Staat, Bürgertum und Rente im arabischen Vorderen Orient
Peter Pawelka
/ 22 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt die soziopolitischen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Entwicklung in der Arabischen Welt, vor allem das Verhältnis von Staatsklasse und Bürgertum. Konkret geht es um das Schicksal der Staatsklasse im Zeichen abnehmender internationaler Renten, wirtschaftlicher Liberalisierung und Strukturanpassung. Zunächst erfolgt eine Charakterisierung der Entwicklungsstufen, die die politische Ökonomie dieses Jahrhunderts im Nahen Osten geprägt haben. Gefragt wird nach den sozialen Trägern der einzelnen Entwicklungsschübe, der Rolle des Staates im Entwicklungsprozeß, den ökonomischen Schwerpunkten des Wandels und den Gründen für das Scheitern der Entwicklungsprojekte. Unterschieden wird eine bürgerlich-liberale, eine bürokratisch-sozialrevolutionäre, eine bürokratisch-rentenökonomische und eine erneut bürgerlich-liberale Entwicklung. Im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht die Rentenökonomien der Ölstaaten, sondern die strukturell komplexeren Systeme der Semi-Rentiers wie Ägypten und Syrien. Es folgt eine Interpretation der aktuellen Entwicklungstrends. Am Beispiel Ägyptens wird der Einstieg in eine bürgerlich-liberale Entwicklung prognostiziert. Es stellt sich dabei die Frage, wieso die Staatsklasse eine Strukturanpassung betreibt, die ihr die wichtigsten Grundlagen ihrer Herrschaft entzieht: Renten und Patronagemacht. Die Antwort ist, daß Staatsklasse und Bürgertum eine gemeinsame Herrschaft zu etablieren scheinen, in deren Kontext die Staatsklasse verschiedene Funktionen wahrnimmt: Schutz des bürgerlichen Entwicklungsprojekts, Vermittlung zwischen den Fraktionen des Bürgertums und Abstützung der bürgerlich-liberalen Entwicklung durch Renten.
I. Einleitung
Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die soziopolitischen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Entwicklung in der Arabischen Welt. In keiner anderen Weltregion leben die Staatsapparate in einem so hohen Ausmaß von internationalen Renten und Rentenäquivalenten wie hier Internationale Renten sind Einkommen aus überdurchschnittlich guten Bodenverhältnissen, die bei der Produktion mineralischer und agrarischer Rohstoffe auftreten, aus politischen Manipulationen von Marktbedingungen (Monopole, verzerrte Wechselkurse u. a.) und aus finanziellen Zuwendungen als Gegenleistung für die Wahrnehmung spezieller politischer Funktionen Solchen Einkünften steht keine entsprechende gesellschaftliche Investitions-oder Arbeitsleistung gegenüber, so daß sie nicht ständig reinvestiert werden müssen, sondern dem Staat zur freien (politischen) Disposition stehen. Diese besondere Art externer Staatseinnahmen hat den Aufstieg autoritärer Staatsbürokratien oder Staatsklassen begünstigt. Sie hat die politischen Regime des Vorderen Orients in hohem Maße gegenüber der eigenen Gesellschaft autonom werden lassen und die sozioökonomische und politische Entwicklung der Region blockiert. Doch seit den achtziger Jahren sank das Renteneinkommen. Seither bemühen sich die politischen Eliten um ein Krisenmanagement, das auf privatwirtschaftliches Engagement und „Strukturanpassung“ an die globalen Regeln der Weltökonomie setzt, damit aber gleichzeitig eine neue starke Klasse entstehen läßt, die ihnen als Konkurrent entgegentritt: das Bürgertum.
Die aktuelle wirtschaftspolitische Frage, die sich nun regional stellt, lautet: Erzwingt die Globalisierung der wirtschaftlichen Entwicklung auch in den rentengespeisten Staaten des Vorderen Orients eine Restauration bürgerlicher Herrschaft? Etwas weniger spekulativ, dafür aber im Kontext der neueren sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion zur Rentenproblematik wäre auch zu fragen: Unter welchen Bedingungen können Rentierstaaten eine kapitalistische Entwicklung einleiten, und wie vollzieht sich eine solche Transformation?
Beide Fragestellungen werde ich nicht völlig zufriedenstellend beantworten können. Dazu sind die realen Wandlungsprozesse im Vorderen Orient noch zu vage und die Vergleichende Systemforschung der Region befindet sich erst in den Anfängen. Ich werde in diesem Beitrag jedoch dreierlei versuchen: 1. eine strukturelle Charakterisierung der historischen Entwicklungsstufen der Region in diesem Jahrhundert, 2. eine Interpretation der aktuellen Entwicklungstrends im dynamischen Zentrum der Region und 3. eine funktionale Begründung der zukünftig wahrscheinlichen Klassenkonstellation und des Verhaltens der politischen Eliten.
