Sind die Deutschen reformscheu? Potentiale der Eigenverantwortung in Deutschland
Thomas (Jensicke
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Zusammenfassung
Auf Basis unserer Analyse der deutschen Mentalität anhand von Werten und Verhaltensdispositionen kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Deutschen durchaus die psychische Flexibilität besitzen, um mit den sich ändernden Anforderungen des unter Modernisierungsdruck stehenden Standortes Deutschland zurechtzukommen. Allerdings ist das praktische Verhalten, sind die Verhaltens-routinen in bestimmten Punkten noch stark vom bisherigen „Modell Deutschland“ bestimmt. Die traditionellen Verhaltensmuster werden jedoch durch die junge Generation bereits „spontan“ durchbrochen, wobei der Wertewandel als Impulsgeber eine wichtige Rolle spielt.
Der Bundespräsident stellte in seiner Grundsatz rede vom 26. April 1997 im Berliner Hotel Adlon lest, daß die Deutschen ein mentales Problem hat len. Aul die Anforderungen der Informationsgeseilsehalt und der Globalisierung reagierten sie mit Verunsicherung und Angst, anstatt mit optimi stischem Schwung und selbstbewußter Tatkraft die neuen Herausforderungen als Chancen zu begrei fen Klaus von Dohnanyi wies darauf hm, daß die Aussicht auf eine neue Flexibilitilt der sozialen Verhältnisse, die von einer sich globalisierenden Informationsgesellschaft erzwungen werde, dem deutschen Sinn für Sicherheit und Berechenbar keit Probleme bereite. Der Rückgriff auf individu eile Lösungen werde in Deutschland durch ein allzugroßes Organisationsvertrauen behindert. Daher setze man hierzulande eher auf den Staat als Garanten von Berechenbarkeit und Sicherheit als auf die „riskanten“ Früchte der eigenen Initiative .
Die Frage, ob die Deutschen mental zu grundlegenden sozialen Reformen bereit und zur Eigen Verantwortung und Selbsthilfe fähig sind, ist sicher nicht leicht zu beantworten. Wenn man den cinla chen empirischen Zugang wählt und in verschiedenen aktuellen Umfragen des letzten Jahres gestellte rinstclhm^slra^en analysiert, erhält man ein zwiespältiges Bild. Immerhin gibt es eine ganze Reihe ermutigender Aspekte.
Im internationalen Vergleich zum Beispiel verbau den die deutschen Arbeitnehmer Ende 1997 zu 90 Prozent positive Assoziationen mit dem Begriff „Flexibilität“, was immerhin innerhalb der in die Umfrage eines französischen Wirtschaftsmagazins einbezogenen sechs Nationen der zweitbeste Wert nach den US-Arbeitnehmern (mit 93 Prozent) war Die Begriffsassoziationen zu „Globalisie rung“ polarisieren allerdings die deutschen Arbeit nehmet in zu 48 Prozent positiv und 51 Prozent negativ Eingestellte. Eine klare Mehrheit positiv Eingestellter gab cs mit 56 Prozent nur in den USA, leichte Mehrheiten in Italien und Großbri tannien
Eine aktuelle Umfrage des Forschungsinstituts für Ordnungspolitik Köln, ebenfalls vom Ende des letzten Jahres, ermittelte ein hohes Maß an grundsätzliche! Reformbereitschaft in Deutschland . Die Ergebnisse einet Umfrage, die im August 1997 durchgeführt wurde, gehen noch weiter 6.
Es wäre jedoch naiv anzunehmen, daß wir heute von einer „freudigen“ Verzichtsbereitschaft auf soziale Standards und auf eigenen Wohlstand in der Bevölkerung reden könnten. Auch kann man schwerlich von einem „drängenden“ Bedürfnis weilet Kreise der Bevölkerung ausgehen, der Staat solle sich aus der gesellschaftlichen Verantwortung zurückziehen und die gesellschaftliche Entwick hing dem freien Spiel der Individuen und Gruppen überlassen. Die rationale Anpassungsfähigkeit der Deutschen an den internationalen Veränder ungsdruck wnd durch eine vitale sozialmoralische Ideologie konterkariert, die den Deutschen den Liberalismus amerikanischer Prägung suspekt erscheinen läßt
Wir stellen uns in diesem Artikel die Aufgabe, herauszufinden, welche mentale Konstellation „hinter“ den eben zitierten aktuellen Einstellungen der Bevölkerung zur weiteren gesellschaftlichen Entwicklung steht. Dabei interessieren wir uns weniger für die „großen“ Ideologien als für die individuellen Werte, Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensdispositionen, die mehr oder weniger an der Schnittstelle zur praktischen Lebensbewältigung zu finden sind, weil wir davon ausgehen, daß diese für die aktuelle und zu erwartende Lebensgestaltung der Menschen wesentlich relevanter sind
I. Eigenverantwortung als zentraler Wert der Zukunft
Die meisten aktuellen Gesellschaftsanalysen gehen davon aus, daß „Eigenverantwortung“ der entscheidende Baustein oder Grundwert einer zukunftsfähigen Mentalität ist, die es den Menschen ermöglicht, sich in der Informationsgesellschaft und unter den Gegebenheiten der Globalisierung zurechtzufinden und sozialen Erfolg zu sichern.
Unter Mentalität soll hier die Summe der psychischen Potentiale eines Volkes, einer Gruppe oder von Individuen verstanden werden. Mentalität ist immer ein Mix aus bereits vollzogener Anpassung an die Lebensverhältnisse und aktiver Impulsgebung. Im günstigsten Fall ergänzen sich pragmatische und sinnvolle Anpassung sowie aktives und expansives Lebensengagement wechselseitig, so daß daraus sogar Synergieeffekte entstehen können.
Der Wert Eigenverantwortung kann als ein Mix verschiedener Optionen verstanden werden: Der Wortteil „eigen“ verweist auf das Ego des Individuums, mit den Facetten der intellektuellen und gefühlsmäßigen Entfaltungsbedürfnisse, dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit -bis hin zum Egoismus. Die Verantwortung zieht dem Individualismus jedoch Grenzen; sie zielt auf die Zurechenbarkeit der Gedanken und Handlungen zum Individuum, das für diese einstehen muß. Das Individuum muß sich an bestimmten externen, definierten und gültigen Maßstäben messen lassen. Das so verstandene Kompositum der Eigenverantwortung entzieht dem Individuum die Möglichkeit, bei Risiken sofort nach weitgehender Absicherung oder bei Mißerfolgen nach der Soforthilfe der Gruppe oder des Staates zu rufen.
