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Soziale Sicherung im europäischen Vergleich | APuZ 34-35/1998 | bpb.de

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APuZ 34-35/1998 Beschäftigungspolitisch erfolgreiche Länder. Lehren für die Bundesrepublik Deutschland? Soziale Sicherung im europäischen Vergleich Zwischen Moralität und Eigeninteresse. Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat in internationaler Perspektive

Soziale Sicherung im europäischen Vergleich

Walter Hanesch

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ausgehend von einer Klassifizierung der Europäischen Kommission werden im vorliegenden Beitrag vier Typen von sozialen Sicherungssystemen in Westeuropa unterschieden. Betrachtet man die Sozialbudgets der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, zeigt sich, daß die Staaten des skandinavischen, des kontinentaleuropäischen, des angelsächsischen und des südeuropäischen Modells jeweils durch bestimmte Sozialleistungsniveaus, Gewichtungen der einzelnen Leistungsbereiche und Finanzierungsstrukturen gekennzeichnet sind. Insgesamt haben nach einer Phase der Stagnation in den achtziger Jahren die Sozialleistungsniveaus seit Beginn der neunziger Jahre wieder zugenommen. Die sozialen Sicherungssysteme sind in allen Unionsstaaten mit einem tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und demographischen Wandel konfrontiert. Vor dem Hintergrund einer Verschiebung politischer und fiskalischer Prioritäten stehen in vielen Staaten Konsolidierungs-und Umbau-maßnahmen im Vordergrund. Zu erwarten ist, daß in Zukunft Sozialtransfers stärker finalisiert, das heißt am Bedarf ausgerichtet werden, um die Effektivität der eingesetzten Mittel zu verbessern. Eine Beschränkung der europäischen Sicherungssysteme auf eine Mindestsicherung würde jedoch einen Bruch mit der spezifischen Tradition europäischer Sozialstaatlichkeit bedeuten und ist auch weder ökonomisch noch fiskalisch geboten. Während der Einführung eines einheitlichen europäischen Sicherungssystems nationale Souveränitätsinteressen entgegenstehen, droht die nationale Sozialpolitik im Zuge der Standortkonkurrenz zunehmend erschwert zu werden. Auch wenn es zu einer gewissen Annäherung der nationalen Sicherungssysteme kommt, bleibt vorerst offen, auf welchem Niveau sich die soziale Sicherung in der Union in Zukunft einpendeln wird.

I. Fragestellungen

Tabelle 1: Ausgaben der Staaten der Europäischen Gemeinschaft (Europäischen Union) für soziale Sicherheit 1970 bis 1995(1) Quellen: Europäische Kommission 1995 und 1998; EUROSTAT 1998.

Fragen der sozialen Sicherung wurden in der deutschen Politik und Öffentlichkeit bisher fast ausschließlich im nationalen Kontext diskutiert. Erst in den letzten Jahren ist hier ein Wandel eingetreten, der vor allem auf drei Problemkomplexe zurückzuführen ist: Zum einen wächst vor dem Hintergrund des weltweiten Globalisierungsprozesses die Sorge, ob in einer verschärften weltweiten Standortkonkurrenz das vergleichsweise hohe soziale Sicherungsniveau in Deutschland wie in Europa aufrechterhalten werden kann. Zum anderen wirft der Prozeß der (west-) europäischen Integration die Frage auf, ob in einem vereinten Europa die nationalen Sozialstaatsmodelle auch künftig Bestand haben werden oder ob es zu einem Prozeß der Angleichung kommen wird, der die bisherigen Schutz-und Sicherungsstandards in der Bundesrepublik in Frage stellen könnte. Schließlich hat die Tatsache, daß das bisherige Sozialstaatsmodell Bundesrepublik durch die Beschleunigung des wirtschaftlichen und sozialen Wandels und die Veränderung politischer und fiskalischer Rahmenbedingungen vor einer tiefgreifenden Herausforderung steht, das Interesse an der Frage geweckt, wie unsere Nachbarländer mit vergleichbaren Problemen fertig werden.

