstellungen gegenüber der Nation werden häufig als Nationalbewußtsein, Identifikation, Nationalismus oder Patriotismus bezeichnet. Im einzelnen bezeichnen sie jedoch verschiedene Aspekte des Verhältnisses von Individuum und Nation. Nationalbewußtsein beschreibt die individuellen kognitiven Repräsentationen eines Nationskonzeptes. Hierzu gehören beispielsweise Vorstellungen über die Kriterien der Zugehörigkeit, das Wissen über die „Mitgliedschaft“ in einer Nation, die Kenntnis nationaler Symbole und das Wissen um ihre Bedeutung, aber auch das Wissen um dieErwartungen der Nation an das Individuum und umgekehrt. Nationalbewußtsein faßt also all das, was die Nation zu einer bewußten Denkkategorie macht. Einen Aspekt des Nationalbewußtseins mißt die Frage, wie sehr man sich als Bürger/in der heutigen Bundesrepublik fühle (vgl. Tabelle 2).
Etwa 80 Prozent der Westdeutschen, aber nur etwa 50 Prozent der Ostdeutschen fühlten sich 1993 als „Mitglieder“ der heutigen Bundesrepublik. Während dieses Zugehörigkeitsgefühl im Westen über beide Erhebungszeiträume stabil geblieben ist, hat im Osten 1995 das Nationalbewußtsein zugenommen. Trotzdem ist im Osten der Anteil derjenigen, die sich nicht als Bürger der heutigen BRD fühlen, nach wie vor größer als im Westen. Da neben dem Zugehörigkeitsgefühl in bezug auf Gesamtdeutschland auch die alten West/Ost-Zugehörigkeiten relevante Bezugsgruppen sein können, haben wir auch gefragt, wie sehr sich die Menschen als West-bzw. Ostdeutsche fühlen (vgl. Tabelle 3).
Das Gruppenbewußtsein der Ostdeutschen ist stärker ausgeprägt als das der Westdeutschen. Dabei hat sich dieses Bewußtsein weder in den alten noch in den neuen Bundesländern zwischen 1993 und 1995 wesentlich verändert. Diese Ost-West-Gegen-Sätze scheinen also stabil zu bleiben. Darüber hinaus besteht ein weiterer Ost-West-Gegensatz:
Während die Westdeutschen ihr westdeutsches Gruppenbewußtsein als einen Teilaspekt ihres Nationalbewußtseins betrachten, schließen sich für die Ostdeutschen ihr ostdeutsches Gruppenbewußtsein und Nationalbewußtsein eher gegenseitig aus. Aus Sicht der Ostdeutschen kann man nur schwer Ostdeutscher und zugleich Bundesbürger sein. Hier handelt es sich also um konkurrierende Gruppenzugehörigkeiten
Im Unterschied zum Nationalbewußtsein geht die Identifikation mit der nationalen Gruppe über das Nationalbewußtsein hinaus. Im psychologischen Sinne meint Identifikation, daß die Gruppennormen, gruppenspezifische Denkstrukturen und Verhaltensweisen zum Bestandteil der eigenen Persönlichkeit und des individuellen Verhaltens gemacht werden. Auf dieser Grundlage entsteht auch das individuelle Engagement für die Nation, das sich zum Beispiel in der Teilnahme an Wahlen oder in der Einhaltung von Regeln und Gesetzen ausdrücken kann. Zwischen Identifikation und Identität kann dahingehend unterschieden werden, daß der Identifikationsbegriff einen stärker prozeßhaften Charakter betont, während der Identitätsbegriff sich mehr auf das Ergebnis von Identifikationsprozessen bezieht. Da in der psychologischen Identitätsforschung die Frage der zeitlichen Entwicklung und Stabilität nicht geklärt ist, ist auch unklar, wie zeitstabil eigentlich nationale Identität ist. Wie sehr identifizieren sich nun aber die Deutschen mit ihrer Nation? Wir haben gefragt (vgl. Tabelle 4):
Im Hinblick auf diese Frage unterscheiden sich ost-und westdeutsche Befragte im statistischen Sinne nicht. Mehrheitlich bedeutet es ihnen eher viel, eine innere Bindung zu Deutschland zu haben. Diese Tendenz ist zwischen 1993 und 1995 stabil. Analysiert man die Bedeutung einer inneren Bindung an Deutschland für diejenigen Ostdeutschen, die sich „stark“ oder „ziemlich“ als Ostdeutsche und zugleich „wenig“ oder „gar nicht“ als Bürger der heutigen Bundesrepublik fühlen (vgl. die Tabellen 2 u. 3), so zeigt sich, daß diese* Gruppe in der Stärke ihrer inneren Bindung an Deutschland nur leicht hinter die Gesamtstichprobe zurückfällt. Zum einen verdeutlicht dies die bereits oben diskutierte