Das breite Vorhandensein des Wertes „Eigenverantwortung“ kann als ein gutes mentales Polster bei der Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft angesehen werden. Die realistische Gesellschaftsanalyse geht davon aus, daß Komplexität und Flexibilität der modernen Informationsgesellschaft deutlich zugenommen haben und weiter zunehmen werden. Die Fähigkeit des Staates und der Großbürokratien zur direkten Global-steuerung der Gesellschaft war vermutlich nie besonders hoch, und sie nimmt weiter ab. Steuerungsleistungen -zunächst das eigene Leben betreffend -müssen noch mehr von den Individuen und ihren Kleingruppen vollbracht werden. Vermittelt über die indirekten Wirkungen individuellen Handelns und die freie Selbstorganisation der Individuen, ist eine neue flexiblere Qualität gesellschaftlicher Entwicklung denkbar, die auch ein höheres Maß an internationaler Anpassungsfähigkeit gewährleistet. Politik und Bürokratie müssen dabei ebenfalls flexibler werden; sie bleiben aber unbedingt als ordnende Hände und Garanten der Ordnung gefragt, als (zwar bescheidenere, dafür aber zielgenauere) Absicherer von Lebensrisiken sowie als Förderer der Infrastruktur und des Humankapitals der Gesellschaft. An die Stelle von autoritär oder human motivierter Fürsorglichkeit wird allerdings zunehmend eine Anreiz- und Sanktionsstruktur treten, die viel mehr als bisher eigenverantwortliche Aktivität belohnt und apathische bzw. sorglose Passivität bestraft
Das skizzierte gesellschaftliche Szenario und die unter diesen Bedingungen unabdingbare Mentalität der Eigenverantwortung widersprechen dem menschlichen Sicherheitsbedürfnis und dem Bedürfnis nach Entlastung von Streß -Bedürfnisse, die im Konzert der menschlichen natürlichen Grundbedürfnisse eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Da jedoch der soziale Druck global in Richtung der Ausprägung einer Mentalität der Eigenverantwortung geht, kann man realistischerweise nur die günstigsten Bedingungen bestimmen, die es -zum Beispiel durch entsprechende gesellschaftliche oder pädagogische Leit-bilder -erleichtern, dieses Muster möglichst früh und tief in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. Eine neu geschaffene gesellschaftliche „Normalität“ und bestimmte, durch Sozialisation erworbene und im Lebenslauf erprobte Fähigkeiten der Lebensbewältigung erleichtern es dem einzelnen, die Werthaltung der Eigenverantwortung einzunehmen -sich eigenverantwortlich zu verhalten.
Es ist davon auszugehen, daß der Wert Eigenverantwortung im angelsächsischen Kulturkreis wesentlich tiefer verankert ist als in unserer kontinentaleuropäischen Kultur. Dazu muß man sich vergegenwärtigen, daß sich in (West-) Deutschland seit den siebziger Jahren zunehmend eine neue kulturelle Ideologie der streßfreien, kreativen Selbstentfaltung etabliert hatte -unter anderem als Folge der öffentlichen und kulturellen Präsenz eines eher „romantischen“ Strangs des Wertewandels. Nach der internationalen Wertestudie von 1990 waren für drei Viertel der Westdeutschen Selbständigkeit und Unabhängigkeit für die Erziehung von Kindern besonders wichtig. „Gehorsam“, „hart arbeiten“ und „Selbstlosigkeit“, die verschiedene Aspekte der Anpassungsfähigkeit und Selbstkontrolle tangieren, wurden relativ wenig genannt. Die Deutschen hatten sich in ihren Erziehungsleitbildern zum großen Teil auf die Seite eines neuen, idealistischen Individualismus geschlagen Anders war und ist dies zum Beispiel in den USA -dort werden die Erziehungsideale Selbständigkeit und Anpassung etwa gleich gewichtet (ähnlich auch in Großbritannien)
Uns soll zunächst interessieren, inwieweit der in der Ideologie der Westdeutschen seit den siebziger Jahren erfolgte Paradigmawechsel zum idealistischen Individualismus die alltagspraktischen Lebenswerte der Bevölkerung tatsächlich geprägt hat und welche neueren Entwicklungen wir in letzter Zeit beobachten können. Wir greifen dabei auf Daten des Speyerer Wertesurveys zurück, den wir im Frühsommer 1997 bei 2 000 Personen West und 1 000 Personen Ost ab 18 Jahren in Deutschland durchgeführt haben Besondere Aufmerksamkeit haben wir auf die Erfassung von Wertorientierungen gelegt, deren Entwicklung wir nunmehr seit 1987/88 für die Westdeutschen bilanzieren können.
Unsere empirische Wertemessung zielte auf die Abbildung zentraler Merkmale der menschlichen Persönlichkeit, die die ganze Bandbreite des Lebens betreffen. Wir fragen danach, was den Menschen wichtig ist, was sie im Leben anstreben (Graphik 1). Für den Zweck unserer Untersu-chung ist es ein Glücksfall, daß wir „in weiser Voraussicht“ erstmals in einem gesamtdeutschen Survey auch die Werthaltung „Eigenverantwortlich leben und handeln“ bewerten ließen, die nunmehr unser Indikator für die Verankerung des Wertes „Eigenverantwortung“ sein soll.
Wie Graphik 1 zeigt, wird der Wert „Eigenverantwortung“ von der Bevölkerung in West und Ost hoch geschätzt. Er ist der einzige Lebenswert unter den dominierenden privaten Werten „Gutes Familienleben“, „Vertrauensvolle Partnerschaft“ und „Gute Freunde haben“.
Unseres Erachtens zeigt bereits diese Analyse der in Deutschland verbreiteten Werte, daß es falsch ist, „den Deutschen“ pauschal ein mentales Problem zuzuschreiben Bei genauem Hinsehen fällt in der Gruppe der favorisierten Werte eher eine Mix-Konstellation aus privater Kleingruppenorientierung und Eigenverantwortung auf. Dem folgt ein zweiter Mix aus Kreativitäts-und Unabhängigkeitsstreben auf der einen sowie Ordnungsrespekt und Sicherheitsstreben auf der anderen Seite. Das typische Bild neuerer deutscher Mentalität, das wir in der Graphik vor uns haben, läßt den vorläufigen Schluß zu, daß der oben erwähnte Paradigmawechsel innerhalb der Erziehungsideale nicht von der Gesamtbevölkerung vollzogen wurde.