Ziel dieser Überlegungen ist nicht, die große Vielfalt sozioökonomischer Entwicklungen vom Maghreb bis zum Golf in all ihren Verwerfungen darzustellen. Es geht mir vielmehr darum, die Hauptmerkmale der am höchsten ausdifferenzierten Entwicklungsprozesse in der Region paradigmatisch zu erfassen (Ägypten und Syrien) und sie für die Theoriebildung nutzbar zu machen. Damit sind jene Systeme gemeint, die schon seit dem frühen 19. Jahrhundert in die Weltwirtschaft integriert worden sind und deshalb auch den komplexesten Strukturwandel und die ausgeprägtesten Klassengegensätze entwickelt haben. Prägend für die Entwicklungsprozesse dieser Gesellschaften in unserem Jahrhundert ist ein Antagonismus von Bürgertum und Staatsklasse, dem auch diametral entgegengesetzte Entwicklungsprojekte zugeordnet werden. Dementsprechend müßte der Wechsel der wirtschafts-und entwicklungspolitischen Strategie auch zum politischen Untergang ihrer jeweiligen Träger führen. Aus dieser Überlegung heraus interessiert mich ganz konkret, wie es sich erklären läßt, daß die Staatsklassen heute eine Struktur-anpassung betreiben, die ihnen die wichtigsten Grundlagen ihrer Herrschaft entzieht: Renten und Patronagemacht. Ist eine solche Suizidthese plausibel? Im Vorderen Orient dieses Jahrhunderts kann man drei unterschiedliche Entwicklungsperioden unterscheiden, wobei die eine in zwei deutlich entgegengesetzte Ansätze zerfällt. Diese Periodisierung (vgl. Schaubild) beruht auf einer Kombination von zwei Kriterien: zum einen der Rolle des Staates im Entwicklungsprozeß, zum anderen der Art der Ressourcenbeschaffung, die dem Entwicklungsprojekt zugrunde liegt. Ein solches Strukturierungsprinzip verdeutlicht Überschneidungen von Entwicklungsphasen, die in der Literatur nicht allzu oft erkannt werden. Die angesprochenen Entwicklungsperioden sind: -eine bürgerlich-liberale Entwicklung (zwanziger bis fünfziger Jahre)
-eine staatskapitalistisch-bürokratische Entwicklung a) sozialrevolutionär-autonome Phase (fünfziger bis sechziger Jahre)
b) rentenökonomisch-integrative Phase (siebziger bis achtziger Jahre)
-eine erneute bürgerlich-liberale Entwicklung (seit den neunziger Jahren)
Nicht alle Staaten der Region folgten diesem Entwicklungsmuster; manche taten dies nur partiell, andere zeitlich verschoben, in einigen traten strukturelle Verwerfungen auf, doch für die ganze Region spielten die Erfahrungen aus diesen Aufbrüchen eine zentrale Rolle im strategischen Denken ihrer Eliten
Der Vordere Orient war seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Imperialismus der europäischen Großmächte als agrarischer Rohstoffproduzent und Importeur europäischer Industriewaren in das Weltwirtschaftssystem integriert worden. Die Schwerpunkte dieser extern durchgesetzten Modernisierung der orientalischen Ökonomien lagen in der Landwirtschaft und im Außenhandel. Im Kontext dieser wirtschaftlichen Dynamik und mit Unterstützung der europäischen Mächte entstand eine neue Klasse, eine Agrar-, Handels-und Finanzbourgeoisie. Diese erkämpfte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Unabhängigkeit ihrer Länder. Von Teilen dieses Bürgertums, das nunmehr auch das politische System beherrschte, gingen die ersten nationalen Entwicklungsschübe im Vorderen Orient aus (Ägypten, in den dreißiger und vierziger Jahren, Syrien und Irak in den fünfziger Jahren). Sie betrafen die Mechanisierung der Landwirtschaft und erste Ansätze einer importsubstituierenden Industrialisierung (Nahrungsmittel-und Textilindustrie, Baumaterialien, Metall-und Chemieprodukte und einige gehobene Konsumgüter). II. Die bürgerlich-liberale Entwicklung Das Scheitern dieser ersten Entwicklungsimpulse wurde in der politischen Diskussion dieser Länder, aber auch in der wissenschaftlichen Forschung generell auf die Unzulänglichkeiten des Bürgertums zurückgeführt. Genannt wurden die vorkapitalistischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Unternehmer (Absentismus, d. h. die Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Güter durch die Großgrundbesitzer, Vorrang politischer Aktivitäten, Streben nach dem schnellen Gewinn, irrationale Ausbeutung der Bauern und Arbeiter, Selbstprivilegierung u. a.), ihre freiwillige Unterordnung unter die westlichen Kapitalinteressen und ihr nationaler Verrat (Aufgabe von Souveränitätsansprüchen, Grenzen u. a.). Demgegenüber haben die zeitgeschichtliche Forschung der letzten Jahre und eine revisionistische Interpretation jener Periode gezeigt, daß viele arabische Unternehmer durchaus kapitalistisch dachten, innovativ waren, ihr Kapital kooperativ und dynamisch einsetzten und auch Erfolge hatten. Darüber hinaus gab es zahllose Interessengruppen, Gewerkschaften, politische Parteien und Bewegungen, die einen sozialpolitischen Aufbruch anzeigten, dessen Dynamik auch für die Entwicklung von Massenkaufkraft hätte funktional sein können. Es war nicht das Unvermögen des arabischen Bürgertums, das die ersten Entwicklungsschübe zum Erliegen brachte, sondern eine Kombination zentraler struktureller Interessengegensätze -die Vorherrschaft des Agrarsektors innerhalb des Bürgertums, der auf ein offenes Wirtschaftssystem angewiesen war und für Protektionismus kein Verständnis hatte (ohne Schutzzölle und andere Hilfestellungen keine Industrieentwicklung),
-das politische Übergewicht des Großgrundbesitzes, der jede soziale Besserung der (ländlichen)
Massen bekämpfte und damit die Entwicklung eines nationalen Marktes hintertrieb und -die nationalistische Mobilisierung der Massen durch die gebildeten Mittelschichten (über Bildung aufgestiegene Sozialgruppen) gegen das Bürgertum (private Unternehmer), die das Investitionsklima verschlechterte und große Teile des international eingestellten Bürgertums (lang ansässige Ausländer, Minoritäten, Kosmopoliten) verunsicherte. Die wirtschaftlichen Leistungen des damaligen Bürgertums und die Gründe ihres Scheiterns sind den heutigen Akteuren wohl bewußt und spielen für ihr strategisches Denken eine wichtige Rolle.