Problematik einer Identifikation mit Gruppen, zu denen man sich nicht zugehörig fühlt. Andererseits zeigt sich darin die Notwendigkeit, zwischen Nationalbewußtsein und Identifikation systematisch zu unterscheiden. Aus theoretischer Sicht ist diese Unterscheidung deshalb von Bedeutung, weil damit die Frage der Systemunterstützung eng verknüpft ist. Anreize für das Individuum, die Nation durch sein individuelles Verhalten zu unterstützen, entstehen erst bei Vorliegen einer subjektiven Identifikation mit ihr, was die Anerkennung nationaler Aufgaben und Ziele beinhaltet. Nationalbewußtsein im Sinne des Wissens über nationale Zugehörigkeit reicht hierzu nicht aus. Als Motiv zur Identifikation mit einer Gruppe wird die Verbesserung und Aufrechterhaltung des persönlichen Selbstwertgefühls vermutet Erst durch die Identifikation kann das Individuum an den Erfolgen und Leistungen der Gruppe partizipieren, sich diese Erfolge selbst zuschreiben und dadurch sein persönliches Selbstwertgefühl verbessern oder stabilisieren. Ein aktuelles Beispiel ist der Gewinn der Fußball-Europameisterschaft durch eine kleine Gruppe von Sportlern und die daraus resultierenden Wir-sind-(wieder) -Wer-Gefühle unter deutschen Fußball-Fans. Andererseits wird vom Individuum aber auch ein persönlicher Beitrag zur Zielerreichung oder Stabilität der Gruppe erwartet. In großen Gruppen wie zum Beispiel der Nation reduziert sich der potentielle individuell-persönliche Beitrag jedoch so sehr, daß aus der Sicht des Einzelnen dieser auf seinen Beitrag verzichten kann. Trotzdem kann er an den Vorteilen der Gruppe teilhaben. In beiden Fällen wird er diese nicht oder nicht wesentlich schädigen. Die sich daraus ergebende Spannung wird als „Trittbrettfahrer-Problem“ bezeichnet. Eine Lösung dieses Problems scheint langfristig nur möglich, wenn es der Nation gelingt, den Einzelnen für seine unterstützende Leistung individuell zu belohnen.
IV. Nationalismus und Patriotismus
Abbildung 18
Tabelle 3: Wie sehr fühlen Sie sich als West-/Ostdeutsche(r)? (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Tabelle 3: Wie sehr fühlen Sie sich als West-/Ostdeutsche(r)? (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Nationalismus und Patriotismus können als nationsbejahende Einstellungen bezeichnet werden, die das Individuum gegenüber seiner Nation hat. Beide Konzepte setzen eine subjektive Identifikation mit der Nation voraus. Ihnen gemeinsam ist die Forderung nach einer aktiven Beteiligung des Einzelnen am Wohl der Gemeinschaft und der Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Konzepten liegt in den mit ihnen jeweils verknüpften Definitionen der Nation und ihrer gesellschaftlichen Ziele.
Beim Nationalismus wird innergesellschaftliche Homogenität hinsichtlich ethnischer, kultureller oder religiöser Kriterien angestrebt. Bekannte Beispiele sind die systematische Verfolgung der Deutschen jüdischer Herkunft während des Dritten Reiches und die fremdenfeindlichen Über-griffe in den letzten Jahren. Ein weiteres Merkmal des Nationalismus ist die Idealisierung und Über-bewertung der eigenen Nation. Das Verhältnis von Individuum und politischem Staat orientiert sich an einem autoritären Obrigkeitsdenken.
Im Gegensatz zum Nationalismus strebt der Patriotismus innergesellschaftliche Vielfalt an. Kulturelle und religiöse Verschiedenheiten erfahren keine Abwertung, innergesellschaftliche Minderheiten erfahren Solidarität. Damit verbunden ist auch eine andere Vorstellung über das Verhältnis zwischen Individuum und Staat. Demokratische Prinzipien und politische Mitbestimmung sollen den Staat zum Instrument für seine Bürger machen. Weiterhin zeichnet sich der Patriotismus durch eine eher kritisch-ambivalente Bewertung der Nation aus, die sogar zur Verweigerung der Loyalität führen kann, wenn die nationalen Ziele als destruktiv angesehen werden Der Patriotismus verwendet also keine idealisierenden Überbewertungen der eigenen Nation, sondern hat ein positiv-kritisches Verhältnis ihr gegenüber.