Das zeigt auch die Graphik 2. Seit wir die Liste 1987/88 in Westdeutschland zum ersten Mal verwendet haben, sind die Änderungen der Werteausprägungen vergleichsweise gering ausgefallen. Wichtiger ist es den Westdeutschen geworden, „sich bei seinen Entscheidungen auch von (ihren) Gefühlen leiten zu lassen“, ihre „eigene Phantasie und Kreativität zu entwickeln“ und ihre „Bedürfnisse gegen andere durchzusetzen“. Zurückgegangen ist dagegen vor allem die persönliche Wichtigkeit des Gottesglaubens. Generell scheint die Zunahme des Individualismus (intellektuell, gefühlsmäßig oder „robust“) die erklärende Klammer für die nicht allzu dramatischen Veränderungen der Mittelwerte in der westdeutschen Bevölkerung in den letzten zehn Jahren zu sein.
III. Das Verständnis von Eigenverantwortung
Abbildung 3
Tabelle 1: Wertetypen in Westdeutschland 1987/88 bis 1997 Quelle: Werte-Bus 1987/88 (N = 5 800), 1990 (N = 1 700), SOEP-West 1993 (N = 6 800), Wertesurvey 1997 (N = 2 000); teilweise Neuberechnungen, Angaben in Prozent.
Tabelle 1: Wertetypen in Westdeutschland 1987/88 bis 1997 Quelle: Werte-Bus 1987/88 (N = 5 800), 1990 (N = 1 700), SOEP-West 1993 (N = 6 800), Wertesurvey 1997 (N = 2 000); teilweise Neuberechnungen, Angaben in Prozent.
1. Alle Befragten Wir wollen nun herausarbeiten, was die Deutschen unter Eigenverantwortung verstehen, welchen Bedeutungsgehalt sie damit assoziieren. Was hinter der Hochschätzung des Wertes „Eigenverantwortung“ steht, läßt in einem ersten Schritt bereits die sozialstatistische Analyse erahnen. Die Eigenverantwortung wird in allen sozialen Großgruppen geschätzt: bei Männern und Frauen, bei jüngeren und älteren Menschen, in Ost und West. Aber es gibt auch Differenzen (auf relativ hohem Niveau). In den unteren sozialen Schichten und Bildungsgruppen hat Eigenverantwortung eine geringere persönliche Wichtigkeit, in den oberen eine größere. Ungelernte und angelernte Arbeiter, Landwirte, aber auch Arbeitslose betonen Eigenverantwortung weniger; leitende Angestellte, Selbständige und vor allem Freiberufler betonen diese besonders stark. Die unterschiedliche Bewertung erklärt sich aus verschiedenen beruflichen und Erwerbssituationen sowie aus der sozioökonomischen Situation (soziale Schichtung, selbständige oder abhängige Tätigkeit, Arbeitslosigkeit), ferner aus Modernisierungsvorsprüngen (Bildung, höhere Angestellte und Beamte), wobei sich bei den (zum Teil akademischen) Freiberuflern solche Merkmale oft überlappen. Letztere schätzen Eigenverantwortung zu 73 Prozent als „außerordentlich wichtig“ ein, gegenüber 42 Prozent in der Gesamtbevölkerung (wenn nur der Skalenpunkt 7 der 7er Skala von „unwichtig“ bis „außerordentlich wichtig“ betrachtet wird).
Bei der „Destillation“ des Assoziationsgehaltes des Wertes „Eigenverantwortung“ haben wir ein indirektes Verfahren gewählt: In sogenannten multiplen Regressionen haben wir die Einflüsse der 23 anderen Wertorientierungen (vgl. Graphik 1) auf den Wert Eigenverantwortung überprüft. Diese Ergebnisse können hier -aus Platzgründen -nur zusammengefaßt wiedergegeben werden.
Betrachtet man unsere Ergebnisse für alle Befragten, dann werden zwei dominante Einflußgrößen auf die Hochschätzung von Eigenverantwortung sofort erkennbar. Das ist zum einen „Eigene Phantasie und Kreativität entwickeln“, zum anderen „Unabhängig sein“. Diesem doppelten Individualismus entspricht auch eine nonkonforme Tendenz, die sich in der leicht negativen Kopplung zu der Vorgabe „Das tun, was die anderen auch tun“ (Konformismus) zeigt.
Von den privaten Werten beeinflussen die Werte „Gute Freunde haben“ und „Vertrauensvolle Partnerschaft“ den Wert „Eigenverantwortung“ positiv, der Wert „Gutes Familienleben“ beeinflußt ihn leicht positiv. Weiterhin wirken sich die Wert-komponenten „Toleranz“ und der „robuste“ Individualismus („Seine Bedürfnisse durchsetzen“) verstärkend auf das Vorhandensein von Eigenverantwortungswerten aus. Interessanterweise beeinflußt jedoch auch das Vorhandensein des Ordnungsrespektes („Gesetz und Ordnung respektieren“) die Hochschätzung von Eigenverantwortung positiv.
Das Vorhandensein des Wertes „Eigenverantwortung“ läßt sich recht gut aus einem Kompositum von Hintergrundmotiven erklären: Zum einen ist Eigenverantwortung doppelt individualistisch bestimmt, sowohl intellektuell-individualistisch als auch autonom-individualistisch. Zum anderen beinhaltet das Verständnis von Eigenverantwortung auch den Respekt vor externen Standards (Ordnung) und die Hochschätzung sozialer Mikroverbände, vor allem von Partnerschaft und Freundeskreis. Diese Grundstruktur zeigt eine nicht unerhebliche Verwandschaft mit dem bereits skizzierten Anforderungsprofil der Eigenverantwortung.
