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Perspektiven russischer Außenpolitik | APuZ 30-31/1997 | bpb.de

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APuZ 30-31/1997 Perspektiven russischer Außenpolitik Wirtschaftslage und Stand der ökonomischen Systemtransformation in Rußland Transformation der Außenwirtschaftspolitik: Zur Wechselbeziehung von EU-Integration und regionaler Kooperation der Staaten Ostmitteleuropas Kommentar und Replik Wirtschaftsethik und Moral Zum Beitrag von Karl Homann: Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral (B 21/97)

Perspektiven russischer Außenpolitik

Oliver Thränert

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Russische Außenpolitik orientiert sich an der Vorstellung einer multipolaren Welt mit Rußland als einer unter anderen Großmächten. Daher will Rußland eine eigene Hemisphäre haben, die als das „nahe Ausland“, also das Territorium der ehemaligen Sowjetunion, definiert wird. Doch gestaltet sich die Politik dem „nahen Ausland“ gegenüber zunehmend schwierig, da viele der ehemaligen Sowjetrepubliken in dem Maße ihre eigenen Wege gehen, in dem sie ihre staatliche Souveränität stabilisieren können. Neben das Interesse, Rußland als Großmacht auch nach dem Ende des Kalten Krieges zu etablieren, tritt das Bemühen, die russische Außenpolitik der wirtschaftlichen Fortentwicklung des Landes zugute kommen zu lassen. Dabei steht für Marktwirtschaftler wie die beiden Ersten Vizepremiers Tschubais und Nemzow Rußlands weitere weltwirtschaftliche Integration im Vordergrund. Dafür sind gute Beziehungen zum Westen unabdingbar. Die frühere Konzentration auf den Westen wird jedoch zugunsten einer mehrdimensionalen Herangehensweise abgelöst. Besonders wichtig sind dabei der Ausgleich mit China und Japan, fortgesetzt gute Beziehungen zu Indien sowie der Versuch, über gute Kontakte zu Iran und Irak in der ökonomisch so wichtigen Golfregion dort Fuß zu fassen, wo die westliche Politik eher zur Ausgrenzung neigt. Die NATO-Osterweiterung hat die Beziehungen zum Westen in den letzten Jahren fast vollständig dominiert. Sie wird von Rußland nach wie vor abgelehnt, doch scheint mit der Unterzeichnung des NATO-Rußland-Dokumentes vorerst ein Modus vivendi gefunden zu sein. Die unterschiedliche Interpretation dieser Übereinkunft birgt jedoch schon jetzt Zündstoff für die Zukunft. Insgesamt werden die Beziehungen Rußlands zum Westen auch weiterhin Schwankungen unterliegen, es wird ein Gemisch von Kooperation und Konfrontation geben. Für die weitere Zukunft wird vieles davon abhängen, ob sich in Rußland Demokraten und Marktwirtschaftler dauerhaft durchsetzen können.

Während der Debatte um die NATO-Osterweiterung wurde immer wieder die mögliche Reaktion Rußlands auf dieses Vorhaben diskutiert. Die westliche Diskussion blieb dabei oft merkwürdig verengt auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Moskau eine Ausdehnung der Allianz hinnehmen würde. Vernachlässigt wird dabei zumeist, in welchem Kontext russischer außenpolitischer Konzeptionen die NATO-Erweiterung zu sehen ist.

Spätestens seit dem Amtsantritt Außenminister Primakows im Januar 1996 hat sich in Rußland ein weitreichender außenpolitischer Konsens herausgebildet. Tatsächlich ist Primakows Stellung ungleich stärker als diejenige seines Vorgängers Kosyrew. So ist durch einen Präsidialerlaß bestimmt worden, daß nur Präsident Jelzin selbst, Regierungschef Tschernomyrdin und eben Primakow einen offiziellen außenpolitischen Standpunkt formulieren dürfen. Seit der Regierungsumbildung im Frühjahr 1997 und dem Eintritt der beiden jungen Marktwirtschaftler Tschubais und Nemzow als Erste Vizepremiers ins Kabinett scheint der Stern des älteren Primakow jedoch etwas zu sinken.

Primakow zufolge strebt Rußland eine multipolare Welt an, in der es selbst eine unter mehreren Großmächten mit eigenständigem Profil ist. Amerikanischen Absichten einer unipolaren Ordnung unter Führung der USA wird also entgegengetreten. Den Beziehungen zu Westeuropa wird nunmehr eine eigenständigere Rolle zugemessen, als dies unter dem sehr auf die USA fixierten Kosyrew noch der Fall war.

Wesentliches Anliegen der russischen Außenpolitik ist es, westlichen Vorstellungen, die Welt in Sieger und Verlierer des Kalten Krieges einzuteilen, entgegenzutreten. Rußland als eine Großmacht unter anderen soll sich zwar nicht unbedingt in Konfrontation mit anderen Machtzentren begeben, aber wenn dies erforderlich ist, eigene Interessen gegen diese durchsetzen. Statt einer von Kosyrew zunächst angestrebten „strategischen Allianz“ geht es im Verhältnis zum Westen nunmehr um eine „zivilisierte Partnerschaft“. Darüber hinaus soll die Außenpolitik diversifiziert werden, d. h., das Augenmerk soll nicht nur auf dem Westen liegen, sondern auch zu anderen Macht-zentren in der multipolaren Welt, wie China, Japan und Südostasien, sollen ausgewogene Beziehungen entwickelt werden.

Kategorien wie „Großmacht“, „Einflußzonen“ und „Geopolitik“ bestimmen die russische außen-politische Debatte. Entspricht dies einem traditionalistischen Denken, so soll doch gleichzeitig Außenpolitik den wirtschaftlichen Interessen, d. h.der Durchsetzung der Marktwirtschaft, dienen. Die Beziehungen zum Westen sollen genutzt werden, um die für den weiteren Reformprozeß dringend erforderliche stärkere Integration in die Weltwirtschaft zu erreichen. Doch sollen lukrative Geschäfte auch und gerade dort getätigt werden, wo sie vom Westen kritisiert werden, also etwa mit dem Iran Formulierung und Durchsetzung russischer Außenpolitik bedeutet damit gleichsam den ständigen Versuch, die Schnittmenge zwischen traditionellem Großmachtdenken einerseits und der Integration in die Weltwirtschaft andererseits zu finden.