Die Messung patriotischer Einstellungen war im Unterschied zu Erfassung nationalistischer Einstellungen bis heute nicht erfolgreich, weil nach wie vor theoretische Probleme in der systematischen Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus bestehen. Wir haben deshalb versucht, mit Hilfe eines Wertepräferenzenansatzes dieses Problem anzugehen. Wir gehen von der Überlegung aus, daß die Einstellungen gegenüber der Nation und ihrer Teilaspekte Unterdimensionen einer allgemeineren individuellen Werthaltung und eines allgemeineren Weltbildes sind Demnach müßte der Nationalismus auf Wertvorstellungen wie Dogmatismus, Sozialdarwinismus, Dominanzstreben und Selbstkategorisierung anhand ethnischer oder religiöser Kriterien begründet sein Der Patriotismus hingegen ließe sich auf Wertvorstellungen wie Gleichheit, Humanismus und Individualismus zurückführen. Das beinhaltet auch prosoziales Verhalten, die Nutzung von Staatsbürgerrechten und die Akzeptanz kultureller Vielfalt Um solche Wertvorstellungen verwirklichen zu können, müßte das Individuum verschiedene Nations-und Staatskonzeptionen und, in Abhängigkeit davon, unterschiedliche Formen der Systemunterstützung favorisieren Dies gilt aber auch für die Bewertung kollektiver Leistungen als Teilaspekte der jeweiligen Nations-, Staats-und Regimekonzeplionen. Solche Kollektivleistungen werden um so positiver bewertet, je mehr sie mit den jeweiligen Wertpräferenzen harmonieren. Stolz auf bestimmte kollektive Leistungen kann dann als Indikator für das Vorliegen einer nationalistischen oder patriotischen Einstellung verwendet werden.
Ein Beispiel für die Messung einer nationalistischen Einstellung ist der Stolz auf die deutsche Geschichte. Gerade im Hinblick auf das Dritte Reich kann ein hoher Stolz auf die deutsche Geschichte auch eine implizit positive Bewertung des Dritten Reiches und des Holocaust bedeuten. Wir fragten deshalb: Wie stolz sind Sie persönlich auf die deutsche Geschichte?
Eine sehr positive Bewertung der deutschen Geschichte findet sich bei etwa 15 Prozent der westdeutschen Befragten, bei den Ostdeutschen liegt dieser Anteil etwas niedriger. Dies entspricht in etwa Schätzungen des nationalistischen Potentials. Insgesamt sind die Unterschiede zwischen Ost und West statistisch nicht signifikant. Unklar bleibt, welche Aspekte die Befragten mit dem Begriff „deutsche Geschichte“ assoziieren, aber auf der Grundlage anderer Studien ist davon auszugehen, daß ein Großteil von ihnen eine Verbindung zwischen deutscher Geschichte und dem Dritten Reich herstellt Auch die im folgenden dargestellten Ergebnisse unterstützen die Interpretation, diese Frage messe Nationalismus.
Als ein Indikator für die eben dargestellte Patriotismuskonzeption kann man den Stolz auf die demokratischen Institutionen betrachten. Demokratische Institutionen sichern den Schutz von Interessenunterschieden und räumen auch Minderheiten Partizipationsmöglichkeiten ein (vgl. Tabelle 6).
Die Westdeutschen äußern einen signifikant stärkeren Stolz auf die demokratischen Institutionen als die Ostdeutschen. Dies kann auf die ost-westspezifischen Erfahrungen mit demokratischen Institutionen zurückzuführen sein, als eine Bestätigung der These unpolitischer Vereinigungsmotive interpretiert oder als ein Hinweis auf eine größere politische Unzufriedenheit in Ostdeutschland betrachtet werden. Aber auch die Möglichkeit unzureichender Erfahrungen der Ostdeutschen mit diesen Institutionen und die Tatsache, daß es sich hier um westdeutsche Leistungen handelt, mag als Erklärungsansatz dienen. Der Vergleich mit dem Stolz auf die deutsche Geschichte zeigt, daß die Befragten insgesamt eine eher patriotische Orientierung aufweisen.