III. Die bürokratisch-sozialrevolutionäre Entwicklung und die Ölrente
Der zweite Entwicklungsschub ging vom Staat aus Bürokratische Randgruppen hatten das gescheiterte Bürgertum entmachtet (Revolution von oben) und zum Teil sogar beseitigt und sich als Staatsklasse etabliert (Ägypten 1952, Syrien 1963 u. a.). Ihr Ziel war es, die Landwirtschaft durch Reformen zu modernisieren und ihre Gewinne zugunsten der Industrialisierung abzuschöpfen. Schwerpunkt der Entwicklungsstrategie war eine importsubstituierende Industrialisierung in den Bereichen gehobener Konsumgüter und Zwischenprodukte. Gleichzeitig versuchten die Regime, durch massive Einkommensstreuung Massenkaufkraft für Industriewaren zu schaffen, die von der eigenen Industrie produziert werden sollten. Zu solchen rigorosen politischen Eingriffen in die Ökonomie und in die Sozialstruktur waren nur gesellschaftlich unabhängige Staatsklassen in der Lage. Regime, die vom Bürgertum, ausländischen Kapitalinteressen und deren wirtschaftlichem Wohlergehen abhängig sind, hätten eine derartige Reorganisation der bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zustande gebracht. Dieses staatliche Entwicklungsprojekt löste zwar eine relativ komplexe Industrialisierung aus (vor allem in Ägypten), scheiterte aber letztendlich ebenfalls.
Wenn wir die Vielzahl ineinandergreifender Faktoren auflösen, so können wir als zentrale Ursachen dieses Scheiterns festhalten: -die Begrenztheit des staatlichen Eingriffs in die Sozialstruktur; die politische Privilegierung der Mittelschichten verhinderte, daß ein breiter Markt für einfachere Konsumgüter entstand und dynamisierte indessen technologisch höher entwickelte, kapitalintensive Branchen, deren Importbedürfnisse (Produktionsmittel, Rohstoffe, u. a.) nicht finanziert werden konnten, -die Diskriminierung der traditionellen Exporte und Exportmärkte als Reflex auf die Zerstörung imperialistischer Abhängigkeiten und einer vom Weltmarkt autonomen Wirtschaftsentwicklung,
-die zunehmende Abstützung des Entwicklungsprojektes durch politische Renten (Entwicklungshilfe), deren Einwerbung (Balancieren zwischen Ost und West) eine kostspielige regionale Großmachtpolitik erforderlich machte und -die militärische Niederlage gegen Israel 1967, die dem autonomen Entwicklungsprojekt endgültig die finanzielle Grundlage entzog.
Am Ende der sechziger Jahre drohten die Revolutionsregime unter der Last der wirtschaftlichen Verhältnisse, die eine Legitimationskrise auslösten, zusammenzubrechen. Sie hatten die Wahl, ihre soziale Revolution zu vertiefen (Koalition mit den Unterschichten) oder aufzugeben. In dieser Situation rettete sie die Ölrente. Oder anders ausgedrückt: die Anpassung an die Realitäten der Weltökonomie konnte noch einmal aufgeschoben werden. Um dies zu verstehen, müssen wir den wirtschaftlichen Wandel im Vorderen Orient berücksichtigen.
Bis zum Zweiten Weltkrieg lag der Schwerpunkt sozioökonomischer und politischer Entwicklung in den Agrarzentren der Region. Danach konzentrierte sich das Interesse des Weltwirtschaftssystems auf die bis dahin peripheren Ölstaaten Die langsam wachsende Ölrente löste in ihnen ganz allmählich sozioökonomische Veränderungen aus und stürzte sie von 1970 bis 1973 (Ölpreisrevolution) mit einem Schlag in eine völlig neue finanzwirtschaftliche Dynamik. Es entstanden klassische Rentierstaaten, die ihr Einkommen fast ausschließlich aus dem Ölexport bezogen und damit zum Motor sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung wurden. Sie verwendeten ihr Einkommen zur Stabilisierung und Modernisierung ihrer traditionellen Regime, zur Errichtung von Wohlfahrtsstaaten, zum Aufbau einer Handels-und Dienstleistungsökonomie und später auch zu einer Industrialisierung, die sich auf Erdölprodukte und energieintensive Produktionsprozesse spezialisierte.