Der Kompositumcharakter der Eigenverantwortung zeigt sich auch in ihren Hauptkomponenten (Kreativität und Unabhängigkeit), wenn man diese jeweils wiederum aus den verbleibenden 22 Werten erklärt. Die Kreativität hat sehr enge Assoziationen zum sozialen und politischen Engagement, zum Umweltbewußtsein, zur Kontaktfreude und zur Gefühlsbetonung (bei eventuell anfallenden Entscheidungen). Sie hat andererseits ein kritisches Verhältnis (negative Kopplung) zur Tradition (Indikator: „Am Althergebrachten festhalten“).
Unabhängigkeit ist dagegen weniger wertgestützt. Wenn sie mit anderen Werten einhergeht, dann besonders eng mit Wünschen nach Bedürfnis-durchsetzung, nach vollem Lebensgenuß und hohem Lebensstandard (also mit Dingen, die man im „höheren Sinne“ nicht unbedingt als Werte bezeichnen würde). Sie enthält jedoch auch eine eher konventionelle Komponente, nämlich eine deutliche Beziehung zum Wert „Gutes Familienleben“ und eine leichte zum „Stolz auf die deutsche Geschichte“. 2. Verschiedene soziale Gruppen In allen Gruppen der Bevölkerung -so unsere Ergebnisse -stehen zumindest die Hauptkomponenten bei der Erklärung von Eigenverantwortung -Kreativität und Unabhängigkeit -an der Spitze, es herrscht also ein ähnliches Grundverständnis vor. Allerdings variiert die Gewichtung dieser Komponenten, und es gibt gelegentlich Konkurrenz von anderen Komponenten, oder es mischen sich Nebenkomponenten in das Verständnis und die Motivation von Eigenverantwortung ein. Das war aufgrund der unterschiedlichen Lebenslagen auch zu erwarten. Nicht unbedingt vorherzusehen war die ermittelte grundsätzliche Homogenität der Hauptkomponenten bei West-und Ostdeutschen, Jüngeren und Älteren, Männern und Frauen sowie in den sozialen Schichten.
Diese Homogenität wird erst bei einer weiteren Gruppenspezifizierung bei vier ostdeutschen Gruppen durchbrochen: bei jüngeren Menschen, Frauen sowie Menschen, die sich in die mittlere und untere soziale Schicht einstufen. In der mittleren Schicht, bei jungen Leuten und Frauen aus den neuen Ländern ist der Wert „Fleiß und Ehrgeiz“ sogar am erklärungskräftigsten für die Hochschätzung von Eigenverantwortung. Wir interpretieren das so: Der Leistungswille scheint in diesen Gruppen so stark zu sein, daß er das rein individualistische Moment innerhalb der Eigenverantwortung leicht überlagert, welches allerdings dennoch kräf23 tig mitwirkt In der östlichen unteren Schicht rückt dagegen der Wert der Unabhängigkeit deutlich in den Hintergrund, wenn es um Eigenverantwortung geht, dafür werden besonders stark die Gefühle bei der eventuellen Entscheidungsfindung betont.
Betrachtet man die gesamte ostdeutsche Stichprobe, dann fällt die gegenüber den zwei Hauptkomponenten des Individualismus nahezu gleichwertige Betonung des eher konventionell gefärbten Leistungswertes „Fleißig und ehrgeizig“ auf. Weiterhin übt der Wert der Gefühlsbetonung im Vergleich zum Westen einen ungewöhnlich kräftigen Einfluß auf das Verständnis von Eigenverantwortung aus. Fast scheint es so, als ersetze der Leistungswert im Osten gegenüber dem Westen die externe Kontrollfunktion von „Ordnung und Sicherheit“. Es zeigt sich auch, daß die nonkonformistische Tendenz im Verständnis von Eigenverantwortung eigentlich aus dem Westen stammt und hier vor allem auf die jüngeren und die männlichen Befragten zurückgeht. Im Osten gibt es dagegen eher ein leicht antimaterielles Verständnis von Eigenverantwortung, das dort vor allem von den älteren Menschen gepflegt wird (statistisch knapp über der Signifikanzgrenze tritt das Phänomen auch in der östlichen mittleren Schicht auf). Eine gewisse Art von „Nonkonformismus“ tragen auch die jüngeren Ostdeutschen und die mittlere Schicht des Ostens zur Schau, die sich in der negativen Kopplung von Nationalstolz und Gottesglauben mit Eigenverantwortung zeigt.
Bei den jungen Menschen in den neuen Ländern spielt interessanterweise im Zusammenhang der Eigenverantwortung auch das „Gute Familienleben“ eine besondere Rolle, bei den jungen Menschen in den alten Ländern dagegen die „Partnerschaft“.
Die für Ostdeutschland ermittelte Konstellation wirkt insgesamt robuster und bodenständiger als die westdeutsche, die eine intellektuell-nonkonformistischere Färbung aufweist -insbesondere bei den jüngeren Westdeutschen. Im Vergleich von Männern und Frauen fällt auf, daß der Einfluß von Gesetz und Ordnung (Akzeptanz des externen Ordnungsrahmens) besonders auf das Verständnis von Eigenverantwortung von Männern zurückgeht, während bei den Frauen das Sicherheitsstreben eine wichtige Rolle spielt. Einem gewissen „Ordnungskonservatismus“ bei den Männern steht eine „Sicherheitsideologie“ der (vor allem älteren, westdeutschen) Frauen gegenüber. Die ostdeutschen Frauen betonen allerdings im Zusammenhang mit Eigenverantwortung weniger die Sicherheit und mehr das „Gute Familienleben“. Eine erhöhte Bedeutung von Sicherheit für das Verständnis von Eigenverantwortung findet sich auch in der westdeutschen unteren Schicht, aber in keiner der betrachteten ostdeutschen Gruppen.
Ein sehr prägnantes Bild von Eigenverantwortung entwickelt die obere Schicht; in dieser Gruppe gibt es hauptsächlich Westdeutsche. Die Interpretation von Eigenverantwortung bringt in dieser hinsichtlich der Lebensbedingungen „privilegierten“ Gruppe einen ausgeprägten Nonkonformismus und eine deutliche Ablehnung der Sicherheitsideologie mit sich, die von einer fast emphatischen Betonung der Unabhängigkeit begleitet wird. (Außerdem spielen Familie und Freunde eine wichtige Rolle sowie der hohe Lebensstandard.) Da Eigenverantwortung in dieser Gruppe ohnehin sehr hoch geschätzt wird, spiegelt sich im Verständnis von Eigenverantwortung der (stark wert-gestützte) Lebensstil einer gehobenen Gesellschaftselite von Freiberuflern, Unternehmern und leitenden Angestellten wider.