V. Wir und die anderen
Abbildung 19
Tabelle 5: Wie stolz sind Sie persönlich auf die deutsche Geschichte? (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Tabelle 5: Wie stolz sind Sie persönlich auf die deutsche Geschichte? (nur Wiederbefragte; Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Die Identifikation mit einer Gruppe ist nur dann sinnvoll, wenn daneben weitere Gruppen bestehen. Erst durch Vergleichsprozesse entstehen Gruppenidentitäten. Deshalb ist zu fragen, wie nationale Identität mit Einstellungen gegenüber anderen Gruppen, die als nicht zur Nation gehörend definiert werden, zusammenhängt. Wiederum kann das Dritte Reich als Beispiel verwendet werden, um zu zeigen, daß deutsche Identität sich damals über die Abwertung von Minderheiten konstituierte. Aber auch in der Diskussion um die Ursachen der fremdenfeindlichen Über-griffe in den letzten Jahren wurde ein spezifisches nationales Selbstverständnis als eine Ursache vermutet.
Es ist deshalb zu fragen, ob die positive Bewertung der eigenen Nation zwangsläufig zur Abwertung anderer führt, oder ob nationale Identität auch Toleranz gegenüber anderen Gruppen zur Folge haben kann. Aufgrund der oben dargestellten Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus kann vermutet werden, daß mit zunehmendem Nationalismus auch die Abwertung von Fremdgruppen und Minderheiten wächst. Für den Patriotismus wäre das Gegenteil zu erwarten: Je stärker der Patriotismus, desto geringer ist die Abwertung von Fremdgruppen und Minderheiten. In graphischer Form lassen sich diese Hypothesen folgendermaßen zusammenfassen (vgl. Abbildung).
Wir haben dieses Modell für Ost-und Westdeutschland an unseren Daten von 1993 mit einem komplexen statistischen Verfahren getestet, auf das hier nicht weiter eingegangen werden soll Die Stärke der Identifikation mit der heutigen Bundesrepublik wurde mit drei Fragen gemessen (vgl. auch Tabelle 4). Danach identifizieren sich die Deutschen mehrheitlich mit ihrem Land.
Der Nationalismus wurde mit drei Fragen zum Stolz auf spezifische nationale Leistungen (auf die deutsche Geschichte, auf deutsche Erfolge im Sport und darauf, daß Deutschland in Europa die
Nummer eins ist) gemessen (vgl. auch Tabelle 5). Darüber hinaus wurde die Frage „Wie stolz sind Sie darauf, Deutsche/r zu sein“ zur Messung des Nationalismus verwendet Wie oben bereits angesprochen, ist die Zustimmung zu dieser Aussage in unserem Zusammenhang als Nationalismusindikator zu betrachten. Signifikante Unterschiede zwischen Ost und West bestehen nur beim Stolz auf die sportlichen Erfolge. Ob dies an der eher unpolitischen Dimension dieser Leistung oder aber an der Bedeutung des DDR-Spitzen-sports für das Selbstverständnis der ehemaligen DDR liegt, kann hier nicht entschieden werden.
Für die Messung des Patriotismus wurden ebenfalls drei Indikatoren zum Stolz auf nationale Leistungen (auf demokratische Institutionen, sozialstaatliche Leistungen und politische Mitbestimmungsmöglichkeiten) verwendet (vgl. Tabelle 6). Alle drei Fragen enthalten Aspekte, die sich auf demokratische und humanistische Werte beziehen. Implizit wird bei diesen Fragen einer innergesellschaftlichen Heterogenität Bedeutung beigemessen. Bei allen drei Fragen weisen die Westdeutschen einen signifikant stärkeren Stolz auf als die Ostdeutschen. In erster Linie handelt es sich hier um westdeutsche Leistungen der letzten 50 Jahre, die den Ostdeutschen nun auch zur Verfügung stehen, ohne daß sie an deren Ausformung bis 1990 aktiv beteiligt waren. Deshalb mag es den Ostdeutschen schwer fallen, auf diese Kollektiv-leistungen stolz zu sein. Eine andere Argumentationslinie kann entlang ostdeutscher Unzufriedenheiten über die nur langsame Vollendung der Vereinigung gezogen werden. Eine dritte Argumentationslinie ergibt sich durch den Systemwandel vom autoritären Staat zur Demokratie im Osten. Während der autoritäre Staat von vielen subjektiven Verantwortungen entlastet hat, verlangt die Demokratie ein höheres Maß an Eigen-bestimmung und Selbstverantwortung. Sie stellt größere Entfaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, kann aber auch zu Verunsicherungen führen, die aus Sicht der Ostdeutschen die positiven Aspekte der Vereinigung relativieren könnten.