Vor der Erdölrente besaßen die Gesellschaften der Ölländer nur rudimentäre zentralstaatliche Strukturen und nur Ansätze eines modernen Bürgertums (Händlerschichten). Die Ölrente stellte die westlichen Entwicklungsmuster geradezu auf den Kopf: Hier war es nicht die Gesellschaft und ihre herrschende Klasse, die den modernen Staat schufen, sondern der durch externe Einnahmen entstandene Staat produzierte durch seine Renten-allokation nach innen erst die modernen Schichten und Klassen seiner Gesellschaft, u. a. auch das Bürgertum Wir wenden uns aber wieder dem zentralen Entwicklungsstrang zu.
Die neue Dynamik in den Ölstaaten Anfang der siebziger Jahre, ihr finanzielles Engagement in der Region zur Stützung ihrer Außenpolitik und die Interventionen des Westens zur Stabilisierung der Region insgesamt führten zur Regionalisierung der internationalen Rentenflüsse. Für die ehemaligen revolutionären Entwicklungszentren bedeutete dies die Chance, Anschluß an die internationalen Rentenströme zu erhalten. Ihre Staatsklassen paßten sich den neuen Bedingungen an und retteten ihre Regime durch Kooperation mit den Ölstaaten und dem Westen. Sie wurden zu Semi-Rentiers: Staaten, die ihr Einkommen aus einem Mix von Steuern, Abgaben, eigenem Erdöl-einkommen und vor allem politischen Renten (Entwicklungshilfe, Ausgleichszahlungen, finanzielle Geschenke, günstige Kredite u. a.) beziehen.
IV. Die bürokratisch-renten-ökonomische Entwicklung
Der dritte Entwicklungsschub war einer wirtschaftlichen Kooperation von Staat und Privatwirtschaft bei der Einwerbung von Renten zu verdanken -auf der einen Seite bemühte sich Ägypten darum, eigene Rentenpotentiale zu entwickeln (Erdölrente, Lagerente über Suez-Kanal, Pipelines und Tourismus) und politische Renten einzuwerben: als „Frontstaat“ gegenüber Israel, als Friedensstifter, als Kontrollmacht im Libanon, als Garant einer säkularen Politik oder auch als gesellschaftlich-kulturelle Größe in der Region, -auf der anderen Seite öffnete er Individuen und Gruppen seiner Gesellschaft den Zugang zum eigenständigen Rentenerwerb; dazu gehörte die Arbeitsmigration und eine breite Förderung privatwirtschaftlicher Initiativen zur Einwerbung ausländischer Kredite, Beteiligungen, Investitionen und Projekte -von Jointventures, angefangen über städtebauliche Restaurationsprojekte bis zur karitativen Hilfe.
Ende der siebziger Jahre war die Wirtschaftskrise dank zahlloser externer Kapitalspritzen überwunden. Der Schwerpunkt des neuen Wirtschaftswachstums lag jetzt im Dienstleistungsbereich, bei der kommerziellen Landwirtschaft, im Immobiliengeschäft, Bauwesen, Kleingewerbe sowie in der Rohstoffproduktion. Dagegen stagnierte der staatliche Industriesektor und signalisierte so das Scheitern der importsubstituierenden Industrialisierung. Weder das ausländische Kapital noch die einheimische Privatwirtschaft waren an langfristigen produktiven Investitionen interessiert. Zum einen gab es sicherere und weniger überbürokratisierte Produktionsstandorte, zum anderen verteuerte der Rentenfluß die Güter der produktiven Sektoren und machte den Dienstleistungssektor für Investitionen attraktiver
Vor diesem wirtschaftspolitischen Hintergrund verschoben sich die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Der Staat war auf privatwirtschaftliche Initiativen immer stärker angewiesen, da die westlichen Industriestaaten, vor allem die USA, und die internationalen Finanzinstitutionen ihre Finanzhilfen oder Kreditgarantien überwiegend zugunsten privater Geschäftsleute und Institutionen geben wollten. Ein neues, noch relativ heterogenes Bürgertum entstand Überlebende der vorrevolutionären Bourgeoisie kehrten aus dem Ausland zurück oder verließen ihre vielfältigen Nischen, in denen sie vor dem politischen Sturm Schutz gesucht hatten. Staatliche Manager des Außenhandels nutzten die Gelegenheit, sich selbständig zu machen. Mitglieder der Staatsklasse engagierten sich nebenberuflich oder als stille Teilhaber (seltener nach dem Ausstieg aus dem Staatsdienst) im privaten Geschäftsleben und wurden auch über Heiratsbeziehungen Mitglieder der neuen Klasse. Daneben gab es selfmade-men, die den Aufstieg zum Firmengründer oder Vermittler ausländischer Kapitalinteressen auch ohne traditionellen Hintergrund oder staatliche Stütze schafften. Aus dem Kleingewerbe des Bazars stiegen ebenfalls verschiedene Familien auf. Und schließlich entstand im Umfeld der Gastarbeiterüberweisungen ein privates Banken-und Versicherungskapital, das einen weiteren Teil des neuen Bürgertums repräsentiert.
