Die Lektüre in der DDR war geprägt von einer dezidierten Kulturpolitik. Die lebenslange, staatlich beeinflußte Lesesozialisation sowie ein dichtes Netz von Buchhandlungen und Bibliotheken führten zusammen mit den Auswirkungen einer lückenlosen Präventivzensur in den sechziger Jahren zu einer Breitenlektüre von Werken aus dem offiziellen Literaturkanon, ohne die individuellen literarischen Interessen gänzlich auszuschalten. In den siebziger Jahren wandten sich die Leser von Gegenwartsliteratur der kritischen DDR-Literatur und der Dokumentarliteratur zu, die für sie zunehmend sinn-und identitätsstiftend wurden. Dies begründete das außerordentliche Prestige der Schriftsteller in der DDR. Unmittelbar nach der Wende nahm die Buchlektüre zunächst deutlich zu, normalisierte sich jedoch nach wenigen Jahren. In der Breitenlektüre behaupten sich Werke von DDR-Autoren gegenüber der sonst dominanten Unterhaltungsliteratur.
I. „Leseland DDR“
Auf dem VIII. Schriftstellerkongreß der DDR, der zwischen der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und dem Ausschluß von neun Autoren aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979 stattfand war der Vorsitzende Hermann Kant offensichtlich in Schwierigkeiten, Fortschritte in der Entwicklung des sozialistischen Realismus zu vermelden. Er hielt sich in seinen Urteilen über die Literatur auffällig zurück. Um aber überhaupt Fortschritte angeben zu können, verwies er auf die weite Verbreitung des Buches im Land und seine gesellschaftliche Wertschätzung. Die sozialistische Lese-kultur sei der kapitalistischen in der Bundesrepublik, dem „Bestseller Country“, überlegen, und so belegte er die DDR mit dem „stolzen Titel Leser-land“ bzw. „Bücherland" Auf dem X. Parteitag der SED griff Erich Honecker in seinen Ausführungen zur Kulturpolitik die Intentionen und den Begriff Kants -nun in „Leseland“ umformuliert -auf 1982 setzte der Stellvertretende Kulturminister Klaus Höpcke „Leseland“ in den Untertitel eines im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Sammelbandes mit Aufsätzen und Rezensionen zur Literatur Spätestens damit war ein Topos eingeführt, der sich als außerordentlich zählebig erwies und an dem eine Erörterung der Lektüre in der DDR nicht vorbeikommt.
Im Osten diente der Begriff zur durchgängig positiven Charakterisierung der „sozialistischen Literaturverhältnisse“; im Westen wurde er bald im Feuilleton mit oder ohne Anführungsstriche verwendet, so daß er selbst von der Literaturwissenschaft und Literatursoziologie aufgegriffen wurde, wenn auch stets mit dem Vorbehalt gegenüber einem propagandistisch geprägten Begriff Selten wurde ausdrücklich auf ihn verzichtet Unter „Leseland“ wurden konzeptionell sehr verschiedene Konstrukte verstanden, die aber zwei Hauptkomponenten aufwiesen: die hohe Akzeptanz des Buches in der Gesellschaft und eine weite Verbreitung des Buches -beides von einer dezidierten Kulturpolitik herbeigeführt. Im Begriff schwingt natürlich die Vorstellung mit, in der DDR sei mehr gelesen worden Dies war nicht der Fall, auch wenn es der unterschiedlichen Erhebungsmethoden wegen schwer fällt, im direkten Vergleich eindeutige empirische Belege beizubringen In international vergleichenden Studien nahm die Lesehäufigkeit der DDR-Bevölkerung einen guten vorderen Platz ein.
II. Kulturpolitische Rahmenbedingungen für das Leseverhalten
Abbildung 2
Tabelle 2: Am häufigsten gelesene Belletristik im Regierungsbezirk Magdeburg 1993 (Anzahl der Nennungen pro Titel bzw. Autor)
Quelle: Institut für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität Berlin.
Tabelle 2: Am häufigsten gelesene Belletristik im Regierungsbezirk Magdeburg 1993 (Anzahl der Nennungen pro Titel bzw. Autor)
Quelle: Institut für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität Berlin.
Die Lesekultur der DDR unterschied sich jedoch deutlich von der westlicher Staaten, was in den spezifischen Rahmenbedingungen, die von einer sozialistischen Kulturpolitik geschaffen worden waren,begründet ist. Nachdem der Aufbau der Grundlagen des Sozialismus verkündet worden war, wurden die Maßnahmen zur Steuerung der Literatur seit 1963 in einer zentralen Leitung -der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur -gebündelt Die folgende Darstellung bezieht sich allein auf den Zeitraum nach 1963.