IV. Trendbestimmung und Prognose
Abbildung 4
Graphik 3: Persönlichkeitsstärke Merkmale der Persönlichkeitsstärke bei High-Performern (alle und Realisten)
Quelle: Wertesurvey 1997.
Graphik 3: Persönlichkeitsstärke Merkmale der Persönlichkeitsstärke bei High-Performern (alle und Realisten)
Quelle: Wertesurvey 1997.
Unsere ersten Analyseschritte haben ergeben, daß das mentale Potential der Eigenverantwortung in Deutschland rein quantitativ sehr groß ist. Qualitativ entspricht es auch schon recht gut den Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung. Läßt sich für die konstatierte mentale Konstellation der Eigenverantwortung in Deutschland eine zeitliche Entwicklung nachweisen und eine Prognose stellen? Uns steht eine Methode zur Verfügung, in bezug auf den Wert Eigenverantwortung zumindest indirekt einen Trend zu bestimmen und die Grundlage für eine Prognose gewinnen. Das Verbindungsglied soll die Speyerer Wertetypologie sein, die wir in dieser Zeitschrift bereits 1996, allerdings nur bis zum Jahre 1993, vorgestellt haben
Wir hatten bereits eine Differenzierung der Werte vorgenommen, die eher individualistisch (Kreativität, Unabhängigkeit, Durchsetzung) und eher konventionell (Ordnung, Sicherheit, Leistung)gefärbt sind, sowie der Werte, die auf die privaten Mikrogruppen von Familie, Partnerschaft und Freundschaft bezogen sind (vgl. Graphik l) Als sinnvolles und trennscharfes Unterteilungsraster verwenden wir bereits seit 1987/88 die drei Werte-dimensionen Konventionalismus („Gesetz und Ordnung respektieren“; „Nach Sicherheit streben“; „Fleißig und ehrgeizig sein“), Hedonismus und Materialismus („Die guten Dinge des Lebens in vollen Zügen genießen“; „Seine Bedürfnisse gegen andere durchsetzen“; „Einen hohen Lebensstandard haben“) sowie Selbstentfaltung und Engagement („Seine eigene Phantasie und Kreativität entfalten“; „Sich politisch engagieren“; „Sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen helfen“). Die erste Dimension bündelt verschiedene Werte, die in den verschiedenen Gruppen das Verständnis von Eigenverantwortung in konventioneller Hinsicht mehr oder weniger beeinflussen. Die zweite Dimension faßt die Werte des robusten Individualismus zusammen, der ebenfalls in das Verständnis von Eigenverantwortung einging, die dritte vereinigt die ebenfalls erklärungskräftigen idealistisch-intellektuellen Individualismuskomponenten.
Diese Wertedimensionen können durch verschiedene Individuen sehr unterschiedlich gewichtet werden. Nach allem, was wir bis jetzt wissen, können wir die empirische Hypothese aufstellen, daß das gemeinsame Auftreten aller drei Dimensionen auch am günstigsten für das Vorhandensein des Wertes Eigenverantwortung sein müßte. Unsere Quantifizierung, die wir in den alten Ländern über vier Meßpunkte bis in die Jahre 1987/88 zurückführen können, soll unser indirektes Vehikel zur Trendbestimmung und zur Prognose sein. Wir sind dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß die Konstellation, in der alle drei Wertedimensionen hoch ausgeprägt sind und die wir Aktive Realisten nennen, in der Tat die größte ist und daß sie bis zum Jahre 1997 auch expandierte. Die Aktiven Realisten sind allerdings mit einem Anteil von 36 Prozent an der gesamten westdeutschen Bevölkerung noch weit von einer „absoluten Mehrheit“ entfernt. Aufschlußreich ist der direkte innerdeutsche Vergleich:
In Ostdeutschland gibt es deutlich mehr Aktive Realisten als im Westen, insbesondere auch in der jüngsten Altersgruppe. Dagegen kommt in Westdeutschland sowohl bei jüngeren als auch älteren Befragten die Konstellation Nonkonforme Idealisten stärker vor, die auf einseitig intellektuell-idealistische Selbstentfaltung unter Hintanstellung der Konvention setzen. Diese Konstellation ist vor allem für jene sogenannte neue Mittelschicht typisch, die zugleich Akteur und Profiteur der Modernisierung westdeutscher Prägung war und somit das idealistisch-individualistische Wertemuster des Paradigmawechsels der siebziger Jahre besonders stark verinnerlicht hat (vgl. Tabelle l)
Was bedeuten die Trends der Wertetypen nun für die Konjunktur des Wertes Eigenverantwortung? Entscheidend ist, daß sich 64 Prozent der Realisten im Westen und 61 Prozent der (deutlich stärker vorhandenen) Realisten des Ostens in außerordentlich hohem Maße zur Eigenverantwortung bekennen, was unsere Vorhersage bestätigt Insofern kann man die Prognose wagen, daß ein weiter anhaltender Trend zum Aktiven Realismus auch eine weitere Ausbreitung des Wertes Eigenverantwortung fördern sollte.
Es sind insbesondere die jungen Leute, die diesen Trend bestimmen. Nach einem heftigen „Flirt“ mit dem hedonistischen Materialismus und einer erdrutschartigen Abwendung vom nonkonformen Idealismus, insbesondere zwischen den Meßzeit-punkten 1990 und 1993 geht die Entwicklung bei den jungen Leuten im Westen nun eindeutig in Richtung aktiver Realismus (im Osten war sie bereits erfolgt). Auch das rechtfertigt die Prognose, daß das Werteklima im Moment für die Ausprägung von Eigenverantwortung günstig ist. Es ist allerdings zu vermuten, daß in den letzten Jahren weniger eine quantitative Ausdehnung des Wertes „Eigenverantwortung“ stattgefunden hat, sondern eher eine qualitative „Modernisierung“ des Verständnisses davon. Darauf deutet das „Abschmelzen“ der Konventionalisten und das Wachstum der Realisten hin
V. Eigenverantwortung und Persönlichkeitsstärke
Abbildung 5
Graphik 4: Erwartungen Was man für die nächsten 5 Jahre für sich selbst erwartet
Quelle: Wertesurvey 1997.