Wollte der Staat die Aktivitäten dieses Bürgertums fördern, um so die wirtschaftlichen Prozesse zu stabilisieren, mußte er auch auf die politischen Interessen dieser Schichten eingehen und ihnen Spielräume und Einfluß im Kontext politischer Parteien, Interessengruppen und im Parlament einräumen Vor allem in Ägypten entfaltete das Bürgertum im politischen Bereich eine Dynamik, die vielfach als das Entstehen einer Zivilgesellschaft interpretiert wurde
Aber die Staatsklasse hielt nach wie vor ihr Herrschaftsmonopol aufrecht, auch wenn ihre finanzielle Basis extrem schmal geworden war. Immerhin konnte der Staat bis weit in die achtziger Jahre hinein durch Nahrungsmittelsubventionen und Beschäftigungspolitik eine Art von Sozialpakt mit den Massen aufrecht erhalten (Legitimation). Doch die Stabilität des Regimes hing jetzt völlig vom Ausmaß der Renteneinwerbung ab und davon, welchen Anteil dieser Renten der Staat für sich sichern konnte. Aus den Revolutionären von einst waren Renten-Hausierer geworden. Hinzu kam, daß die Auszehrung der staatlichen Ressourcen zugunsten des Privatkapitals die Patronagemacht des Regimes so einschränkte, daß es kaum noch sein eigenes Personal finanzieren konnte. Der Staat war gezwungen, die Einkünfte, Pensionen und Selbstprivilegierungschancen seiner bürokratischen Klientele systematisch auf gesellschaftliche Gruppen und Institutionen zu verlagern Je nach Status innerhalb der staatlichen Bürokratie wurden politischen Funktionären, Beamten und Offizieren gut dotierte Posten in der Privatwirtschaft besorgt und vielfältige Bereicherungsmöglichkeiten auf Kosten der Gesellschaft zugestanden. Zwar mußte dies von den gesellschaftlichen Akteuren hingenommen werden, es stärkte jedoch gleichzeitig die Spielräume und die Verhandlungsmacht des Bürgertums gegenüber der Staats-klasse. Die Schwäche der politischen Elite wurde seit den achtziger Jahren von den USA und den internationalen Finanzinstitutionen genutzt, um sie zur Liberalisierung des Wirtschaftssystems und zur strukturellen Anpassung an eine exportorientierte Ökonomie zu bewegen. Instrumental für diesen Druck war eine Verschuldung, die von der Reagan-Administration auch mit politischen Zielsetzungen noch forciert wurde. Doch die Staats-klassen entwickelten immer noch eine starke Gegenwehr. Auch aus einer Verteidigungsposition heraus gelang es ihnen, stets neue Renten zu kassieren, die Auflagen der Geberländer aber zu hintertreiben und sowohl externe wie interne Gegenspieler zu neutralisieren. Letztendlich wurden die Semirentiers aber vom Ölpreisverfall, vom Ende des Ost-West-Gegensatzes (Abnahme politischer Renten) und von der internen Auszehrung der staatlichen Ressourcenbasis so geschwächt, daß sie sich erneut den internationalen Finanzorganisationen zuwenden mußten. Trotz verschiedener Kriegsdividenden Anfang der neunziger Jahre (Zweiter Golfkrieg) begann damit der Einstieg in eine neue Entwicklungsperiode. Dabei übernahm Ägypten erneut die Vorreiterrolle.
V. Die Restauration bürgerlicher Herrschaft?
Ägypten kannte die Bedingungen der internationalen Finanzorganisationen für Hilfe in der Krise sehr gut. Es hatte bereits in den siebziger und achtziger Jahren Teilreformen zugestimmt, war aber vor den Konsequenzen immer wieder zurückgeschreckt. In den achtziger Jahren waren Liberalisierungs-und Sparmaßnahmen sowie die Privatisierung des öffentlichen Sektors diskutiert worden Doch ohne Resultat. Die Staatsklasse fürchtete politische Risiken, den Verlust der letzten Patronagehöfe und Renten und die Abhängigkeit vom Bürgertum.
Zu Beginn der neunziger Jahre hatte die ägyptische Führung aber keine andere Wahl mehr. Die bürokratischen Klientele schrumpften mehr und mehr, und die Sozialpolitik gegenüber den Unter-schichten drohte zur Domäne der islamistischen Opposition zu werden Das Bürgertum wiederum war schon in einigen Teilen zu einer kohäsiven Kraft verschmolzen und drängte auf den Ausgleich mit dem internationalen Kapital. Gläubiger, inter-nationale Organisationen und die USA forderten unerbittlicher denn je Strukturanpassungen als Voraussetzung für neue Kredite, Finanzhilfen und einen Schuldenerlaß. Und sie machten jede Teil-ausschüttung von konkreten Reformschritten abhängig.
Seit 1991 ist eine tiefgreifende Haushaltssanierung und Handelsliberalisierung im Gange Um die Exportchancen seiner Wirtschaft zu verbessern (Marktzugang zu den Industriestaaten), verpflichtete sich der ägyptische Staat in internationalen Verträgen (GATT, EG) zu einer radikalen Deregulierung des Außenhandels. 1996 übernahmen die Reformer innerhalb der Staatsklasse das Kabinett (Premier Kamal al-Ganzouri), und jetzt begann auch der Einstieg in die Privatisierung des öffentlichen Sektors, wobei nicht einmal Staatsbanken ausgeschlossen bleiben sollen.