Betrachtet man von den erziehungs-und kulturpolitischen Maßnahmen diejenigen, die sich auf die Entwicklung des Leseverhaltens am stärksten auswirkten, dann ist allen voran die lebenslange Lesesozialisation zu nennen. Für die DDR war charakteristisch, daß die Lesesozialisation nicht der Familie überlassen wurde, sondern mit dem Kindergarten beginnend institutionell gefördert wurde. Im Kindergarten, den nach 1980 über 90 Prozent der Kinder vom 3. Lebensjahr an besuchten, gab es eine methodisch ausgefeilte Einführung in die Literatur, die die Kinder an das Buch heranführen sollte. In der allgemeinbildenden Schule war der Literaturunterricht -wie der Vergleich mit den westlichen Bundesländern zeigte -exponiert durch die Trennung von Sprach-und Literaturunterricht mit einer hohen Stundenzahl und einem hohen Lesepensum im Literaturunterricht sowie dadurch, daß im Literaturunterricht ausschließlich literarische Texte behandelt wurden. Die literarische Sozialisation wurde in der Berufsausbildung und sogar im Berufsleben weitergeführt. Die Gewerkschaften hatten in den Kultur-und Bildungsplänen unmittelbar literatur-und lesefördernde Maßnahmen zu übernehmen. Die Ergebnisse waren freilich bescheiden Literatur-interessierte konnten allerdings für ihre Arbeit jede Förderung von den Betriebsleitungen erhalten, was mehr und mehr von privat agierenden Interessengruppen genutzt wurde.
Als sich in den siebziger Jahren die Kulturpolitik stillschweigend vom Konzept einer revolutionären Massenkultur verabschiedet hatte und den individuellen Freizeitansprüchen entgegenkam, vollzog sich jedoch keine Wende zur Erlebnisgesellschaft weil die Entwicklung zwei deutlich markierte Grenzen hatte: Die eine wurde gebildet von den fehlenden wirtschaftlichen Ressourcen -den privaten aus den Haushaltseinkommen wie den gesellschaftlichen des Staates, der Kommunen und Betriebe. Die andere Grenze setzten die politischen Verhältnisse, die nur eine enge, klar definierte Freizügigkeit zuließen. Ihre Enge wurde in den willkürlichen Reisebehinderungen bzw. -verboten am schmerzlichsten empfunden. Die DDR-Gesellschaft blieb noch ganz dem Handlungsmuster einer aufgeschobenen, nur durch harte Arbeit zu erreichenden Glücksbefriedigung verhaftet. Dieses erzwungene Festhalten an einer traditionellen Freizeitkultur sicherte den hohen Rang des Lesens im Freizeitverhalten.
Die Kulturpolitik, für die das Buchlesen ein Maßstab für das Kulturverhalten schlechthin war, tat ein übriges, um den Zugang zum Buch zu erleichtern. In den sechziger Jahren wurde das System der Buchdistribution weiter ausgebaut, um eine flächendeckende Versorgung mit Literatur ermöglichen zu können. Zum Ende der DDR waren in 97 Prozent der 7 565 Gemeinden staatliche, allgemeine, öffentliche Bibliotheken vorhanden, die überwiegend (zu 82 Prozent) nebenamtlich betreut wurden. Diese breite Streuung war mit teils erheblichen Nachteilen erkauft: Der Zustand vieler Gebäude war schlecht, die Ausrüstung veraltet Die Buchbestände zeichneten sich durch eine umfassende Auswahl ideologisch und ästhetisch erwünschter Titel aus. Das war einer der Gründe, weshalb in den achtziger Jahren die Belletristikentleihungen zurückgingen, obwohl die Bestände weiter wuchsen Auch der Buchhandel war -nachdem die privaten Sortimenter zurückgedrängt worden waren -als ein systematisch angelegtes Versorgungsnetz mit verschiedenen Typen von Buchhandlungen aufgebaut worden. Es gab Ende der achtziger Jahre neben 390 privaten Buchhandlungen (einschließlich der Buchhandlungen von Kirchen und anderen Organisationen) ca. 700 Volksbuchhandlungen unterschiedlicher Größe in den Gemeinden und ca. 60 Buchhandlungen in Großbetrieben, die einen erheblichen Teil ihres Umsatzes über Agenturen und Vertriebsmitarbeiter abwickelten. Nicht unwesentlich am Buchvertrieb beteiligt waren die ca. 100 Buchhandlungen des selbständigen Zeitschriften-und Buchvertriebs der Nationalen Volksarmee.
Die Funktion der flächendeckenden Netze unterschied sich wesentlich von der traditionellen Distributionsfunktion, wie sie sich für Buchhandel und Bibliotheken seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Auf dem nicht gesteuerten Buchmarkt vermitteln beide über Angebot und Nachfrage zwischen den Buchproduzenten und den Lesern, Im sozialistischen Literatursystem sollten sie im Gegensatz dazu eine planmäßig erstellte Buchproduktion gezielt an ein definiertes Lesepublikum -vor allem an die bisher kulturell benachteiligten Schichten -bringen. Buchhandel und Bibliotheken hatten also die Aufgabe, den „Durchsatz“ einer Buchproduktion zu vollziehen.