Größtes Problem russischer Außenpolitik ist derzeit, daß das Land in seinem gegenwärtigen Zustand die Voraussetzungen, um eine unter mehreren Großmächten zu sein, nicht erfüllt. Der marxistisch-leninistischen Ideologie verlustig gegangen, kann Rußland kein neues Gesellschaftsmodell vorweisen, das anderen Staaten gegenüber eine gewisse Anziehungskraft ausübt. Doch auch bei den materiellen Voraussetzungen für Großmachtpolitik hapert es gewaltig. Die Wirtschaft ist ebenso weit davon entfernt, ein prosperierendes kapitalistisches Modell zu verkörpern wie die Armee als funktionierende, schlagkräftige Streitmacht bezeichnet werden kann. Vielmehr befinden sich die Streitkräfte inmitten einer tiefen finanziellen und moralischen Krise, die durch den Krieg und die Niederlage in Tschetschenien nur noch verstärkt wurde. Ein Vergleich mit dem amerikanischen Verteidigungshaushalt macht die finanzielle Not der russischen Armee deutlich. Während die USA für das Haushaltsjahr 1997 Ausgaben in Höhe von 250 Milliarden US-Dollar für das Militär vorse-hen, sind es in Rußland nur etwa 18, 5 Milliarden US-Dollar

Ein russischer Großmachtstatus kann sich derzeit also weder auf ein attraktives Gesellschaftsmodell noch auf eine leistungsfähige Wirtschaft, noch auf ein starkes Militär stützen. Und dennoch, sehen viele Russen nicht nur aus den starken kommunistischen oder nationalistischen Perspektiven ihr Land als eine Großmacht an. Die schiere Größe des Landes (flächenmäßig ist die Russische Föderation das größte Land der Erde), die Interessen bezüglich Europas als auch Asiens zur Folge hat, der Status als strategische Nuklearmacht und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, aber auch die unmittelbare Vergangenheit als Sieger im „Großen Vaterländischen Krieg“ und eine von zwei bisher die Weltgeschicke bestimmende Super-macht sind ausschlaggebend.

Wie aber sind die außenpolitischen Perspektiven der Großmacht Rußland zu beurteilen? Strebt es einen eigenen Hegemonialbereich im „nahen Ausland“ an? Welche Politik verfolgt Moskau gegenüber anderen potentiellen Großmächten in Asien sowie im Nahen und Mittleren Osten? Wie werden die Beziehungen zum Westen gesehen, welche Differenzierungen ergeben sich hinsichtlich der USA einerseits und Westeuropas andererseits? Welche Rolle sieht Rußland für sich selbst bezüglich internationaler sicherheitspolitischer Organisationen wie der NATO und der OSZE?

Rußland und das „nahe Ausland“

Abbildung 1

Es gehört zum Verständnis russischer Außenpolitik, die Region der Staaten der ehemaligen Sowjetunion, also das „nahe Ausland“, als Einflußsphäre der Großmacht Rußland zu begreifen. Dies korrespondiert mit dem Gefühl der meisten Russen, daß die Auflösung der Sowjetunion eine bedauerliche Tatsache ist, an die sie sich nur schwer gewöhnen können. Nicht nur, daß Verwandte und Bekannte in Kiew oder Minsk, Tiflis oder Almaty nun zu Ausländern geworden sind, macht manchem Russen noch immer zu schaffen, auch das Schicksal der etwa 25 Millionen Russen (oder Russischsprachigen) im „nahen Ausland“ ist von erheblicher Bedeutung. Sogar demokratischen Parteien angehörende Politiker wie Wladimir Lukin (Vorsitzender des Außenpolitischen Aus

Schusses der Duma, Jabloko) sind der Ansicht, die russische Nation schließe alle Russen, auch diejenigen, die nicht in der Russischen Föderation leben, ein. Entsprechend sei es Aufgabe russischer Politik, den Zusammenhalt der Nation zu fördern.

Die Politik Rußlands im „nahen Ausland“ beinhaltet grundsätzlich zwei Widersprüche: Sie schwankt einerseits zwischen hegemonialem Unilateralismus und kooperativem Multilateralismus und andererseits zwischen territorialem Integrationismus und ökonomischem Isolationismus. Was ist damit gemeint?

Die nach der Auflösung der Sowjetunion entstandenen, zum Teil blutig ausgetragenen Separationskonflikte in Moldawien, im Transkaukasus und in Tadschikistan werden von russischer Seite als eine Bedrohung der eigenen Sicherheit gesehen. So sprach die Militärdoktrin vom November 1993 davon, diese Konflikte würden die territoriale Integrität Rußlands gefährden. Moskau mußte daher an einer Beendigung von Kampfhandlungen dringend interessiert sein. Dies wurde durch Druck auf die Beteiligten sowie die Stationierung nahezu ausschließlich russischer Friedenstruppen etwa im Transkaukasus erreicht. Zugleich konnte dies jedoch im russischen Interesse in der Weise genutzt werden, daß etwa Georgien und Moldawien, die anfangs entsprechende Zurückhaltung übten, zu einer Mitgliedschaft in der GUS „überredet“ und russische Truppen in Georgien aufgrund eines Abkommens stationiert werden konnten. Doch Moskau zeigte sich auch bereit, mit internationalen Institutionen zu kooperieren. So unterhält die OSZE Langzeitmissionen zur Konfliktbearbeitung in Moldawien, der Ukraine, Georgien und Tadschikistan, die Vereinten Nationen zusätzlich in den letztgenannten beiden Ländern, und Moskau erklärte sich sogar dazu bereit, eine OSZE-Assistenzgruppe im abtrünnigen Tschetschenien zuzulassen. Dies entspricht einem doppelten russischen Kalkül: Einerseits soll die OSZE als Gegengewicht zu einer erweiterten NATO gestärkt werden (dieses russische Interesse könnte allerdings abnehmen, siehe dazu unten), andererseits verfolgen sowohl die UN als auch die OSZE das Prinzip der territorialen Integrität, was Moskau insbesondere mit Blick auf Tschetschenien sehr gelegen kommt.