Graphik 4: Erwartungen Was man für die nächsten 5 Jahre für sich selbst erwartet
Quelle: Wertesurvey 1997.
Im nächsten Abschnitt wollen wir analysieren, ob die hohe Schätzung des Wertes „Eigenverantwortung“ auch die gewünschten Folgen für die praktische Lebensbewältigung hat. Wir hatten angedeutet, daß eigenverantwortlich handelnde Individuen kompetent, robust und selbstbewußt mit der Wirklichkeit umgehen sowie offen und flexibel ihre Lebenschancen wahrnehmen und ergreifen können sollten.
In einem ersten Schritt wollen wir uns den allgemeinen psychischen Persönlichkeitsmerkmalen einer „Gesellschaft der Eigenverantwortlichen“ zuwenden. Dazu haben wir eine Liste von Fähigkeiten aufgestellt, die sich die Befragten auf einer Skala von 1 („trifft überhaupt nicht zu“) bis 7 („trifft voll und ganz zu“) zuschreiben sollten oder nicht. Es ist der Versuch, das Vorhandensein der heute breit diskutierten und geforderten psychischen Dispositionen für den Erfolg in einer flexiblen Informationsgesellschaft zu überprüfen. Die Liste enthält zum Beispiel die Disposition zur Teamfähigkeit, zur internalen Zuschreibung von Mißerfolgen und zur Selbstkontrolle. Gefragt wurde nach Kommunikativität und Empathie, nach intellektueller Kompetenz, Erfolgs-und Ziel-orientierung, nach der Belastungsresistenz, Frustrationstoleranz, Innovations-und Verbesserungsfreude, aber auch nach persönlicher Standfestigkeit, Konfliktfähigkeit und nach der Fähigkeit, „sich gut zu verkaufen“.
Gemessen an diesem sehr anspruchsvollen „Persönlichkeitsinventar“ stellt sich die deutsche Bevölkerung im Durchschnitt (gedämpft) positiv dar. Eine besonders gute Selbstbewertung wird bei der Teamfähigkeit („Ich kann gut mit anderen zusammenarbeiten“) und der Fähigkeit erzielt, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können; relativ schwach ist die „Performance“ bei der Fähigkeit, „sich gut. zu verkaufen“, zum Teil auch bei der Konfliktfähigkeit
Das ganze Konstrukt, das wir nach der Idee von Elisabeth Noelle-Neumann als Persönlichkeitsstärke bezeichnen, hat eine hohe interne Konsistenz. Die Merkmale der Persönlichkeitsstärke sind -wie die beiden Kurven in Graphik 3 zeigen -von großer Bedeutung für die eigenverantwortliche Lebensbewältigung. Diejenigen 42 Prozent der Bevölkerung, die Eigenverantwortung für sich selbst als „außerordentlich wichtig“ eingestuft haben (wir haben sie „High-Performer“ genannt), erzielen auch bei den Mittelwerten der psychischen Kompetenzmerkmale deutlich höhere Werte.
Der Effekt wird noch einmal außergewöhnlich gesteigert, wenn man nur jene mehr als 60 Prozent der Aktiven Realisten herausgreift, die Eigenverantwortung außerordentlich hoch schätzen (soge-nannte „High-Performer-Realisten“, kräftige Linie in Graphik 3). Diese Gruppe überwindet besonders deutlich gewisse Schwächen der deutschen Population, indem Konfliktfähigkeit, Innovativität und Belastungsresistenz weit über die deutschen Durchschnittswerte hinaus gesteigert werden. Selbst die besondere deutsche „Verkaufsschwäche“ wird deutlich abgemildert.
VI. Eigenverantwortung und Verhalten
Abbildung 6
Graphik 5: Erwartungen Was in den nächsten 5 Jahren unwahrscheinlich ist
Quelle: Wertesurvey 1997.
Graphik 5: Erwartungen Was in den nächsten 5 Jahren unwahrscheinlich ist
Quelle: Wertesurvey 1997.
Ein letzter empirischer Test soll sich nun mit besonders realitätsnahen und spezifischen Verhaltensdispositionen beschäftigen, die einer beruflich und regional flexiblen Informationsgesellschaft entsprechen (sollten). In unserem Wertesurvey haben wir nach den persönlichen Erwartungen für die nächsten fünf Jahre gefragt und dabei eine Vielzahl von Flexibilitätskategorien vorgegeben. Die Befragten sollten entweder angeben, für wie wahrscheinlich sie das Eintreten bestimmter Ereignisse für sich selbst ansehen oder für wie wahrscheinlich sie ein bestimmtes eigenes Verhalten halten. Die Frage bezog sich also sowohl auf die mögliche Betroffenheit (zum Beispiel von Arbeitslosigkeit, Lebensstandardsverlust) als auch auf die mögliche Aktivitäten (zum Beispiel Weiterbildung oder Stellenwechsel als potentielle „Vorsorge“ gegen Arbeitslosigkeit).
Graphik 4: „Erwartungen“ zeigt nun die jeweiligen Prozentsätze sowohl der erwarteten eigenen Betroffenheit als auch der erwarteten eigenen Aktivitäten. An der Spitze der „Betroffenheiten“ steht mehrheitlich die Erwartung, „in seinem Beruf länger arbeiten zu müssen“. Dem folgt die „Do-it-yourself“ -Aktivität: „Ich werde mehr Dinge selbst machen, um Geld zu sparen.“ An dritter Stelle steht Weiterbildung. 42 Prozent der Westdeutschen und sogar 52 Prozent der Ostdeutschen gehen für die nächsten fünf Jahre davon aus, „sich intensiv weiterzubilden“.
In den neuen Ländern geht bei zirka einem Drittel der Erwerbsbevölkerung die Angst vor Arbeitslosigkeit und Verdienstverlust um, ein weiteres Drittel befürchtet Lebensstandardsverluste, ein Viertel, die berufliche Position nicht halten zu können. „Negative Flexibilität“ ist also besonders ein Thema in Ostdeutschland, wobei allerdings auch in Westdeutschland nennenswerte Prozentsätze zusammenkommen. Auch Umschulung und Arbeitsstellenwechsel werden in den neuen Ländern für wahrscheinlicher gehalten als in den alten.