Von den Konsequenzen seien hier die für die Leser und die Lektüre wichtigen Aspekte betrachtet: Die Steuerung der Buchproduktion wurde über ein durchgängiges Zensursystem vollzogen Die praktizierte Präventivzensur lief weniger darauf hinaus, einzelne Titel zuzulassen oder zu verbieten, sondern die Gesamtbuchproduktion zu steuern, d. h., die Proportionen der Gattungen und Genres, die Auflagenhöhe für jeden Titel, dessen Verteilung in die Distributionskanäle und bei kritischen Titeln bis hin zu den Rezensionen fest zu planen. In dieser Planung entfielen auf die gesellschaftswissenschaftliche und belletristische Literatur seit den siebziger Jahren nahezu 60 Prozent der Titelproduktion mit rund 23 000 Exemplaren Durchschnittsauflage der belletristischen Literatur. Die Anzahl der verlegten Titel war demgegenüber niedrig: Der Tiefpunkt -eine Auswirkung der restriktiven Kulturpolitik nach dem 11. Plenum der SED von 1965 -war 1972 mit lediglich 916 belletristischen Titeln erreicht.
Die Buchproduktion der DDR war gekennzeichnet durch einen Widerspruch zwischen einem hohen Belletristikanteil an der Gesamtbuchproduktion und einer niedrigen Titelzahl bei hohen Auflagen für einzelne Titel. Dieser Widerspruch unterstreicht, wie hoch die SED-Führung die Wirksamkeit der schönen Literatur für die Ausbildung von politischen und weltanschaulichen Über-zeugungen veranschlagte. Das Titelangebot sollte auf eine ideologisch, moralisch und ästhetisch sanktionierte Literatur eingeschränkt werden, die dafür in hohen Auflagen bereitgestellt wurde.
Den Hauptteil der Belletristik stellten die Werke des sozialistischen Realismus und der realistischen Weltliteratur. Die Literatur der zeitgenössischen nichtmarxistischen Geisteswissenschaften wurde, von religiöser Literatur abgesehen, kaum aufgelegt. Die europäische Moderne und die westdeutsche Gegenwartsliteratur waren in einer oft willkürlich nach politischen, aber auch moralischen oder ästhetischen Kriterien getroffenen Auswahl zugelassen. Triviale Unterhaltungsliteratur wurde praktisch nicht aufgelegt. Mit zu wenig Titeln vertreten und in zu geringen Auflagenhöhen produziert war auch die populärwissenschaftliche Literatur oder Sachliteratur, bei der es nur sehr wenige westliche Lizenztitel oder Importe gab. Seit Mitte der siebziger Jahre kam es zu geringen Lockerungen in der Zensur
III. Einheitlichkeit und Differenzierung der Lektüre
Abbildung 3
Tabelle 3: Jahresbestseller Ost: Belletristik
Quelle: Presse-und Literaturbüro Libresso, Berlin -Michael Hinze.
Tabelle 3: Jahresbestseller Ost: Belletristik
Quelle: Presse-und Literaturbüro Libresso, Berlin -Michael Hinze.
Diese Steuerung der Buchproduktion erzeugte ein weitgehend kontinuierliches Angebot, in dem es keine Bestseller, keine kurzlebigen literarischen Moden gab. Die Leser sahen sich einer überschaubaren Anzahl von Werken immer wieder aufgelegter und vielseitig propagierter Autoren konfrontiert, die über Bibliotheken und im Buchhandel leicht erreichbar waren. Die begrenzten Auswahlmöglichkeiten blieben nicht ohne Folgen. Die Lektüre des durchschnittlichen Lesepublikums rekrutierte sich, wie die empirischen Studien aus den sechziger und siebziger Jahren ausweisen jahre-lang aus der Literatur des Werkekanons, der von der Schule und der Literaturpropaganda beharrlich verbreitet worden war. Die ständige Anwesenheit der geförderten Literatur bewirkte, daß sie sich in der Lektüre eines breiten Publikums durchsetzte und daß eine Fokussierung des allgemeinen Interesses auf einzelne Titel möglich wurde. Die Kommunikation über herausragende Titel wie Bruno Apitz’ „Nackt unter Wölfen“, Erik Neutschs „Spur der Steine“ oder Michail Scholochows „Ein Menschenschicksal“ entfaltete sich nicht bloß in Gruppen, sondern in der Gesellschaft. Damit war ein Grundstock gemeinsamer Lektüre gesichert, ohne jedoch individuelle Interessen auszuschalten. Die Beschränkung des Buch-angebots ist gleichwohl stets als empfindlicher Mangel wahrgenommen worden.
Die von der Literaturpolitik angestrebte Vereinheitlichung der Lektüre war zunächst erfolgreich, doch ohne die damit angestrebte politische und ideologische Integration zu erreichen. Die Lektüre befestigte nur einen schon vorhandenen und von der Schule verstärkten Realismusbegriff, der darauf hinauslief, die Leseerfahrungen in Beziehung zur persönlichen und unmittelbar gesellschaftlichen Erfahrung zu setzen.
Es ist damals schon viel diskutiert worden, in welchem Umfang die Lektüre Unterhaltungsbedürfnisse befriedige. Vermutet wurde, daß der Buchenwaldroman von Bruno Apitz („Nackt unter Wölfen“) oder die Kriegsromane von Dieter Noll („Die Abenteuer des Werner Holt“) und Günter Hofe („Roter Schnee“) eher ihres Spannungscharakters als ihrer antifaschistischen Aussage wegen gelesen würden. Darauf deutete auch die ständige Lektüre der immer wieder aufgelegten Unterhaltungsliteratur aus dem 19. Jahrhundert (Dumas, London) mit einem sonst so wenig bekannten „Thriller“ des australischen Autors Markus Clarke über die Besiedlung Australiens („Lebenslänglich“) hin.