Derzeit sind alle Konflikte „eingefroren“, d. h., es finden keine Kampfhandlungen mehr statt. Doch politische Lösungen sind nicht in Sicht. Allen Beteiligten ist jedoch klar, daß Rußland letztlich bei der Konfliktlösung der entscheidende Faktor sein dürfte. So finden in Moskau von Rußland angeregte georgisch-südossetische Gespräche zur Konfliktbearbeitung parallel zu entsprechenden OSZE-Bemühungen statt. Auch bleibt das westliche Engagement begrenzt. Die Beteiligung an Friedenskontingenten etwa in Berg-Karabach dürfte es kaum beinhalten. Ob Rußland seinerseits weiterhin auf internationale Kooperation setzt, bleibt abzuwarten.

Ziel der Integrationisten wie etwa Primakow oder auch Tschernomyrdin ist es, andere ehemalige Sowjetrepubliken nicht zuletzt als Gegengewicht zur NATO-Osterweiterung wieder so eng wie möglich -bis hin zur staatlichen Integration -an Rußland zu binden. Derjenige Staat, bei dem dies noch am ehesten wahrscheinlich ist, ist der Nachbar Weißrußland. Am 2. April 1997 unterzeichneten Jelzin und der weißrussische Präsident Lukaschenko in Moskau einen Vertrag über die Union beider Staaten. Doch die beiden neuen stellvertretenden Ministerpräsidenten Tschubais und Nemzow befürchteten neue Lasten für den russischen Staatshaushalt, befindet sich doch Weißrußland in einer systembedingten, tiefen wirtschaftlichen Krise. Sie intervenierten beim Präsidenten, der daraufhin den ursprünglich vorgesehenen Unionsvertrag fallen ließ und statt dessen einen Text unterzeichnete, der seinem Inhalt nach recht vage blieb. Damit haben sich die ökonomischen Isolationisten Nemzow und Tschubais gegen die Integrationisten Tschernomyrdin und Primakow durchgesetzt.

Bleibt schon die Integration mit Minsk begrenzt, so gilt dies erst recht für die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Darüber kann auch nicht die im Frühjahr 1996 ins Leben gerufene „Vierer-Union“ mit Weißrußland, Kasachstan und Kirgistan hinwegtäuschen. Insgesamt differenzieren sich die Beziehungen Moskaus zum . „nahen Ausland“ zunehmend. Da fast alle Staaten der GUS langsam ihre staatliche Eigenständigkeit stabilisieren können, emanzipieren sich die meisten von ihnen auch zunehmend von Moskau und entdecken ihre spezifischen nationalen Interessen in ihrer jeweiligen Region.

Besonders das Verhältnis Rußlands zur Ukraine wirkte lange Zeit gespannt. Vom Moskauer Bürgermeister Luschkow verkündete -und vom Parlament unterstützte -russische Ansprüche auf die auf der Krim gelegene Stadt Sewastopol führten in Kiew zu Irritationen. Als Folge orientierte man sich dort mehr und mehr nach Westen, was wiederum in Moskau Besorgnisse hervorrief, besonders hinsichtlich ukrainischer Überlegungen, sich der NATO anzunähern. In jüngster Zeit haben sich die Beziehungen verbessert. Ende Mai 1997 wurden Einigungen bezüglich der Teilung der Schwarzmeerflotte sowie der Verpachtung eines Teiles des Hafens von Sewastopol an Rußland erzielt. Kurz darauf absolvierte Präsident Jelzin seinen immer wieder verschobenen Besuch in Kiew und unterzeichnete das russisch-ukrainische Freundschaftsabkommen, das neben einer verbesserten Wirtschaftskooperation die gegenseitige Anerkennung der Grenzen vorsieht. Rußland bleibt gegenüber der Westpolitik der Ukraine jedoch ebenso mißtrauisch wie gegenüber derjenigen kleinerer GUS-Staaten wie etwa Georgien

Angesichts dieser Differenzierungen kann es nicht überraschen, daß die GUS als Institution bisher äußerst schwach ausgebildet blieb. Anstatt zu einem Integrationsraum nach dem Vorbild der Europäischen Union zu werden, differenzieren sich die Beziehungen in der GUS zunehmend, was Moskaus Möglichkeiten der Stabilisierung einer Hegemonialposition in diesem Raum einschränkt

Besondere Bedeutung kommt den Beziehungen Rußlands zu den nicht der GUS angehörenden baltischen Staaten zu. Moskau geht es hier um den Schutz der Rechte der Russen besonders in Estland und Lettland, die Schaffung günstiger Transportbedingungen zur russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg) sowie die Regelung der Grenzverläufe zu Estland und Lettland. Insbesondere gegenüber diesen beiden Staaten geht die russische Diplomatie bisweilen in kaum erträglicher Weise in die Offensive, wenn Primakow etwa davon spricht, Rußland solle vor wirtschaftlichen Sanktionen nicht zurückschrecken, um diskriminierende Praktiken gegenüber Russen in diesen Ländern zu verhindern. Ein NATO-Beitritt der baltischen Staaten wäre für Moskau völlig inakzeptabel, hingegen könnte es sich -so Primakow -mit einem EU-Beitritt abfinden Angesichts der geplanten NATO-Erweiterung, die die baltischen Länder gerade nicht einbeziehen wird, bleibt die Lage in dieser Region und das Verhältnis zu Moskau angespannt.

Rußlands Politik gegenüber Asien und dem Nahen Osten

Seit dem Ende der Sowjetunion und dem Verlust des Marxismus-Leninismus als ideologischer Legitimation von Außenpolitik gibt es kaum noch nennenswerte Aktivitäten Moskaus in Weltgegenden wie Lateinamerika oder Afrika. Nun soll Rußlands Großmachtanspruch durch gleichberechtigte Beziehungen zu anderen Zentren der Weltpolitik untermauert werden. Ebenso wichtig ist aber, daß wirtschaftliche Erfolge verbucht werden.