Die eingeleiteten Reformen und die daraufhin bewilligten Kapitalhilfen haben die Wirtschaft Ägyptens Mitte der neunziger Jahre wieder „stabilisiert“. Das erneute Wirtschaftswachstum war vor allem den zunehmenden Investitionen der Privatwirtschaft zu verdanken. Es lag nach wie vor zuerst im Dienstleistungsbereich. Doch investierte die Privatwirtschaft neuerdings auch verstärkt im Industriesektor. Im Exportgeschäft hatten sich die Produkte der Baumwollindustrie nach vorne geschoben und lagen zusammen mit einigen Industriewaren mit dem Erdölexport fast gleich auf. Inwiefern allerdings der Dienstleistungssektor und die exportorientierte Industrie in der Lage sein könnten, die wachsenden Arbeitsmarktprobleme zu lösen, die Importrechnung zu begleichen und eine breitere wirtschaftliche Dynamik auch nach innen (Massenmärkte) auszulösen, ist nicht nur umstritten, sondern auch wenig wahrscheinlich. So werden Exportindustrie und Dienstleistungssektoren auch im Rahmen einer erweiterten Liberalisierung des Welthandels mit Kontingentierungen und starker Konkurrenz rechnen müssen. Sie werden unter diesem Druck nur wenige Arbeitskräfte einstellen können und damit weder interne Massenmärkte fördern noch zur Eindämmung der zunehmenden Arbeitslosigkeit beitragen.
Zwar lassen auch heute Verzögerungen und Widersprüche innerhalb des Reformkurses erkennen, daß der Widerstand von Teilen der Staats-klasse keineswegs überwunden ist. Darüber hinaus scheint der Staat der Privatwirtschaft auch Teile seines Personals (Manager) aufzwingen zu wollen, was den Privatisierungsprozeß wieder verlangsamt hat. Doch scheint mir die Strukturreform schon zu weit fortgeschritten zu sein, um noch einmal ernsthaft angehalten werden zu können. Es ist demnach angesichts der rasanten Entwicklung in den neunziger Jahren zu fragen, ob es für die Staatsklasse bald noch möglich sein wird, über Renten und Patronage autonom zu bestimmen. Wie läßt sich aber erklären, daß die ägyptische Staatsklasse eine Strukturanpassung betreibt, die ihr diese zentralen Grundlagen ihrer Herrschaft entzieht? Führt die Strukturanpassung tatsächlich zum politischen Suizid der Staatsklasse?
Zunächst könnte man vermuten, daß sie unter dem Druck der internationalen Akteure keine andere Wahl hat. Doch ein solcher externer Zwang ist empirisch nicht belegbar Die institutioneilen Eigeninteressen der internationalen Finanzorganisationen, die Interessenwidersprüche innerhalb der Staaten, die an den Kapitaltransfers beteiligt sind und die Flexibilität der politischen Elite in Ägypten lassen das-Zustandekommen einer gewaltsamen Politik, der sich die Staats-klasse beugen müßte, unwahrscheinlich werden. Eine zweite Annahme könnte sein, daß die Staats-klasse im Begriff ist, im Bürgertum aufzugehen, und daher bereits die neuen Interessen vertritt. Diese Überlegung ist um einiges realistischer als die erste. Zweifellos gibt es empirische Daten, wonach sich Teile der Staatsklasse bereits seit langem innerhalb der Bourgeoisie etabliert haben
Zusammen mit den Resten des alten Bürgertums und den Außenhandelsfunktionären der NasserÄra bilden die Bürokraten sogar das integrierte Zentrum innerhalb der Bourgeoisie. Aber die Staatsklasse ist viel größer, und das Bürgertum kann unmöglich alle ihre Teile absorbieren. Also müßte es zu ernsten Konflikten innerhalb der Staatsklasse kommen, wenn ihr dynamischer Teil den Rest abzuwerfen und zu marginalisieren versuchte. Auch dafür haben wir empirische Belege. Innerhalb der Staatsklasse finden massive Verdrängungskonflikte statt, die sich u. a. an der Entmachtung von Gremien, am Austausch des Personals von wichtigen Organen und Institutionen (Kabinett, Privatisierungsausschuß) und an der Einschränkung gleichgewichtiger Positionen innerhalb der politischen Elite festmachen lassen. Doch scheinen mir diese Konflikte eher auf strategische Weichenstellungen zurückzuführen sein, als auf die Liquidation von Teilen der eigenen Klasse, wie dies in bürokratischen Umbrüchen häufig der Fall war (Meiji-Restauration in Japan, kemalistische Revolution in der Türkei).
Entscheidend für das Verhalten der Staatsklasse dürfte sein, daß sie erstens ihre Legitimität und Herrschaft schwinden sieht, zweitens das bürgerliche Entwicklungsprojekt für eine ökonomisch durchführbare Alternative zur gegenwärtig stagnierenden Rentenökonomie hält und drittens innerhalb dieser bürgerlichen Entwicklungsstrategie für sich Funktionen wahrnimmt, die ihr zumindest Teile der politischen Macht garantieren. Staatsklassen der Semirentiers im Vorderen Orient können ihr „muddling through“ tatsächlich nicht auf Dauer aufrecht erhalten. Es droht ihnen, zwischen den Imperativen der gesellschaftlichen Grundbedürfnisse (Arbeit, Lebensstandard u. a.), der politischen Oppositionsbewegungen und der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zerrieben zu werden. Unter diesen Umständen erscheint den Staatsklassen die „Strukturanpassung“ eine vernünftige Alternative.