Gerade in der Beschränkung des Angebots an Unterhaltungsliteratur war zu erkennen, wie weit sich die Buchproduktion von den literarischen Bedürfnissen und Interessen der Leser entfernt hatte und zu einer Verteilung von Literatur wurde, die nur noch wenig interessierte. Im Buchhandel zeigte sich dies an der Zunahme von Lagerbeständen beim Leipziger Kommissions-und Großbuchhandel (LKG) auf der einen und auf der anderen Seite in der völlig unzureichenden Bereitstellung der vom Leser erwünschten Literatur. Der Buchhandel versuchte nun seinen Kunden entgegenzukommen, indem er für letztere vorsorglich mehr Exemplare bestellte, als Vorbestellungen vorlagen, um die Kundenwünsche auch bei Kürzung bzw. Kontingentierung bedienen zu können. Das führte zu sogenannten Überzeichnungen für immer mehr Titel: 1973 waren 39, 1 Prozent der vom LKG angekündigten Buchtitel, 1982 49, 2 und 1988 schließlich 57 Prozent überzeichnet; in der Belletristik waren es 80 Prozent und bei Kinderbüchern gar 100 Prozent
Die Leser konnten sich auf den Buchhandel nicht mehr verlassen -er war unkalkulierbar geworden. Um dennoch an die erwünschte Literatur zu kommen, war man sehr erfindungsreich. Das reichte von Buchstreifzügen über Land, weil Landbuchhandlungen besser beliefert wurden, und vom Einkauf bei Buchbasaren, die mit Sonderlieferungen attraktiv waren, über Buchkäufe in sonst öffentlich nicht zugänglichen Buchhandlungen, wie etwa an Buchständen der Armee am Tag der Nationalen Volksarmee bis hin zum „Re-Import“ von Büchern aus den Buchhandlungen der Informations-und Kulturzentren der DDR im sozialistischen Ausland Das Buch war -anders als geplant -zu einem kostbaren Gut geworden, das sich anschickte, seinen Warencharakter zu verlieren.
Es muß an dieser Stelle darauf verwiesen werden, daß die genannten Verhaltensweisen vor allem für die ältere Lesergeneration charakteristisch sind -für jene, die ihre Lesesozialisation in der Zeit vor dem Mauerbau erfahren hatte. Die Generation der nach 1960 Geborenen durchlief eine andere kulturelle Sozialisation, in deren Mittelpunkt die Musik stand, deren Ursprünge und Originalität aus dem Westen kamen. Die Jugend löste sich aus der DDR-spezifischen Kulturtradition, was sich u. a. in einem außerordentlichen Rückgang der Lektüre ausdrückte. Vor allem junge Arbeiter und Angestellte lasen immer weniger; Abiturienten und Studenten interessierten sich zum Ende der DDR hin wieder für Gegenwartsliteratur
IV. Emanzipatorische Lektüre
Darin wurde die paradoxe Entwicklung sichtbar, daß das von der Kulturpolitik eingeforderte Interesse für die sozialistische Gegenwartsliteratur und die damit verbundene Realismuseinstellung sich nunmehr gegen ihre Urheber stellte, insofern als sich die Leser jener Literatur zuwandten, die die realsozialistischen Verhältnisse kritisierte. Dies vollzog sich offenbar parallel zur literarischen Entwicklung in den siebziger und achtziger Jahren, als die Literaturpolitik der SED konzeptionslos wurde und immer weniger Durchsetzungskraft zeigte Im einzelnen ist dies empirisch nicht belegbar, weil literatursoziologische Erhebungen erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wieder möglich wurden. Die Titellisten aus den Erhebungen im Bezirk Magdeburg vom März/April 1988 und die DDR-repräsentative Erhebung vom Mai/Juni 1989 zeigen den grundlegenden Wandel (vgl. Tab. 1). Die Befragungen unterscheiden sich in den Fragestellungen: einmal wird nach beeindruckender, das andere Mal nach der letzten Lektüre gefragt. Dieser Differenzierung eingedenk, geben die Listen im Vergleich mit den früheren gleichwohl einen übereinstimmenden Trend wieder. In der Lektüre von Gegenwartsliteratur aus der DDR, die früher von Titeln aus dem Kanon dominiert wurde, sind nur noch Bücher von Bruno Apitz, Erik Neutsch und Dieter Noll geblieben; einige der früher in der Spitzengruppe der ersten zwanzig stets vertretenen Schriftsteller wie Anna Seghers, Hermann Kant, vor allem auch Autoren der Sowjetliteratur wie Boris Polewoi und Alexander Fadejew fehlen nun. Jüngere, von der Literaturpropaganda herausgehobene und für die Schullektüre vorgesehene Texte wie Dieter Nolls „Kippenberg“ werden trotz des Prestiges des Autors nicht angenommen.