Wichtigster unmittelbarer Nachbar Rußlands ist China. Waren die Beziehungen in der Vergangenheit oft durch ideologische Probleme belastet, so sind diese jetzt überwunden, und das russisch-chinesische Verhältnis ist so wenig konfliktbeladen wie selten zuvor. Daher plädieren nicht wenige russische Kommunisten und Nationalisten für eine engere Kooperation bis hin zu einem Militärbündnis mit China. Andere, vornehmlich westlich orientierte Politiker, sehen China eher als potentielle Bedrohung an, da es sich erstmals sowohl wirtschaftlich als auch militärisch dynamischer entwickele als Rußland. Jenseits von Hoffnungen und Befürchtungen sind die derzeitig an der Macht befindlichen Eliten in Moskau und Peking an einer gleichberechtigten Partnerschaft, nicht jedoch an einem regelrechten Bündnis interessiert.

Eine solche Partnerschaft kann sich auf eine Reihe gemeinsamer Interessen stützen. Sowohl Peking als auch Moskau wollen eine eindeutige amerikanische weltpolitische Vorherrschaft verhindern. Dieses Leitmotiv war auch Gegenstand der während des russisch-chinesischen Gipfels in Moskau im April 1997 unterzeichneten Erklärung über die multipolare Welt im 21. Jahrhundert.

Wirtschaftlich spielt der Bau von Erdgas-und Erdöl-Pipelines aus Rußland nach China sowie der Bau von Kraftwerken in China unter technischem Beistand Rußlands eine gewisse Rolle. Bedeutsamer sind wohl russische Waffenlieferungen an China. Dies hilft der ambitiösen chinesischen Armee ebenso wie der russischen Rüstungsbranche, die nunmehr wichtigster Lieferant für die chinesische Armee geworden ist.

In den bilateralen Beziehungen stehen die Regelung von Grenzverläufen, militärische Entspannung im Grenzgebiet sowie die in Moskau bisweilen als bedrohlich angesehene illegale Einwanderung von Chinesen in den Femen Osten Rußlands im Vordergrund. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die ebenfalls während des russisch-chinesischen Gipfels in Moskau erfolgte Unterzeichnung über Truppenabbau im Grenzgebiet. Schon zuvor waren strittige Grenzfragen einvernehmlich gelöst worden

Positiv entwickelt sich das Verhältnis Rußlands auch zu Japan, auch wenn noch kein Durchbruch bei territorialen Streitfragen, die die Kurilen-Inseln betreffen, erzielt werden konnte. Aber diese Frage behindert offensichtlich nicht länger die Entwicklung der bilateralen Beziehungen. Primakow meinte jedenfalls, ein Friedensvertrag zwischen Japan und Rußland sei in nicht allzu ferner Zukunft möglich. Bei seinem Besuch in Tokio im November 1996 schlug der russische Außenminister eine gemeinsame wirtschaftliche Tätigkeit auf den Südkurilen vor. Japan hat sich noch nicht zu diesem Thema geäußert

Ein weiteres asiatisches Land von besonderem Interesse für Moskau ist Indien. Hier kann an traditionell gute Beziehungen aus Sowjetzeiten angeknüpft werden. Moskau sieht Indien als Markt für Rüstungsgüter, aber auch für Nuklearanlagen. Dies entspricht seinem wirtschaftlichen Interesse, folgt aber auch in dem Maße politischem Kalkül, in dem Neu-Delhi sich im Zuge seines Streits um die internationale nukleare Nichtverbreitungspolitik vom Westen mißverstanden und isoliert fühlt.

Erhöhte Aufmerksamkeit kommt der Region des Persischen Golfes-zu. Hier strebt Moskau wirtschaftliche Vorteile durch Kooperation mit den reichen arabischen Ländern an. Gleichzeitig soll den USA, die den Persischen Golf als ihre Einflußzone ansehen, verdeutlicht werden, daß sie in diesem wegen der Ölvorräte so wichtigen Raum mit russischem Engagement rechnen müssen.

Einen Fuß in die Tür möchte Moskau besonders dort bekommen, wo Washington sich aufgrund seiner Politik der „doppelten Eindämmung“ gegenüber Iran und Irak weitgehend selbst blockiert. Teheran und Moskau haben eine Reihe gemeinsamer Interessen. Diese betreffen die Wirtschaftskooperation, die Ölförderung in der Region des Kaspischen Meeres, den Ausbau der iranischen Nuklearindustrie und schließlich die militärpolitische Kooperation. Als in Folge des „MykonosUrteils“ im April 1997 fast alle Botschafter der EU aus Teheran abgezogen wurden, wurden in Moskau anläßlich des Besuchs des iranischen Parlamentspräsidenten demonstrativ die guten gegenseitigen Beziehungen betont.Auch mit Irak nahm Moskau schon frühzeitig nach dem Ende des Golfkrieges wieder Kontakt auf. So wurde von einer irakisch-russischen Kommission für wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit schon im September 1994 ein bilaterales Kooperationsabkommen im Wert von zehn Milliarden US-Dollar abgeschlossen. Nach Ende der UN-Sanktionen gegen Irak, für deren Aufhebung sich Moskau einsetzt, sollen Handelsbeziehungen aufgenommen werden. Rußlands Interesse an einer baldigen irakischen Rückkehr zum internationalen Ölmarkt resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, daß Bagdad Moskau etwa sieben Milliarden US-Dollar schuldet

Rußland und die USA

„Die Flitterwochen sind vorbei“, dies ist eine viel gehörte Umschreibung russisch-amerikanischer Beziehungen. Tatsächlich scheint sich das Verhältnis beider Länder, verglichen mit der Phase unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Folge der NATO-Osterweiterung einzutrüben. Hinzu kommen eine Reihe kleinerer Konflikte etwa um das russische Nukleargeschäft mit Iran.