Zum einen verfügt die ägyptische Wirtschaft über mehrere positive Voraussetzungen: eine relativ diversifizierte Ökonomie, ein aktives Unternehmertum, ein zwar anpassungsbedürftiges, doch relativ hoch entwickeltes Humankapital und ein Angebot exportfähiger Güter, das gesteigert werden könnte. Diese Bedingungen lassen eine Dynamisierung der Wirtschaft qua Liberalisierung erfolgversprechend erscheinen, zumal sie von den ausländischen Akteuren unterstützt wird. Zum anderen aber, und das ist für die politischen Eliten von zentraler Bedeutung, braucht das Bürgertum die Staatsklasse, um ihr Entwicklungsprojekt durchzusetzen. Anders ausgedrückt: das Bürgertum ist im Vorderen Orient (noch) zu schwach, um seine sozioökonomischen Aktivitäten politisch abzusichern, und das ist sowohl dem Bürgertum als auch der Staatsklasse bewußt. Daher ist es auf eine Koalition mit den bürokratischen Kräften angewiesen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang drei Funktionen nennen, die von der Staatsklasse zukünftig im Rahmen einer bürgerlichen Entwicklung wahrgenommen werden könnten: 1. Schutz des bürgerlichen Entwicklungsprojekts Eine Koalition des Bürgertums und der Staats-klasse hätte die Funktion, eine nationalistische Mobilisierung der Massen gegen die international orientierte Bourgeoisie zu verhindern. Weder nach der Unabhängigkeit noch heute ist es den bürgerlichen Parteien, Verbänden und Bewegungen geglückt, in den unteren Mittelschichten und
Unterschichten der orientalischen Gesellschaften Fuß zu fassen. In den dreißiger bis fünfziger Jahren war es eine der zentralen Schwächen der bürgerlichen Entwicklung, daß es dem „Kapital“ nicht gelang, die nationalen Bewegungen an sein Entwicklungsprojekt zu binden. Damals waren es die Repräsentanten der gebildeten Mittelschichten, die die Massen gegen den bürgerlichen Staat mobilisierten und diese später in den fünfziger und sechziger Jahren neutralisierten. Heute konkurriert die Staatsklasse mit den Islamisten um die Kontrolle der Unterschichten. Die neue Bourgeoisie, vor allem ihre dynamischen, internationalen Teile, hat weder organisatorisch, noch ideologisch oder programmatisch Zugang zur breiten Bevölkerung. Sicherlich hat es der Staat bisher verstanden, die Aktivitäten der politischen Parteien und Verbände von den unteren Teilen der Gesellschaft fernzuhalten. Doch haben weder Bourgeoisie noch der ansonsten nicht interventionsscheue „Westen“ versucht, die eigenständige Organisationsfähigkeit der Unterschichten zu fördern oder ihre Partizipationsbedürfnisse zu wecken. Insofern sind das Bürgertum und seine Entwicklungspolitik nur allzu-leicht zur Zielscheibe national-islamistischer Bewegungen und Angriffe geworden. Ohne die Staatsklasse könnte das Bürgertum nur mit Repression reagieren. Die Staatsklasse dagegen verfügt über ein viel breiteres Spektrum der politischen Manipulation. Es ist ganz offensichtlich, daß Bürgertum und Staatsklasse ähnlich elitäre Einstellungen gegenüber den unteren Bevölkerungsschichten haben. Dementsprechend wäre eine Arbeitsteilung, die der Staatsklasse die politische Absicherung der Entwicklung zuordnen würde, im Interesse beider. 2. Vermittlung zwischen den Fraktionen des Bürgertums Die neue Bourgeoisie im Vorderen Orient ist heute noch ein heterogenes Konglomerat, das nicht nur kulturell und abstammungsmäßig, sondern auch entwicklungspolitisch gespalten ist. Während ein Teil auf die vom Westen propagierte exportorientierte Entwicklung gesetzt hat, suchen andere Teile ihre Chance auf dem einheimischen Markt. Die Verfechter des Exports können nicht daran interessiert sein, daß ihr Ausbau konkurrenzfähiger Wirtschaftspotentiale durch gesellschaftliche Virulenzen und Forderungen gestört wird. Sie sind für eine strikte Kontrolle der Massen. Demgegenüber müssen die Anhänger des Binnenmarktes an einer größeren Massenkaufkraft interessiert sein, die am besten durch starke Interessengruppen und Parteien erkämpft werden kann. Also sucht dieser Teil des Bürgertums nach gesellschaftlichen Verbündeten. Als dritte Gruppe innerhalb des Bürgertums müssen noch diejenigen Unternehmer genannt werden, die ihre Erfolge bisher ausschließlich ihren Beziehungen zur Staatsklasse zu verdanken hatten (Monopole, Subventionen). Die Staatsklasse nimmt heute immer mehr die Aufgabe wahr, zwischen diesen Interessengegensätzen zu vermitteln, sie voreinander zu schützen und sich dadurch als neutrale Kraft unentbehrlich zu machen. Sie könnte in Zukunft die Existenz mehrerer widersprüchlicher Kapitalfraktionen sichern und die wirtschaftspolitische Flexibilität des