Auch die Abwertungsbereitschaft von Fremdgruppen wurde mit drei Fragen gemessen Sie beziehen sich auf Einstellungen gegenüber den in derBundesrepublik lebenden Ausländern hinsichtlich verschiedener Lebensbereiche. Insgesamt weisen die Befragten nur eine geringe Bereitschaft zur Abwertung von Fremdgruppen auf. Jedoch ist diese Bereitschaft bei den Ostdeutschen stärker ausgeprägt, wie sich bereits in anderen Studien gezeigt hat Dies mag am stärkeren Konkurrenzkampf um knappe Ressourcen (Arbeitsmarkt, Sozialleistungen) in Ostdeutschland liegen, kann aber auch in einem anderen Verständnis nationaler Identität in Ostdeutschland begründet sein.
Nach wie vor ist auch der Antisemitismus ein zentraler Aspekt der deutschen Indentitätsdebatte -wie die Goldhagen-Diskussion jüngst gezeigt hat Wir haben deshalb auch diesen Aspekt durch drei Fragen auszuleuchten versucht, mit denen sowohl eine Einstellung gegenüber Deutschen jüdischer Herkunft als auch gegenüber nichtdeutschen Juden erfaßt werden soll Für die Gesamtstichprobe kann der Antisemitismus als eher gering bezeichnet werden. Es zeigte sich jedoch, daß er im Westen signifikant stärker ausgeprägt ist als im Osten. Unter Verwendung dieser Fragen wurden die oben dargestellten Hypothesen, getrennt für Ost und West überprüft. Das empirische Ergebnis für Ost-und Westdeutschland bestätigt unser theoretisches Modell nationaler Identität. Die Identifikation mit der eigenen Nation ist sowohl eine Ursache für Nationalismus als auch für Patriotismus. Je stärker die Befragten sich mit Deutschland identifizieren, desto stolzer sind sie auf die eigene Gruppe und ihre Leistungen.
In Westdeutschland führt die Identifikation mit der Nation in signifikant stärkerem Maße zu Nationalismus als in Ostdeutschland. Im Gegensatz dazu bestehen keine signifikanten Unterschiede zwischen Ost und West hinsichtlich der Beziehung zwischen Identifikation und Patriotismus. Über die Gründe können wir hier nur Vermutungen anstellen. So mag ein Argument der in der alten Bundesrepublik und in der untergegangenen DDR unterschiedliche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sein Ein weiterer Erklärungsansatz bezieht sich auf die in den Stolzfragen angesprochenen kollektiven Leistungen. Nationalismus und Patriotismus sind im Westen nicht, im Osten hingegen schwach positiv korreliert. Dies ist ein Hinweis darauf, daß die positive Bewertung kollektiver Leistungen in Ost-und Westdeutschland auch unterschiedlichen Motiven folgt. Zum einen werden die Leistungen in ihrer Bedeutung für die Konzepte Nationalismus und Patriotismus bewertet. Die klare Unterscheidung der beiden Faktoren spricht dafür, daß solche Motive im Antwortverhalten überwiegen. Alle Stolzfragen enthalten die Formulierung „stolz sein“. Befragte können sich also auch in ihrem Antwortverhalten an diesem „stolz sein“ orientiert haben, ohne damit explizit die genannten Einzel-aspekte bewerten zu wollen.
Fremdgruppenabwertung und Antisemitismus sind im Westen wie im Osten Folgen des Nationalismus. Jedoch führt der Nationalismus in Ostdeutschland nicht so zwangsläufig zu Antisemitismus wie in Westdeutschland Die Gründe für die engere Beziehung zwischen Nationalismus und Antisemitismus in Westdeutschland liegen vermutlich in der Tradition einer höheren symbolischen Präsenz der Juden und in der Aufmerksamkeit, die seit 1948 dem Staat Israel geschenkt wird. Dies kann dazu geführt haben, daß Juden im Westen eher als relevante Bezugsgruppe wahrgenommen werden, von der man sich durch nationalistische Einstellungen abgrenzen will. Die offizielle Politik der DDR war demgegenüber einerseits zwar stärker gegen den Staat Israel ausgerichtet, behandelte andererseits aber den Antisemitismus als Problem kapitalistischer Länder. Zudem war der jüdische Bevölkerungsanteil in der DDR geringer als in der alten Bundesrepublik und deshalb als eine Kategorie zur Charakterisierung von Personen in der Staatsideologie irrelevant. Der geringere Antisemitismus im Osten deutet darauf hin, daß Juden kaum als eine relevante , Fremdgruppe‘ wahrgenommen werden.