Das grundsätzliche Problem besteht darin, daß Rußland -anders als dies nach dem Ende des Kalten Krieges westlichen Beobachtern zunächst scheinen mochte -nicht bereit ist, die Rolle des amerikanischen Juniorpartners zu übernehmen. Während die USA eine globale Führungsrolle anstreben (obgleich dieses Vorhaben vielfache innenpolitisch bedingte Brechungen erfährt), sieht Rußland eben dies als geopolitische Herausforderung an und tritt dem mit seinem eigenen Modell einer multipolaren Welt entgegen. In dem Maße, in dem die USA versuchen, nicht nur die NATO zu erweitern, sondern auch Einfluß in den russischen Hegemonialbereich durch Finanzhilfen etwa für die Ukraine zu nehmen, könnte das amerikanisch-russische Verhältnis komplizierter werden.

Gleichzeitig halten jedoch sowohl Washington als auch Moskau an einer Kooperation fest. Die USA, weil sie an einer Einbindung Rußlands bei so wichtigen Fragen wie der Denuklearisierung interessiert bleiben, Rußland, weil es sich eine offene Konfrontation gar nicht erlauben kann und weiterhin auf wirtschaftliche Unterstützung hofft. Dabei kommt es Moskau insbesondere auf die weitere Integration in die Weltwirtschaft an, die nur über den Weg der Kooperation mit den USA zu erreichen ist. Daß beim Jelzin-Clinton-Gipfel in Helsinki im März 1997 eine strategische Wirtschaftspartnerschaft beider Länder vereinbart wurde, konnte Moskau als Erfolg verbuchen. Überhaupt dienen derartige Gipfeltreffen aus Moskauer Sicht vor allem dazu, den gleichberechtigten Status Rußlands mit den USA auch weiterhin zu untermauern Gleiches gilt für die nahezu vollberechtigte Teilnahme Rußlands am nunmehr wohl so genannten G-8-Gipfel.

Einen speziellen Kanal haben sich Washington und Moskau durch die bald nach Clintons Amtsantritt im Herbst 1993 eingerichtete Gore-Tschernomyrdin-Kommission geschaffen. In diesem Rahmen wurden bisher nahezu 200 Dokumente der bilateralen Zusammenarbeit unterzeichnet. Dabei geht es vornehmlich um Energiepolitik und nukleare Sicherheit. Letzteres entspricht besonders amerikanischem Interesse. Als Beispiele seien gemeinsam vereinbarte Prinzipien der Reaktorsicherheit, die beidseitige Schließung von Reaktoren zur Plutoniumproduktion bis zum Jahr 2000 und ein Memorandum über den Austausch von Informationen über Sprengkopfsicherheit genannt. Russischem Interesse entspricht es dagegen eher, die wirtschaftspolitische Kooperation zu vertiefen. Die Kooperation in der Gore-Tschernomyrdin-Kommission soll daher dazu genutzt werden, amerikanische Investitionen anzuregen. Daher sollen zukünftig russische und amerikanische Regionen, Geschäfts-und Bankkreise, aber auch Parlamentarier an der Arbeit der Kommission direkt beteiligt werden

Rußland und Westeuropa

Rußlands Konzept der widerstreitenden Macht-zentren in einer multipolaren Welt beinhaltet auch zunehmende Differenzen zwischen Westeuropa und den USA. Gute Beziehungen mit Westeuropa sollen daher als Mittel dienen, neue Spielräume russischer Außenpolitik zu erarbeiten und amerikanische Macht einzudämmen. In Moskau werden die Beziehungen zu westeuropäischen Staaten oft positiver beurteilt als diejenigen zu den USA.

Bevorzugte Partner Rußlands in Westeuropa sind Deutschland und Frankreich. Das gute Verhältnis zu Deutschland wurde in jüngster Zeit nicht zuletzt dadurch untermauert, daß Bundeskanzler Kohl der einzige westliche Regierungschef war, der Präsident Jelzin nach seiner Wiederwahl und vor seiner Herzoperation persönlich in Moskau sprach. Dies entspricht der russischen Einschätzung der Rolle Deutschlands als führende Macht in der Europäischen Union und zweitstärkste in der Atlantischen Allianz. Die Beziehungen zu Bonn sollen daher genutzt werden, um russische Vorstellungen in westliche Gremien zu transportieren, wie umgekehrt westliche Vorstellungen über Bonn nach Moskau gelangen. Im Vordergrund stehen dabei die Osterweiterung der NATO und die Partnerschaft zwischen Rußland und der EU. Daß Jelzin gerade während seines Deutschland-Besuches im April 1997 erstmals erklärte, er sei am 27. Mai 1997 bereit, ein gemeinsames Dokument mit der NATO zu unterzeichnen, machte die herausgehobene Stellung Bonns in der russischen Außenpolitik erneut deutlich.

Auch Frankreich spielt aus russischer Sicht eine wichtige Rolle, besonders wegen seines Anspruches, die Europäisierung der NATO weiter voranzutreiben. Dies gibt Moskau die Möglichkeit, Differenzen zwischen Paris und Washington über die sicherheitspolitische Gestaltung Europas zu nutzen. Dies war der Fall bei einer weitgehend unbeachteten Chirac/Jelzin-Initiative vom April 1996 zur Stärkung der OSZE und dem später von Chirac entwickelten Vorschlag, über die NATO-Osterweiterung auf einem Gipfel der Fünf (USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Rußland) zu beraten.

Das Scheitern dieser Initiativen deutet schon auf das immanente Problem französisch-russischer Beziehungen hin: Frankreich ist oft nicht stark genug, um sich in westlichen Gremien letztlich durchzusetzen. Ungeachtet dessen sprachen anläßlich des Moskau-Besuchs Chiracs im Februar 1997 die russischen Medien von einer privilegierten französisch-russischen Partnerschaft. Während des Primakow-Besuchs in Paris im April 1997 wurde der Vorschlag entwickelt, den NATO-Rußland-Gipfel zur Unterzeichnung eines Dokumentes über die zukünftigen Beziehungen Rußlands zur NATO in Paris abzuhalten. Damit wurde der französische Anspruch, eine führende Macht in der NATO zu sein, ebenso untermauert wie das russische Bestreben, Frankreich als dasjenige Land hervorzuheben, das mit seinen Bemühungen um die Europäisierung der NATO am ehesten russischen Interessen entgegenkommt