Im folgenden sollen die Systeme der sozialen Sicherung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) in vergleichender Perspektive dargestellt werden Dabei werden zunächst die verschiedenen Sozialstaatsmodelle innerhalb der EU charakterisiert. Vor diesem Hintergrund werden in einem zweiten Schritt Stand und Entwick-lung des Umfangs und der Struktur der Ausgaben wie der Einnahmen für soziale Sicherung in den Unionsstaaten beschrieben. Im Anschluß daran wird die Frage aufgegriffen, mit welchen Problemen und Herausforderungen die europäischen Sicherungssysteme derzeit konfrontiert werden und wie die Unionsmitglieder darauf reagieren. Die abschließenden Bemerkungen sind der Frage gewidmet, welche Konsequenzen die Europäische Wirtschafts-und Währungsunion auf die nationalen Sozialsysteme haben wird und welche Entwicklungsperspektiven die europäischen Sicherungsmodelle vor dem Hintergrund von Globalisierung und Binnenmarktintegration. noch besitzen.

II. Sozialstaatsmodelle und soziale Sicherung im europäischen Vergleich

Graphik 1: Sozialleistungsquoten der EU-Mitgliedstaaten 1995 Quelle: Europäische Kommission 1998.

Auch wenn in den westeuropäischen Staaten traditionell große Ähnlichkeiten bei den Zielen der sozialen Sicherung zu verzeichnen sind, fallen die Formen der Umsetzung doch sehr unterschiedlich aus. Konzentriert man sich auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, kann man -stark vereinfacht -vier Modelltypen sozialer Sicherung unterscheiden, denen sich die einzelnen EU-Mitgliedstaaten wie folgt zuordnen lassen (1) Die Staaten des skandinavischen Sicherungsmodells (Dänemark, Schweden, Finnland) sind dadurch gekennzeichnet, daß soziale Sicherungsleistungen als Bürgerrechte definiert sind, wobei allen Bürgern gleiche steuerfinanzierte Sicherungsleistungen zustehen. Personen, die einer bezahlten Beschäftigung nachgehen, erhalten zusätzliche einkommensbezogene Leistungen aus betrieblichen Systemen. Nur die Arbeitslosenversicherung ist von dem staatlichen Sicherungssystem abgetrennt und beruht auf Freiwilligkeit. Insgesamt liegt das Niveau der Sozialleistungen vergleichsweise hoch, wobei die Steuerfinanzierung dominiert und entsprechend hohe Steuerabgaben erhoben werden. (2) Großbritannien und Irland repräsentieren das angelsächsische Sicherungsmodell. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, daß eine umfassende soziale Sicherung existiert, in der neben Sozialversicherungsleistungen auf niedrigem Niveau bedarfsgeprüfte Fürsorgeleistungen eine große Rolle spielen. Während das staatliche Gesundheitswesen in Großbritannien allen Bürgern uneingeschränkt kostenlos zur Verfügung steht, gilt dies in Irland nur für Bezieher niedriger Einkommen. Deutschland, Österreich, Frankreich und die Beneluxstaaten gelten als die Staaten des kontinentaleuropäischen Sicherungsmodells. Hier bildet die Sozialversicherung den Kernbereich des sozialen Sicherungssystems; soziale Sicherung ist also direkt oder indirekt (für Familienangehörige) an den Beschäftigungsstatus gekoppelt. Die überwiegend beitragsfinanzierten Leistungen der Sozialversicherung sind abhängig von der früheren Erwerbseinkommensposition und variieren zum Teil nach der Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen. Sicherungslücken in diesem primären Netz werden durch ein separates letztes Netz von Fürsorgeleistungen geschlossen. Eine Ausnahmestellung kommt schließlich den südeuropäischen Staaten zu, die einem rudimentären Sicherungsmodell zuzuordnen sind. In diesen Ländern sind erst in den letzten Jahrzehnten im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialökonomischen Strukturwandels allgemeine soziale Sicherungssysteme auf-bzw. ausgebaut worden. In der Regel sind hier gemischte Versicherungssysteme anzutreffen, die sich aus betrieblichen und Sozialversicherungssystemen zusammensetzen, wobei große Sicherungslücken bestehen und das Leistungsniveau insgesamt vergleichsweise niedrig liegt. De facto gehen die Sicherungssysteme in diesen Ländern immer noch von der Prämisse aus, daß eine ergänzende Absicherung durch die primären Netze (Familie und private Wohltätigkeit) erfolgt, wobei der wirtschaftliche und soziale Wandel die Voraussetzungen hierfür zunehmend untergräbt.