Im Gegensatz zum Nationalismus führt Patriotismus in West-wie in Ostdeutschland zur Abnahme der generellen Fremdgruppenabwertung und des Antisemitismus. Signifikante Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland bestehen dabei nicht.
Antisemitismus und Fremdgruppenabwertung sind in beiden Stichproben stark positiv miteinander korreliert. Sie werden insofern als äquivalent betrachtet, als sie die Abwertung von Gruppen beschreiben, die als nicht der eigenen Nation zugehörig definiert werden.
Wie diese Befunde zeigen, gibt es also Formen nationaler Identität, die nicht zur Fremdgruppenabwertung und zum Antisemitismus führen, sondern diese eher verringern. Nationale Identität ist damit keineswegs nur eine Gefahr für das Miteinander im nationalen und internationalen Kontext, sondern kann bei einer entsprechenden inhaltlichen Füllung als Chance begriffen werden. Ein an humanistischen und freiheitlichen Werten orientierter Patriotismus bietet die Möglichkeit einer Verknüpfung sozialer Zugehörigkeiten mit Toleranz gegenüber anderen.
VI. Zusammenfassung
Abbildung 20
Tabelle 6: Wie stolz sind Sie persönlich auf die demokratischen Institutionen Deutschlands? 27 (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
Tabelle 6: Wie stolz sind Sie persönlich auf die demokratischen Institutionen Deutschlands? 27 (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Erhebungen.
In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, einige Begriffe der Identitätsdebatte systematisch zu unterscheiden, zu problematisieren und zu empirischen Daten in Beziehung zu setzen.
Erstens konnte gezeigt werden, daß die Befragten unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wer als zur deutschen Nation zugehörig gerechnet wird. Insofern erscheint es durchaus fragwürdig, von der nationalen Identität oder der deutschen Nation zu sprechen.
Zweitens wurde zwischen Nationalbewußtsein und Identifikation unterschieden. In bezug auf das Zugehörigkeitsbewußtsein ließen sich deutliche Unterschiede zwischen den ost-und westdeutschen Befragten feststellen. Die Ostdeutschen verfügen über ein spezifisches „Ost-Bewußtsein“, welches mit dem nationalen Bewußtsein nicht identisch ist. Im Gegensatz dazu betrachten die Westdeutschen ihr „West-Bewußtsein“ als Teilaspekt ihres Nationalbewußtseins. Im Unterschied zu diesen Befunden identifizieren sich Ost-und Westdeutsche gleichermaßen mit der heutigen Bundesrepublik.
Drittens wurde zwischen den nationsbejahenden Einstellungsmustern Nationalismus und Patriotismus unterschieden. Hier zeigte sich, daß die Deutschen insgesamt eine eher patriotische Orientierung aufweisen.
Viertens wurde die Frage untersucht, welche Konsequenzen Nationalismus und Patriotismus für Einstellungen zu Ausländern und zum Antisemitismus haben. Die empirische Analyse zeigte, daß der Nationalismus zu Fremdgruppenabwertungen führt, während der Patriotismus Toleranz gegenüber diesen Gruppen fördert. Dabei bestehen keine zentralen Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen. Das Fazit aus diesen Analysen lautet: Nationale Identität ist nicht zwangsläufig mit der Abwertung von Fremdgruppen verknüpft. Die theoretische Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus ist somit wichtig und möglich.
Thomas Blank, M. A., geb. 1961; wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Nationale Identität“ am Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: Ethnizität, Nationalstolz und nationale Identifikation in Ost-und Westdeutschland, in: Rein-hart Kößler/Tilman Schiel (Hrsg.), Nationalstaat und Ethnizität, Frankfurt 1994; Konstruktiver Patriotismus im vereinigten Deutschland? Ergebnisse aus einer repräsentativen Studie, in: Amelie Mummendey/Bernd Simon (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, Bern 1997.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).