Das Problem der NATO-Osterweiterung

Das Projekt der NATO-Osterweiterung hat in den letzten Jahren die Beziehungen Rußlands zum Westen fast gänzlich überschattet. Die russische Regierung macht vor allem dagegen Front, weil man es als ein Vorhaben interpretiert, das letztlich dazu führen wird, Rußland aus Europa zu verdrängen. Damit werden alte russische Ängste der Isolation angesprochen, Rußlands gekränkte Seele fühlt sich diskriminiert. Vor allem wird die NATO-Osterweiterung als ein Vorhaben angesehen, das eine amerikanische Vormachtstellung manifestieren soll. Genau dies widerspricht aber russischen Vorstellungen von einer Welt mehrerer grundsätzlich gleichberechtigter Großmächte, unter denen sich auch Rußland befindet. Gleichzeitig wird jedoch immer wieder betont, bei den Reaktionen auf die NATO-Erweiterung solle nicht übertrieben werden. Dies entspricht wiederum dem fortgesetzten russischen Interesse nach Integration in die Weltwirtschaft. Wichtig erscheint aus russischer Sicht daher insbesondere die gleichberechtigte Aufnahme in die G 7/G 8, zum Pariser Klub der internationalen Kreditgeber sowie zur Welthandelsorganisation. Wie in einem Brennglas wird beim Thema NATO-Osterweiterung das russische Oszillieren zwischen Großmachtdenken und Wirtschaftsinteressen deutlich. Wären die Dinge einfach personalisierbar, was sie in dieser Form allerdings nicht sind, so stünde Primakow für Großmacht und Tschubais für Wirtschaft.

Da die NATO-Osterweiterung nicht verhinderbar scheint, verfolgt Moskau eine Strategie der Schadensbegrenzung. Dreh-und Angelpunkt ist die Vereinbarung zwischen Rußland und der NATO über die Gestaltung der Beziehungen. Doch muß dabei Rücksicht auf vielfältige innenpolitische Widerstände genommen werden. So hat sich in der Duma eine fraktionsübergreifende Anti-NATO-Gruppierung unter dem nationalistischen stellvertretenden Duma-Vorsitzenden Sergej Baburin gebildet, der nach eigenen Angaben 234 der 450 Abgeordneten angehören. Besorgt zeigen sich auch russische Militärs. Dabei geht es um die konventionelle Überlegenheit einer erweiterten NATO. Das russische Insistieren auf einen möglichen frühzeitigen Rückgriff auf Nuklearwaffen im Kriegsfall im Rahmen der überarbeiteten Sicherheitsdoktrin ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Mit der Politik der Schadensbegrenzung und den Verhandlungen über ein Rußland-NATO-Dokument verfolgte Moskau folgende Ziele:

Verbindlichkeit: Das Dokument sollte einen möglichst verbindlichen Charakter haben. Anfangs drängte Moskau dabei auf völkerrechtliche Gültigkeit, was eine Ratifikation seitens der Duma und aller NATO-Parlamente erforderlich gemacht hätte. Dies wurde vom Westen abgelehnt. Moskau gab sich daraufhin mit einer Grundsatzakte zufrieden, die von allen NATO-Staatschefs sowie Rußlands Präsident Jelzin auf einem gesonderten NATO-Treffen mit Rußland in Paris am 27. Mai 1997 unterzeichnet wurde. Damit wurde die besondere Bedeutung der Vereinbarung dokumentiert.

Militärische Sicherheit: Wesentlich war für Moskau, daß die NATO keine Kernwaffen und auch keine ausländischen Truppen dauerhaft in die neuen NATO-Staaten verlegen dürfe. Die NATO bekräftigte einseitig, sie wolle Kernwaffen und eine substantielle Anzahl von ausländischen Truppen nicht in den neuen NATO-Ländern stationieren. Abschußanlagen für Kernwaffen sollen ebenfalls nicht errichtet, und die konventionellen Streitkräfte der NATO insgesamt reduziert werden. Letzteres soll jedoch im Rahmen der Modernisierung des KSE-Vertrages zur konventionellen Abrüstung vom Atlantik bis zum Ural im einzelnen geregelt werden.

Beschränkung der NATO-Erweiterung: Moskau machte mit aller Klarheit deutlich, daß es eine Ausdehnung der NATO auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und insbesondere eine etwaige spätere Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO unter gar keinen Umständen akzeptieren würde. Hier könnte in Zukunft Ungemach drohen, denn entsprechende Äußerungen Präsident Jelzins wurden umgehend vom amerikanischen Außenministerium dahingehend kommentiert, nur die NATO allein entscheide, wen sie aufnehme.

Mitsprache bei der NA TO: Moskau legte Wert darauf, weitgehende Mitspracherechte bei der NATO bezüglich solcher Fragen zu erhalten, die seine Sicherheitsinteressen betreffen. Gegründet wurde daher ein ständiger gemeinsamer NATO-Ruß-land-Rat, dem der NATO-Generalsekretär, der russische NATO-Botschafter sowie -auf Rotationsbasis -ein Botschafter eines NATO-Landes vorsitzen. Mögliche Themen des Rates sind Konfliktverhütung und Krisenmanagement, Vermeidung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Terrorismus, Rüstungskontrolle und nukleare Sicherheit, militärische Doktrinen sowie Planungen für gemeinsame Friedenseinsätze.

Doch auch hier drohen Probleme, sieht Moskau doch seine Mitspracherechte bezüglich künftiger NATO-Politik als weitreichender an, als ihm dies von der Allianz zugestanden wird. Tatsächlich schreibt die Akte vor, daß keine Seite ein Vetorecht über Handlungen der anderen hat.