Nach diesen Listen wird die Lektüre der DDR-Literatur von den kritischen Autoren Christoph Hein, Stefan Heym, Erwin Strittmatter und Christa Wolff angeführt. Ein anderer wesentlicher Teil entfällt auf die Dokumentarliteratur, die sich in den achtziger Jahren geradezu explosiv entwikkelte. Sie war das Pendant zur kritischen Literatur indem sie auf authentischer Lebenserfahrung und ungeschminkter Wirklichkeitsdarstellung insistierte. Ihre Themen waren das Alltagsleben in allen sozialen Schichten (etwa die Bücher von Maxie Wander und Landolf Scherzer) und die in der Öffentlichkeit weitgehend tabuisierten Bereiche Krankheit, Behinderung, Außenseitertum (Geppert, Kadenbach, Thom, Muthesius, Oberthür). Die gesellschaftliche Brisanz dieser Literatur resultierte nicht allein aus den dargestellten Themen, sondern zugleich aus der Darstellungsweise. Das grundlegende Strukturprinzip war nicht mehr die von der offiziellen Ästhetik eingeforderte Fabel, sondern die Montage. Die literarische Kritik hatte der Fabel vorgehalten, sie konstruiere eine geschlossene sinnvolle Welt, wie sie nicht existiere -die Montage dagegen, die Ausschnitte aus der Wirklichkeit gegeneinandersetze, bringe diese zur unmittelbaren Anschauung.
In diesem Verständnis konnte auch eine Reportage wie die Landolf Scherzers über den ersten Sekretär der SED-Kreisleitung Suhl, in der der Parteisekretär durchaus noch als Vorbild erscheint, weil er sich im Dienst am Gemeinwesen verzehrt, als Entlarvung der generellen Verhältnisse verstanden werden. Sie beschreibt nämlich eindringlich die desolaten wirtschaftlichen und sozialen Zustände, unter denen nur noch „Chaosqualifikation“ angemessen sei. Auch jene Texte, die sich den Themen Krankheit und Behinderung widmen, kritisieren implizit die sozialen und politischen Zustände. Am weitesten in der Symbolik geht Muthesius’ „Flucht in die Wolken“. Der Titel nimmt die Überschrift jenes Kapitels auf, in dem die am „Borderline“ -Syndröm Erkrankte ihre Befreiung von Ängsten und Zwängen herbeisehnt, indem sie aufbricht, um durch das Brandenburger Tor zu gehen, zuvor aber festgenommen wird.
Die Erstveröffentlichungen von Muthesius, Geppert und Thom liegen gegenüber den Erhebungen um fast zehn Jahre zurück. Sie haben in dieser Zeit mehrere Nachauflagen erfahren: Geppert acht, Muthesius und Thom fünf (Oberthür vier seit 1984, Kadenbach zwei seit 1986). Rezensionen zu diesen Texten finden sich zu den Erstausgaben verbreitet in Tageszeitungen, während die Literaturwissenschaft sie wenig beachtete So sind für Muthesius 1981 fünf Rezensionen -in den Tageszeitungen „Berliner Zeitung“, „Neue Zeit“ und „Junge Welt“ sowie im „Sonntag“ und „Deine Gesundheit“ -nachzuweisen, bis die Abteilung Agitation und Propaganda im Zentralkomitee der SED weitere Besprechungen verbot. Dennoch verstand es der Verlag, das Buch weiter zu publizieren, und es gelangte ohne Unterstützung durch Werbung und Kritik in die Breiten-lektüre. Das gilt praktisch für die gesamte Dokumentarliteratur. Im Unterschied dazu ereichte die kritische Belletristik ihre Breitenwirkung durch die Unterstützung von wissenschaftlichen Institutionen und literarischen Arbeitsgemeinschaften oder Zirkeln, die -das war ein immer wieder erhobener Vorwurf der Parteiführung -deren Autoren gegenüber denen des sozialistischen Realismus bevorzugten.
Der Aufstieg einer kritischen Literatur gegen die Kulturpolitik war möglich geworden durch ein Bedingungsgefüge, das diese Kulturpolitik erst geschaffen hatte. Die Literatur erschien nicht als Samisdat, als Untergrundliteratur, sondern in den etablierten staatlichen bzw.organisationseigenen Verlagen. Die offizielle Kulturpolitik versuchte durch Zensur, Verweigerung von Nachauflagen, Auflagenkürzungen und Rezensionsverboten die Publikationen zu verhindern oder hinauszuzögern. Diese Maßnahmen blockierten die Verbreitung der Literatur jedoch nicht, weil -nachdem die Verlage die Veröffentlichungen durchgesetzt hatten -die Leser sich aktiv um die Literatur bemühten. Sie waren im Laufe der Jahre trainiert, ihre Buchwünsche vorrangig in privater Kommunikation auszutauschen und sich Buchquellen außerhalb des regulären Buchmarktes zu erschließen. Diese Prozesse sind im einzelnen noch wenig erhellt.