Gesamtsystems erhöhen, indem sie je nach den internationalen Bedingungen die eine oder die andere Gruppierung des Bürgertums fördert. Heute ist es zweifellos das exportorientierte Kapital, das privilegiert wird. Doch muß es so bleiben? Oder könnte die Staatsklasse nicht auch in die Rolle einer aktiven Kraft hineinwachsen, die spezifische Wirtschaftssektoren gegen die vorhandenen Marktinteressen aufbaut und später an die internationalen Rahmenbedingungen systematisch anpaßt? Solchen Aufgaben wäre der Staat als Repräsentant einer einzelnen Kapitalfraktion des Bürgertums nicht gewachsen. Die Staatsklasse könnte ihre Vermittlerrolle allerdings nur so lange erfüllen, wie das Bürgertum gespalten ist und es dadurch keinem ihrer Teile gelingt, eindeutig die Oberhand zu gewinnen. Als Vermittler erringt die politische Bürokratie eine Autonomie, die sie auf unterschiedlichste Art und Weise nutzen kann. 3. Abstützung bürgerlicher Entwicklung durch Renten Liberalisierung, Strukturanpassung und Export-orientierung können in einigen Staaten des Vorderen Orients sektorale und temporäre Dynamisierungen der Wirtschaft erzeugen. Auf dieser Grundlage ist es auch möglich, ihre politischen Regime immer wieder zu „stabilisieren“. Aber es ist wenig wahrscheinlich, daß es dieser Wirtschaftspolitik gelingen dürfte, so hohe Gewinne zu erwirtschaften, daß damit die Importbedürfnisse der Gesellschaft befriedigt und die soziale Explosivität eingedämmt werden könnten. Die Semirentiers werden also trotz Liberalisierung und Strukturanpassung auch weiterhin auf internationale Renten angewiesen sein. Zumindest, um die sozialen Folgen der Dynamisierung abzufedern. Wie schwer es für die Repräsentanten einer liberal-bürgerlichen Entwicklung ist, durch Sozialpolitik ihr Projekt abzusichern, zeigt die Begrenztheit des von der Weltbank in Ägypten aufgelegten „Sozialfonds für Entwicklung“. Diese Lücke ist für die Staatsklasse funktional. Sie ist auf die Einwerbung von Renten spezialisiert und sie hat gelernt, dieses Einkommen primär nach politischem Nutzen zu verwenden. Innerhalb einer Koalition von Bürgertum und Staatsklasse würde letztere unter dem übergeordneten Aspekt der Systemerhaltung versuchen, die härtesten Folgen marktwirtschaftlicher Entwicklung nicht nur repressiv, sondern vor allem auch allokativ einzudämmen.
Die Staatsklassen der orientalischen Semirentiers haben sich in den letzten Jahrzehnten oft unter schwierigsten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen an der Macht gehalten. Unter dem Druck weltwirtschaftlichen und internationalen Wandels mußten sie sich auf Reformstrategien einlassen, die ihre Herrschaftsmonopole erodierten. Sie haben sich dabei ihrer Rentenbasis aber nur unter der Bedingung berauben lassen, daß ein Bestandserhalt ihrer Herrschaft in der neuen Konstellation, einem Kondominium von Bürgertum und Staatsklasse, garantiert blieb. Auf diesem theoretischen Hintergrund könnten sich in absehbarer Zeit in den arabischen Staaten Regime mit einer soziopolitischen Konstellation herausbilden, die der türkischen in den sechziger und siebziger Jahren entsprechen auch dort hatte die (kemalistische) Staatsklasse innerhalb einer liberal-bürgerlichen Entwicklung die Aufgabe übernommen, die geeigneten politischen und sozialen Rahmenbedingungen dieses Projekts abzusichern. Auch wenn die Umstände damals andere waren, so lassen sich an diesem Beispiel Nutzen und Dysfunktionen solcher Koalitionen gut studieren.
Wie sich das Verhältnis von Bürgertum und Staats-klasse in solchen Konstellationen entwickelt, ob die Staatsklasse relativ autonom bleibt oder von gesellschaftlichen Kräften durchdrungen wird und welche ideologischen und strategischen Konzepte sich herausbilden können, das hängt allerdings von empirischen Strukturen ab, die von System zu System variieren. Dabei kann man ebensowenig ausschließen, daß sich Koalitionen herausbilden, die sowohl Teile der Staatsklasse als auch Teile des Bürgertums zusammenschließen, so daß Konflikt-linien quer zu den beiden Klassen verlaufen und völlig neue Konstellationen hervorrufen.
Peter Pawelka, Dr. phil., geb. 1941; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen und Leiter des Arbeitsbereichs Vorderer Orient am Institut für Politikwissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Herrschaft und Entwicklung im Nahen Osten: Ägypten, Heidelberg 1985; Der Vordere Orient und die Internationale Politik, Stuttgart u. a. 1993; (Mitherausgeber und Mitautor) Staat, Markt und Rente in der Internationalen Politik, Opladen 1997.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).