Wirtschaftliche Integration: Durch die NATO-Erweiterung soll Rußland nicht isoliert werden, im . Gegenteil: Diese sollte genutzt werden, um eine weitere Integration in entsprechende Gremien zu erreichen. Die gleichberechtigte Aufnahme in die G 7 (jetzt G 8) und die während des amerikanisch-russischen Gipfels in Helsinki vereinbarte vertiefte wirtschaftliche Kooperation wurde daher in Moskau sehr begrüßt

Moskau konnte nur an wenigen Stellen seine Interessen durchsetzen, doch scheint vorerst ein Modus vivendi gefunden. Allerdings enthalten die Beziehungen auch einige mögliche Bruchstellen. Dies betrifft in erster Linie die Frage, ob die NATO nach der ersten Welle die Erweiterung fortsetzen und dabei gar ehemalige Sowjetrepubliken aufnehmen will. Damit verknüpft ist das Problem, welche Mitspracherechte Moskau bei der NATO in der Praxis haben wird. Sollte sich in Rußland innenpolitisch doch eine Wende zugunsten von Kommunisten und Nationalisten ergeben, dürfte Moskau den derzeitigen Kurs nicht weiterverfolgen -und wohl auch umgekehrt.

Rußland und die OSZE

Als Kontrapunkt zur NATO-Osterweiterung betonte Moskau sein Verlangen nach einer Stärkung der OSZE. Dies entspricht insoweit russischem Interesse, als die OSZE bislang die einzige Organisation von sicherheitspolitischer Relevanz ist, in der Moskau gleichberechtigt am Tisch sitzt.

Es geschah auf russisches Drängen hin, daß auf dem OSZE-Gipfel in Budapest im Dezember 1994 beschlossen wurde, eine Diskussion über ein auf den KSZE/OSZE-Prinzipien beruhendes Modell für gemeinsame und umfassende Sicherheit im 21. Jahrhundert aufzunehmen. Schon zuvor waren weiterführende russische Überlegungen vorgetra-gen worden. So sollte die OSZE in eine vollwertige Regionalorganisation der UN umgewandelt und ein rechtlich verpflichtender Status für die OSZE verabschiedet werden. Um den Entscheidungsmechanismus effektiver zu machen, schlug Moskau die Errichtung eines Exekutivkomitees mit begrenzter Teilnehmerzahl vor, das gewissermaßen ein Sicherheitsrat für den OSZE-Raum werden sollte.

Doch blieben diese Vorstellungen und Überlegungen oft wenig konkret. Auch hielt sich Rußland selbst nicht an vereinbarte Normen und verstieß in Tschetschenien gegen den gerade zuvor in Budapest verabschiedeten militärischen Verhaltenskodex der OSZE, dem zufolge beim Einsatz von Militär gegenüber der Zivilbevölkerung äußerste Zurückhaltung zu üben ist. Andererseits hat Ruß-land mit der OSZE-Assistenzgruppe in Tschetschenien die Unterstützung bei einem Konflikt auf seinem eigenen Territorium akzeptiert.

Auch in jüngster Zeit wurde die Stärkung der OSZE immer wieder als Ziel russischer Außenpolitik beschrieben. So betonte Ministerpräsident Tschernomyrdin am Rande des OSZE-Gipfels in Lissabon, die OSZE solle die Rolle des Koordinators der Bemühungen aller europäischen und euro-atlantischen Organisationen vereinen. Es solle aber keine Kommandofunktionen der OSZE geben, vielmehr sehe Rußland die OSZE als universales Forum für den Austausch von Meinungen über akute Probleme an, als Organ, das im Namen von ganz Europa schnelle Aktionen der Präventiv-diplomatie unternehmen könne.

Ungeachtet dessen scheint die Bedeutung der OSZE für die Außenpolitik Rußlands eher ab-als zuzunehmen. Dies liegt daran, daß das Konzept der eigenständigen Machtzentren in einer multi-polaren Welt mit multilateral angelegten Organisationen nur schwer vereinbar ist. Entsprechend hat Rußland auf von westlicher Seite vorgetragene Initiativen zur Stärkung des OSZE-Generalsekretärs zurückhaltend reagiert. Als Großmacht unter anderen ist Rußland nicht an multilateraler Einbindung, sondern an Gleichberechtigung mit anderen Großmächten gelegen. Diesen Weg scheint es im Zuge der Verhandlungen mit den USA und der NATO über die zukünftigen Beziehungen zur Atlantischen Allianz und die Gründung eines NATO-Rußland-Rates gefunden zu haben. Er gibt Moskau auch die Möglichkeit, an allen europäischen Sicherheitsbelangen beteiligt zu werden

Perspektiven

Derzeit ist es für eine langfristig angelegte Einschätzung der russischen Außenpolitik noch zu früh. Denn nicht zuletzt wird einiges davon abhängen, ob es dem Reformgespann Tschubais/Nemzow gelingen wird, die Wirtschaft langsam aus der Talsohle zu führen und damit auch die Akzeptanz des politischen Systems zu erhöhen. Sollte dies nicht gelingen, könnte die russische Demokratie in eine schwere Krise geraten, die auch die Außenpolitik nicht unbeeinträchtigt lassen würde.

Doch auch für das derzeitige politische Establishment sind „Großmacht“, „Einflußzonen“ und „Geopolitik“ leitende Begriffe. Als Folge wird Rußlands Interesse an der OSZE als einer Institution nachlassen, wo man gleichberechtigt am Tisch sitzt. Das russische Interesse an gleichberechtigtem Mitreden scheint nunmehr im Zuge der bilateralen Rußland/NATO-Vereinbarung befriedigt.

Dies heißt gleichzeitig, daß die Bedeutung der OSZE bei der Lösung der vielfältigen Konflikte auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion -etwa im Transkaukasus und in Moldawien -eher abnehmen und der russische Einfluß dort drastisch zunehmen wird. Moskau sieht die Region der ehemaligen Sowjetunion als seinen Einflußbereich an, ist in diesem Rahmen aber bereit, mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gute Beziehungen zu unterhalten, wie das Freundschaftsabkommen mit der Ukraine zeigt. Abzuwarten bleibt das westliche Verhalten bezüglich dieser Region, das zwischen Desinteresse und dem Bemühen schwankt, russischen Einfluß zu begrenzen. Sollte der Westen auf Einflußbegrenzung setzen, stehen handfeste Konflikte mit Moskau ins Haus.