Der Wandel in der Lektüre war die Folge des unaufhaltsamen Auseinanderdriftens der gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten. Während die Öffentlichkeit der Versammlungen und Medien bei allen politikfreien Nischen doch vom parteilichen Diskurs beherrscht war, wurden die Unzulänglichkeiten des Alltags und die Widersprüche der Gesellschaft in der privaten Sphäre erörtert. Die schöne Literatur hob nun (zusammen mit den anderen Künsten) die Erörterung dieser Probleme aus der privaten Sphäre heraus und brachte sie in der öffentlichen zur Sprache. Dies geschah zunächst durch die Publikation selbst, setzte sich aber in den Lesungen und Diskussionen fort. Zeugnisse von literarischen Veranstaltungen zeigen, wie intensiv und offen in diesen tabuisierte Fragen zur Sprache kamen
Dadurch, daß sich die Literatur auf die DDR-Gegenwart und -Geschichte einließ und sich gegen den harmonisierenden parteilichen Diskurs in der Honecker-Zeit wandte, der jede öffentliche Auseinandersetzung unterdrückte, wuchs ihr eine neue Funktion zu. Diese Funktion ist unter Schriftstellern und in der Literaturwissenschaft seit Ende der siebziger Jahre unter dem Stichwort „Ersatzöffentlichkeit“ erörtert worden. Ersatzöffentlichkeit wurde von einigen sehr direkt verstanden: Die Literatur hatte „Aufgaben zu übernehmen, die bei uns (in der Bundesrepublik, D. L.)
Zeitung, Rundfunk, Fernsehen, Parlament und Parteien, Bürgerinitiativen und öffentliche Diskussionsveranstaltungen“ wahrnehmen Ein derart öffentliches Forum bot die Literatur freilich nicht, weil die dort verhandelten Themen davon nur einen Teil, und zwar den geringeren, ausmachten.
Die literarische Darstellung zielte über das Aktuelle hinaus generell auf eine authentische Wahrnehmung von Realität. Dabei stieß sie auf Konflikte und Widersprüche sowie auf tabuisierte Bereiche in der Gesellschaft, die sie im Gegensatz zum parteilich-öffentlichen Diskurs nicht verdrängte. Die Literatur wollte nicht den politischen Dissens, sie war nicht subversiv, aber sie bestand auf subjektiver Authentizität und literarischer Autonomie. Damit stellte sie auch die postulierte Übereinstimmung von Individuum und Gesellschaft in Frage. Die Literatur beschwor nicht weiter persönliche Bewährung und Entwicklung, sie beschrieb die Erfahrung von Entfremdung und Identitätssuche. Sie brachte das zur Sprache, was die Leser einsetzen konnten, um ihre Identität zu finden. Durch ihre Eigendynamik war sie für die in den literarischen Teil-Öffentlichkeiten „agierenden Individuen sinn-und identitätsstiftend" Sie erfüllte auf diese Weise eine emanzipatorische Funktion
Aus der Erfahrung, daß Schriftsteller und Künstler allein die Wahrheit öffentlich zur Sprache brachten, stiegen sie nicht nur für die Leser zu Repräsentanten der Gesellschaft auf, während die Legitimation der politischen Macht verfiel. Das fand seinen Höhepunkt in der Wendezeit, als diese Erfahrungen mit der politischen Krise zusammentrafen. Das Echo auf die Lesung von Ulrich Mühe aus Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ im Deutschen Theater am 28. Oktober 1989, am 5. November von Radio DDR ausgestrahlt, und die Publikation des Buches auch in der DDR war außerordentlich ebenso die Reaktionen, die Christa Wolf mit ihrem Artikel in der Wochenpost vom 27. Oktober 1989 über die Entmündigung durch die Volksbildung ausgelöst hatte, womit sie keineswegs nur Zustimmung fand, nichtsdestoweniger aber als einzig legitime Partnerin in der Diskussion empfunden wurde
Die nach der Wende nun erreichbare, bislang verbotene DDR-Literatur fand eine schnelle Verbreitung. Sie lag für einzelne, den Lesern aus den Medien bekannte belletristische Titel in Dimensionen, wie sie die ARD-ZDF-Studie 1990 in der Bundesrepublik für die Autoren zeitgenössischer Gegenwartsliteratur festgestellt hatte, die dort durch den schulischen Kanon etabliert worden waren. Das ist nachweisbar für Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ und Stefan Heyms „Collin“, die erst seit November zugänglich waren
Dieses Zusammentreffen von revolutionärer Krise und ausgeprägten literarischen Interessen war durch die spezifische Vorgeschichte einmalig, und es war daher abzusehen, daß sich diese Wertschätzung und damit die Rolle der Literatur nicht fortsetzen würden. Die Ankündigungen eines generellen Rückganges der Buchlektüre kam jedoch zu früh, wenn auch die Argumente dafür durchaus plausibel waren Das Lesen nahm im Gegenteil einen Aufschwung, wie die empirischen Daten zeigen.