Der Gang in die berufliche Selbständigkeit und regionale wie internationale Mobilität wird in Ost-und Westdeutschland nur von wenigen Befragten ernsthaft erwogen. Flexibilität heißt also im Deutschland des Jahres 1997 „Do-it-yourself“ -Einstellung, Weiterbildungsbereitschaft und Sparsamkeit, läßt an Nebenjobs denken, an das „Zusammentun“ mit anderen (die ähnliche Probleme haben) oder gar an den stärkeren Einsatz der Ellenbogen. Viel weniger ins Kalkül gezogen wird dagegen die Flexibilität des Ortswechsels oder des Ausstiegs aus dem deutschen -weitgehend von der Abhängigkeit von Arbeitgebern bestimmten und an den Sozialstaat angekoppelten -Berufs-system.
Bekommen also diejenigen, die eine unflexible deutsche Sicherheitsmentalität beklagen, auf der Ebene der Verhaltensdispositionen doch recht? Tatsächlich verweisen die verhaltensnahen Daten auf eine für den „Liberalen“ enttäuschende Angepaßtheit der deutschen Verhaltensroutinen an das sicherheitsorientierte und wenig flexible deutsche Gesellschafts-und Sozialsystem. Doch diese Angepaßtheit steht „dialektisch“ den aufgezeigten Potentialen der deutschen Mentalität gegenüber.
Im Moment resultiert aus diesem Verhältnis der Kräfte der Beharrung und der Kräfte der Veränderung zumindest eine starke Bereitschaft zu „intensiver Weiterbildung“. Geht man davon aus, daß die Kräfte der Beharrung bei jüngeren Menschen -aufgrund des Lebenszyklus naturgemäß und aufgrund des Wertewandels säkular -schwächer und die Flexibilität höher sein sollten, dann müßte sich das auch in den verhaltensnahen Indikatoren zeigen.
In der Tat besteht die größte Differenz zwischen der jüngsten Gruppe der 18-bis 30jährigen und dem deutschen Durchschnitt bei der regionalen Mobilität. Graphik 5 zeigt, daß zum Beispiel die Gruppe der 46-bis 65jährigen zu 90 Prozent einen Wohnortwechsel in den nächsten fünf Jahren eindeutig ausschließt, die Gruppe der 31-bis 45jährigen immer noch zu 77 Prozent, die jüngste Gruppe der 18-bis 30jährigen jedoch nur zu 45 Prozent. Immerhin 35 Prozent der jüngsten Gruppe schließt es zumindest nicht aus, in den nächsten Jahren ins Ausland zu gehen. Die Jungen geben sich auch beruflich flexibler: 30 Prozent schließen den Gang in die Selbständigkeit nicht aus, 48 Prozent das Suchen von Nebenjobs, 58 Prozent einen Arbeitsstellenwechsel. Intensive Weiterbildung ist für 77 Prozent der jungen Leute ein Thema, wobei auch die 31-bis 45jährigen mit 70 Prozent einen guten Wert erreichen (und die 46-bis 65jährigen mit 44 Prozent einen ziemlich schwachen). Die letzte Gruppe geht auch weniger von längeren Arbeitszeiten aus.
In allen Altersgruppen rechnet man in ähnlicher Weise mit Lebensstandardseinbußen und reagiert mit der „Do-it-yourself“ -Einstellung („Mehr selbst machen“) und mit der (mäßigen) Betonung von Sparsamkeit. Bei den jüngeren Deutschen wird mehr und mehr auch eine „Ellenbogen“ -Einstellung eingenommen, und es wird eher erwogen, sich im Zweifelsfall mit anderen zusammenzutun. Festzuhalten gilt, daß die Altersvariable ungleich deutlichere Auswirkungen auf die Verhaltensflexibilität hat als andere sozialstrukturelle Merkmale (Schichtung, Bildung, Geschlecht), aber auch als die Werte (Eigenverantwortung, Selbstentfaltung) und die Persönlichkeitsstärke (wobei allerdings Werte und Persönlichkeitsstärke wiederum mehr erklären als die Sozialstruktur -außer dem Alter). Jugendlichkeit ist offensichtlich durch den anderen zeitlichen Lebenshorizont und die geringere räumliche Bindung der entscheidende praktische Impulsgeber, der Verhaltensstarre aufbricht oder gar nicht erst entstehen läßt.
VII. Junge Wertetypen und Verhaltensflexibilität
Abbildung 7
Tabelle 2: Flexibilitätsindikatoren und bürgerschaftliches Engagement nach Wertetypen (18-bis 30jährige)
Quelle: Wertesurvey 1997. Jeweils ein Plus-bzw. Minuszeichen bedeuten Abweichungen von 0. 2 Skalenpunkten auf einer 7er-Skala von 1 — „ist ganz ausgeschlossen“ bis 7-„ist ganz sicher“.
Tabelle 2: Flexibilitätsindikatoren und bürgerschaftliches Engagement nach Wertetypen (18-bis 30jährige)
Quelle: Wertesurvey 1997. Jeweils ein Plus-bzw. Minuszeichen bedeuten Abweichungen von 0. 2 Skalenpunkten auf einer 7er-Skala von 1 — „ist ganz ausgeschlossen“ bis 7-„ist ganz sicher“.
In einem letzten Schritt wollen wir die Altersvariable mit der Wertevariable verbinden, um zu testen, ob in der jugendlich-flexibleren Altersgruppe der 18-bis 30jährigen die Zugehörigkeit zu einem Wertetypus die Ausprägung von Flexibilität und Mobilität bestimmen (und zwar in quantitativer und qualitativer Hinsicht).
Wie Tabelle 2 zeigt, die die 18-bis 30jährigen gesamtdeutsch in die bereits zitierten Wertetypen aufteilt, ist das in deutlichem Maße der Fall. Die Zugehörigkeit nach Wertetypus produziert auch in der jüngsten Gruppe flexiblere und unflexiblere Verhaltensstile und typische Muster dieser Stile.
Als besonders unflexibel erweist sich die Gruppe der jugendlichen Resignierten und auch die kleine „Restgruppe“ der jungen Konventionalisten. Konventionalisten sind besonders immobil; Karriere, Wohnortswechsel und Selbständigkeit werden kategorisch ausgeschlossen. Das hat auch damit zu tun, daß junge Konventionalisten zu über 70 Prozent weiblich sowie zu einem hohen Anteil bereits verheiratet sind (46 Prozent) und Kinder haben (45 Prozent unter 6 Jahren). Auf (möglichen) Arbeitsplatz-und Lebensstandardsverlust reagieren sie, indem sie mehr selber machen, weniger konsumieren und stärker sparen bzw. eventuell die Arbeit wechseln wollen.