Rußland wird seinerseits versuchen, Widersprüche zwischen den USA einerseits und Westeuropa andererseits konsequenter auszunutzen. Es wird darüber hinaus sich mit den angrenzenden asiatischen Großmächten China und Japan ins Benehmen zu setzen versuchen, um sich den Rücken im Westen freizuhalten. Darüber hinaus wird Moskau daran arbeiten, Schwächen der westlichen Politik auszunutzen und seinen Einfluß bei denjenigen Staaten zu vergrößern, die einerseits von ökonomischem Interesse sind, andererseits vom Westen vernachlässigt oder gar marginalisiert werden. Dazu zählen in erster Linie Iran, Irak und Indien. Mit anderen Worten: Moskau wird versuchen, seine Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung mit denjenigen Staaten zu verwirklichen, die sich ebenfalls gegen eine westlich-amerikanische Weltordnung wenden. Allerdings besteht das größte Problem für Moskau hier darin, daß die meisten als Partner auserkorenen Staaten unsichere Kantonisten sind und von Rußland gleichzeitig sogar oft als potentielle Bedrohung wahrgenommen werden. Dies trifft auf China ebenso zu wie auf den radikal-islamischen Iran.

Doch wird Moskau sich nicht unbedingt in eine Position gegen den Westen begeben. Die gegenwärtig an den Hebeln der Macht sitzende Elite in Moskau ist -wie nicht zuletzt die Politik der Schadensbegrenzung im Zuge der NATO-Osterweiterung gezeigt hat -klug genug, um zu wissen, daß die Integration in die Weltwirtschaft zentral für den Fortgang der ökonomischen Reformen und damit für das eigene Überleben ist. Dies korrespondiert mit dem westlichen Interesse, weiterhin mit Moskau auf Gebieten wie Denuklearisierung und Abrüstung zusammenzuarbeiten und den potentiell riesigen russischen Markt für westliche Exporte und Investitionen offenzuhalten.

Ein des öfteren Schwankungen unterworfenes Gemisch aus Kooperation und Konfrontation dürfte die Folge sein. Der Westen sollte aus der bis jetzt noch glimpflich verlaufenden NATO-Osterweiterung jedoch nicht folgern, Moskau durch eine fortgesetzte Erweiterung noch weiter in die Enge treiben zu können. Im Gegenteil: In dem Maße, in dem Rußland seine derzeitige Krise überwindet, könnte es auch gegenüber dem Westen seine Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung offensiver durchzusetzen versuchen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Uwe Halbach, Ein Jahr Primakow, Bilanzen russischer Außenpolitik 1996, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Aktuelle Analysen Nr. 4/1997.

  2. Vgl.den Beitrag von Hans-Hermann Höhmann in diesem Heft.

  3. Vgl. Michael R. Gordon, Russians Are Engaged In a Fierce Debate Over Their Military’s Future, in: International Herald Tribune vom l. März 1997, S. 1; Michael Thumann, Verraten, verladen, verkauft, in: DIE ZEIT, Nr. 11 vom 7. März 1997, S. 3.

  4. Vgl. Andrej Kortunow, Zwischen Imperium und Welt-harmonie. Rußland und das „Nahe Ausland“, in: Internationale Politik, 52 (1997) 1, S. 9-16. Anna Kreikemeyer/Andrej V. Zagorskij, Rußlands Politik in bewaffneten Konflikten in der GUS, Baden-Baden 1997.

  5. Vgl. Olga Alexandrova/Heinz Timmermann, Die Union Rußland -Belarus im Kontext der Intra-GUS-Beziehungen. Teil II: Verstärkte Differenzierungsprozesse in der GUS, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Aktuelle Analysen Nr. 16/1997.

  6. Vgl. Darstellung der im Auftrag Jelzins ausgearbeiteten langfristigen Linie Rußlands gegenüber den baltischen Staaten, ITAR-TASS vom 11. Februar 1997, in: Monitor-Dienst Osteuropa der Deutschen Welle vom 12. Februar 1997, S. 5 f.

  7. Vgl. Can a bear love a dragon?, in: The Economist vom 26. April 1997, S. 19-23.

  8. Vgl. Stimme Rußlands am 15. November 1996, in: Monitor-Dienst Osteuropa der Deutschen Welle vom 18. November 1996, S. 4f.

  9. Vgl. Monitor-Dienst Osteuropa der Deutschen Welle vom 30. August 1996, S. 7; Monitor-Dienst Osteuropa der Deutschen Welle vom 13. November 1996, S. 6.

  10. Vgl. Joint Statement On U. S. -Russia Economic Initiative, in: U. S. Information and Texts vom 25. März 1997, S. 4f.

  11. Vgl. Gore-Chemomyrdin Commission Homepage: Externer Link: http://www.eia. doe. gov/gorec/

  12. Vgl. Andrei Zagorski, Rußlands Erwartungen an Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/97, S. 46-53; Uwe Engelbrecht, Moskau träumt von privilegierten Beziehungen zu Frankreich, in: General-Anzeiger Bonn vom 3. Februar 1997, S. 2.

  13. Vgl. Hans-Henning Schröder, NATO-Öffnung und russische Sicherheit, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Aktuelle Analysen Nr. 2/1997; An-drei Zagorski, Modalitäten der NATO-Osterweiterung, in: Europäische Rundschau, 25 (1997) 1, S. 47-51. Der vollständige Text ist publiziert im Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 43 vom 3. Juni 1997, S. 458-453.

  14. Vgl. Bernard von Plate, Die OSZE -Ein Lieblingskind der russischen Regierung?, unv. Manuskript.

Weitere Inhalte

Oliver Thränert, Dr. rer. pol., geb. 1959; seit 1986 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Außenpolitik im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn; daneben 1990-1993 Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der TH Darmstadt. Veröffentlichungen u. a.: Rüstungssteuerung und Gradualismus: Möglichkeiten und Grenzen einer alternativen Sicherheitspolitik, München 1986; Einseitige Abrüstung? Erfahrungen mit amerikanischen und sowjetischen Initiativen, Frankfurt a. M. -New York 1991; (Hrsg.) Enhancing the Biological Weapons Convention, Bonn 1996; zahlreiche Zeitschriftenartikel und Buchbeiträge zur Sicherheitspolitik im deutschen, anglo-amerikanischen und russischen Sprachraum.