Die durchschnittliche tägliche Lesezeit von Männern, die 1974 23 Minuten betragen hatte und bis 1985 auf 18 Minuten gefallen war, stieg 1990 wieder an und erreichte 1992 25 Minuten. Für Frauen blieb sie 1974 mit 15 Minuten und 1985 mit 14 Minuten nahezu konstant, stieg aber bis 1992 überproportional auf 26 Minuten an Daß dieser Anstieg auch die Buchlektüre betraf, zeigt die Studie der Stiftung Lesen von 1. 992. Danach war die Zuwendung zum Buch in den neuen Ländern erheblich häufiger auszumachen als in den alten, die Anzahl der gelesenen Bücher aber etwa gleich Auch unter Kindern und Jugendlichen war das Interesse an Büchern offensichtlich angestiegen; Untersuchungen zum Ost-West-Vergleich in der Nachwendezeit zeigen in den neuen Bundesländern ein größeres Interesse für Bücher Die Ausgaben für Bücher lagen in den neuen Bundesländern in den unteren Haushaltsgruppen bis 1992 zwar unter den Ausgaben in den alten Ländern, im Verhältnis zum Haushaltsnettoeinkommen aber darüber. Seit 1993 sind sie angeglichen Der Rückgang der Entleihungen aus den öffentlichen Bibliotheken -verursacht durch die veralteten Bestände und die Schließung von Bibliotheken durch die Umwandlung des Bibliothekssystems der DDR -hatte keine durchschlagenden Auswirkungen auf die Lesehäufigkeit. Mit dem Abschluß des Strukturwandels und durch die Bestandser-
V. Nachwende-Lektüre neuerung steigen seit 1993 die Leserzahlen und Entleihungen wieder an
In dieser Entwicklung ist zunächst der überproportionale Leseanstieg in den Jahren unmittelbar nach der Wende auffällig. Er hat mehrere Ursachen: Die eine liegt in einem Nachholbedarf an Lektüre, der die Leser aufgrund ihrer DDR-Erfahrungen mit nicht erreichbaren Büchern, Beschlagnahmungen von Literatur, „heimlichen“ Lektüren, kurz: durch das Bewußtsein, daß ihnen wichtige literarische Ereignisse vorenthalten geblieben waren, stark motivierte. Bibliothekare und Buchhändler berichteten aus der Wendezeit übereinstimmend, daß Leser mit konkreten Titel-und Autorenwünschen in die Bibliotheken und Buchhandlungen kamen. Sie umfaßten das ganze Spektrum der bislang vermißten Literatur; es betraf Unterhaltungsliteratur ebenso wie die Moderne, Belletristik wie Sachliteratur. Für die ältere DDR-Generation ist die nachholende Lektüre ein bis heute nicht gesättigtes Bedürfnis.
Dazu trat ein weiteres starkes Lesemotiv, das durch den gesellschaftlichen Wandel ausgelöst worden war: 1992 war vor allem durch den Niedergang der volkseigenen Industrie und den tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel ein Höhepunkt der Vereinigungskrise. Von der älteren Generation am stärksten empfunden wurden der tatsächliche oder befürchtete Verlust des Arbeitsplatzes und die Entwertung der beruflichen Qualifikation. Dies schürte Ängste, die soziale Sicherheit zu verlieren und dem Konkurrenzkampf ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Zu diesen existentiellen Sorgen trat die Infragestellung bisheriger Orientierungen und Deutungsmuster. Die Vereinigungskrise wurde von ihnen als Identitätskrise erlebt
Die Leseerfahrungen legten nahe, in dieser Situation zur Bewältigung der Krise auch das Buch einzusetzen. Dabei ging es zunächst darum, sich in der neuen Welt zu orientieren -die Lektüre von Ratgebern in wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen bis hin zur Lebenshilfe lag daher im Osten deutlich über der im Westen Die belletristische Literatur verlor darüber aber ihre Bedeutung nicht -im Gegenteil: Die tief verwurzelte Lesemotivation, in der das Bedürfnis nach Selbstfindung und Welt-orientierung immer zentral waren, stabilisierte die Buchlektüre. Aufschlußreich ist, daß die nun zugänglichen westdeutschen Zeitschriften für die Bewältigung dieser Probleme nur eine geringe Rolle spielten. Das Interesse an ihnen ging, nachdem die erste Neugier gestillt war, erheblich zurück. Eine nachhaltige Zuwendung zu den überregionalen Zeitschriften -Fernsehzeitschriften ausgenommen -hat bis heute nicht stattgefunden Die durch die DDR-Erfahrungen begründete Lese-motivation schlägt in diesem Verhalten durch: Der unverbindliche westliche Lifestyle-Charakter der Zeitschriften ist mit ihr kaum vereinbar.
Diese Nachholphase, in der überkommene Lese-motivation und das neue Printmedienangebot die Lektüre anregten, ist zweifelsohne zu Ende, ohne daß sich die subjektive Haltung der älteren Lese-generation grundlegend geändert hätte. Es ist eine gewisse Normalisierung eingetreten, in der aber die alten Prägungen immer wieder hervorscheinen. Das zeigen auch die empirischen Daten. Eine Erhebung aus dem Regierungsbezirk Magdeburg von 1993 gibt erstmals einen Einblick in die Breitenlektüre (vgl. Tab. 2)
Die Liste mit den am häufigsten gelesenen Titeln wird von der Unterhaltungslektüre dominiert. Die aktuellen Bestseller von 1993 sind dabei nur durch drei Titel, nämlich durch die beiden Grishams und Pilchers: „Die Muschelsucher“, repräsentiert. Dafür sind Konsalik, Courths-Mahler, Simmel und Agatha Christie mit mehreren Titeln vertreten, die nun nicht zu den gegenwärtigen Bestsellern gehörten. In der DDR waren sie nicht verlegt worden, dafür aber aus Kampagnen gegen die Schundliteratur und durch vereinzelte „Westlektüre“ bekannt. Nach einer Wochenpost-Umfrage vom März 1995 gehörten sie in den neuen Bundesländern zu den beliebtesten Schriftstellern, allerdings erst bei den über 35jährigen Lesern, nur Konsalik in allen Altersgruppen ab 14 Jahre In diesen Bevorzugungen drücken sich sowohl der Nachholbedarf an Unterhaltungslektüre wie auch die Prägung durch die traditionelle Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts aus. Einen besonderen Akzent erhält die Liste durch Karin Jäckels „Monika B.“ und Diana Beate Hellmanns „Zwei Frauen“. In ihnen manifestiert sich das Interesse an dokumentarischen Darstellungen gegenwärtiger Lebensproblematik von Frauen, wie es aus der Dokumentarliteratur der DDR vertraut und gefestigt genug war, um sich weiter durchzusetzen.