Die bedeutend größere Gruppe der Resignierten ist besonders passiv; Weiterbildung und Arbeitswechsel kommen nicht in Frage, obwohl befürchtet wird, in Zukunft weniger zu verdienen und die berufliche Position nicht halten zu können (Resignierte haben die höchste Berufstätigkeitsquote!). Angehörige dieser Gruppe haben allerdings auch nicht vor, ihre Ellenbogen einzusetzen oder sich im Zweifelsfall mit anderen zusammenzutun.
Realisten sind in vielen Punkten das klare Gegenstück zu den Resignierten. Sie sehen die Notwendigkeit von intensiver Weiterbildung und größerer zeitlicher Investition in den Beruf, um die eigene Karriere zu sichern. Stärker als andere erwägen Realisten auch, sich mit anderen zusammenzutun. Realisten, die starke konventionelle Werte aufweisen, zeigen auch eine Neigung zu konventionellen Aktivitäten, wie zur Sparsamkeit und zum „Selbermachen“. Sie weisen bereits eine leichte Immobilität auf, Wohnortswechsel und der Wechsel ins Ausland werden eher abgelehnt (wenn auch viel schwächer als von Konventionalisten und Resignierten). Das scheint an einer (beginnenden) „Verwurzelung“ der jüngeren Realisten zu liegen, die bereits eine recht gute berufliche Position erreicht haben und daher weniger mit Arbeitslosigkeit, Positions-und Lebensstandardsverlusten rechnen (dem entspricht auch eine hohe sozioökonomische und allgemeine Zufriedenheit). Die robust individualistische Komponente der Realisten deutet sich in der etwas erhöhten Neigung an, in der Zukunft eventuell auch die Ellenbogen einsetzen zu wollen.
Deutlicher zum Vorschein kommt die Tendenz zum „Ellenbogen-Individualismus“ (die bei den Realisten durch konventionelle und idealistische Werte gedämpft und kanalisiert wird) bei den Hedo-Materialisten (Hedomats), die ähnlich wie die Realisten auch mit einer „Karriere“ rechnen. Hedomats (zu 60 Prozent Männer, zu 80 Prozent Ledige) sind mobiler als Realisten; sie gehen eher von einem Wohnorts-und Arbeitsstellenwechsel aus (eventuell auch von Umschulung). Der Gang in die Selbständigkeit wird besonders stark erwogen. Dabei haben die Hedomats bereits die höchste Quote an Selbständigen und stammen auch überdurchschnittlich häufig aus Selbständigen-haushalten. Entsprechend ihrem hedonistischen und materialistischen Profil lehnen sie Konsumverzicht oder Selbstproduktion zum Zwecke des Sparens eher ab, wobei sie allerdings auch nicht davon ausgehen, in Zukunft Verdienstverluste zu erleiden.
Der räumlich flexibelste Typ sind die Idealisten. Wohnortwechsel und der Wechsel ins Ausland werden viel öfter erwogen als bei den anderen Wertetypen. Tendenziell wird hier die deutsche räumliche Immobilitätskultur durchbrochen. Dazu tragen sowohl der hohe Bildungsstand der Idealisten (46 Prozent Abitur), als auch ihr europäisches und weltbürgerliches Selbstverständnis bei. Idealisten kalkulieren für die Zukunft eher Verdienst-verluste als längere Arbeitszeiten ein. Arbeitsstellenwechsel, Umschulung und den Gang in die Selbständigkeit schließen sie nicht aus.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Altersvariable liefert klare Hinweise darauf, daß die deutsche Sicherheits-und Stabilitätskultur auf der verhaltensnahen Ebene zumindest einer deutlichen Aufweichung unterliegt. Dabei wirken die gewandelten Werte kräftig mit, allerdings mit unterschiedlichen Konsequenzen. Wo sich der Wandel eher als eine Anreicherung der konventionellen Werte mit modernen Selbstentfaltungswerten vollzieht -wie bei den Realisten -, erleben wir im Moment eher eine flexible und konsequente Chancennutzung innerhalb des „normalen“ sozialen Verhaltensrepertoires.
Bei den Hedomats dagegen beobachten wir eher eine Aufweichung von der robust-individualistischen Seite her, wobei Tendenzen zum Egoismus und zur Regelübertretung auftreten können. Die Idealisten durchbrechen vor allem die regionale und internationale Immobilität des deutschen Standortes. Sie sind außerdem in vielfältigen Zusammenhängen freiwillig engagiert und vernetzt. Bürgerschaftliches Engagement wird bereits zu 52 Prozent ausgeübt (vgl. Tabelle 2)
Die Entwicklung der Gruppe der Resignierten stellt dagegen -neben der „Kontrolle“ eventueller destruktiver Tendenzen in der Gruppe der Hedomats -ein Problempotential der weiteren „robusten“ und „flexiblen“ Modernisierung in Deutschland dar, und zwar sowohl aufgrund von deren tiefgreifendem fatalistischem und passivem Profil als auch aufgrund der Ungewißheit der weiteren quantitativen Entwicklung der Resignierten. Sie kommen am ehesten als Rekrutierungspotential einer sich möglicherweise in Zukunft herausbildenden Gruppe der „working poor“ in Frage
Thomas Gensicke, geb. 1962; 1984-1989 Studium der Philosophie in Leipzig; 1990-1991 Mitarbeiter am Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien (BISS); seit Oktober 1991 Forschungsreferent am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Lehrstuhl Prof. Dr. Helmut Klages); Bearbeitung des Rahmenprojektes „Wertewandel in Deutschland“. Veröffentlichungen u. a.: Deutschland am Ende der Neunziger -Folgen der Wiedervereinigung und Globalisierung, in: Deutschland Archiv, 31 (1998) 1; (zus. mit Helmut Klages), Bürgerschaftliches Engagement im Ost-West-Vergleich, in: Heiner Meulemann (Hrsg.), Die Innere Mauer -eine Herausforderung an den Wertewandels-Forschung nach der deutschen Wiedervereinigung, Opladen 1998 (i. E.).
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