Zieht man, um sich der Lektüre der darauf folgenden Zeit zu nähern, die speziell für Ostdeutschland aufgestellten Bestsellerlisten zu Rate, bestätigt und erweitert sich das Bild (vgl. Tab.
3) Auch der Buchkauf zeigt die Dominanz der Unterhaltungsliteratur. Die Ost-Listen sind in dieser Hinsicht im großen und ganzen ein Spiegel der westlichen Bestsellerlisten des „Stern“ oder des „Spiegel“. Darüber hinaus enthalten sie jedoch einige Titel von DDR-Autoren, die in den West-Listen nicht zu finden sind, weil sie durch die regionale Verbreitung zu gering gewichtet sind. Über die in Tabelle 3 angeführten Titel hinaus sind dies (mit wenigstens drei Plazierungen unter den ersten zehn) für 1994: Renate Holland-Moritz: Ossis, rettet die Bundesrepublik; Ottokar Domma: Ottokar, die Spottdrossel; für 1996: Erich Loest: Nikolaikirche und Manfred Krug: Abgehauen. Knapp ein Fünftel der erstplazierten zehn Titel gehören ihrer Herkunft nach zur DDR-Literatur oder thematisieren DDR-Geschichte. Auch wenn sie gemeinsam Ostbefindlichkeit artikulieren, drücken sie sie keineswegs einheitlich aus. Domma und Holland-Moritz gehen in ihren Skizzen und kurzen Erzählungen das Ost-West-bzw. Wendethema auf eine humoristisch-versöhnliche Weise an, wobei der „Ossi“ gleich einem Schwejk besser wegkommt. Sie spielen mit den gängigen Klischees, bedienen sie freilich auch, was einer Verdrängung der Probleme Vorschub leisten kann.
Die Spitzenstellung von Brussigs Satire „Helden wie wir“ auf die Wende und die Rolle der DDR-Literatur zeigt aber, daß es falsch wäre, die Lektüre generell zu einer nostalgischen zu stempeln. Das gilt auch für Strittmatters Trilogie „Der Laden“, eine epische Chronik kleiner Leute aus der Lausitz bis in die frühe DDR-Zeit, deren erster Band 1984 erschienen war. Harry Thürks „Stunde der toten Augen“ wurde in den fünfziger Jahren verboten, weil der Roman angeblich (wie Norman Mailers „Die Nackten und die Toten“) den Krieg verherrlichte. In Wahrheit bemühte sich Thürk, die furchtbaren Erfahrungen junger Soldaten in den Schlachten vor Berlin festzuhalten. Manfred Krugs Dokumentation und Bericht über die Biermann-Krise, Erich Loests romanhafte Nachzeichnung der Leipziger Proteste und Christa Wolfs Dokumentation der inneren und äußeren Prozesse vor und nach der Wende haben die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte als gemeinsamen Gegenstand.
In inhaltlich-thematischer Hinsicht sind dies alles historische Texte, die die Geschichte der DDR mit dem Wissen um das Ende der sozialistischen Gesellschaft bzw. aus einer Perspektive, die nicht die offizielle der DDR war, rekonstruieren. Sie öffnen den Lesern die Möglichkeit, erlebte Geschichte erneut durchzuarbeiten. Das Interesse an dieser Literatur entspricht dann einem Bedürfnis, die Gegenwart nicht nur als Ergebnis einer Transformation -der Übernahme von Institutionen, Wertemustern, Systemeinschätzungen etc.der „alten“ Bundesrepublik -zu verstehen, sondern aus ihrer eigenen geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Im Festhalten an den DDR-Autoren äußert sich das Bemühen, sich der gegenwärtigen Situation mit Selbstvertrauen zu vergewissern.
Dietrich Löffler, Dr. phil., geb. 1936; 1954-1959 Germanistikstudium in Leipzig; 1974-1993 Dozent und a. o. Professor für Literaturtheorie an der Martin-Luther-Universität Halle. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Dietrich Sommer/Achim Walter/Eva Maria Scherf) Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst, Berlin 1978; (Hrsg. zus. mit Dietrich Sommer, Achim Walter und Eva Maria Scherf) Leseerfahrung, Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen, Berlin 1983; (Hrsg. zus. mit Helmut Göhler und Bernd Lindner) Buch, Lektüre, Leser. Erkundungen zum Lesen, Berlin 1989.