Aus dieser Unterscheidung von Modelltypen sozialer Sicherung wird erkennbar, daß es derzeit kein einheitliches Modell des europäischen Sozial-staats gibt, daß die (west-) europäischen Nationen vielmehr gemäß ihrem jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand sowie aus ihren spezifischen sozialen und kulturellen Traditionen heraus ganz unterschiedliche Modelle von Sozialstaatlichkeit und sozialer Sicherung entwickelt haben. Läßt man das südeuropäische Modell des rudimentären Sozialstaats einmal beiseite und interpretiert dieses eher als ein Entwicklungs-oder Übergangsmodell 3, lassen sich also drei klar konturierte Sicherungsmodelle unterscheiden, die heute in Westeuropa bzw. innerhalb der Europäischen Union nebeneinander existieren. Während das angelsächsische Modell auch außerhalb des europäischen Kontinents -insbesondere in den USA, in Australien und Neuseeland -große Verbreitung gefunden hat, können das skandinavische und das kontinentaleuropäische Modell als spezifisch europäisch interpretiert werden, und sie sind auch weitgehend auf Europa beschränkt.

In der international vergleichenden Wohlfahrtsforschung sind wiederholt Versuche unternommen worden, eine umfassende Typologie für soge-nannte Sozialstaatsregimes zu entwickeln. Am bekanntesten ist der Ansatz von Gsta Esping-Andersen 4, der mit seinen „Three Worlds of Welfare Capitalism" die internationale Debatte nachhaltig beeinflußt hat. Esping-Andersen hat dabei auf der Basis komplexer Erklärungsmodelle drei Regimetypen unterschieden, die auf jeweils unterschiedlichen Verteilungsmustern von Arbeit, Steuern und Sozialleistungen, auf spezifischen ordnungspolitischen Vorstellungen und institutionellen Arrangements basieren und ebenso Parteien-Konstellationen und Kräfteverhältnisse zwischen den Arbeitsmarktakteuren mit einbeziehen. Die von ihm unterschiedenen Regimetypen korrespondieren weitgehend mit den eingangs unterschiedenen Modellen sozialer Sicherung, auch wenn die Wohlfahrtsregimes weit über den Bereich der sozialen Sicherung hinausreichen: So entspricht Esping-Andersens Typus des „liberalen Wohlfahrtsstaatsregimes“ dem angelsächsischen Sicherungsmodell, das „sozialdemokratische Regime“ dem skandinavischen Modell und das sogenannte „konservative oder Bismarck-Regime“ dem kontinentaleuropäischen Modell. An dieser Stelle kann und soll die Konstruktion solcher Sozialstaatsregimes oder weitergefaßter Sozialstaatsmodelle nicht näher analysiert und gewürdigt werden. Der Erkenntnisgewinn eines solchen Ansatzes liegt vor allem darin, daß die soziale Sicherung nicht bereits mit einem Sozialstaatsmodell gleichgesetzt werden kann. Sie bildet vielmehr lediglich ein -zweifellos wichtiges -Moment einer umfassenderen Konstruktion von Sozialstaatlichkeit und entfaltet ihre Wirkungen erst vor dem Hintergrund einer komplexen Interaktion mit weiteren Elementen wie der Arbeits-und der Steuerpolitik, aber auch mit den vorhandenen Strukturen des Arbeitsmarkts, der Haushalte und Netzwerke

III. Ausgaben für soziale Sicherung im westeuropäischen Vergleich

Tabelle 2: Ausgaben für soziale Sicherheit nach Leistungsarten 1995 in der Europäischen *Union (Ausgaben in Prozent der Gesamtausgaben) Quelle: Europäische Kommission 1998.

Allgemein gilt die Höhe der Ausgaben für soziale Sicherung als ein guter Indikator für den Entwicklungsstand des jeweiligen sozialen Sicherungssystems. Da die absolute Höhe der Ausgaben oder die Ausgabenhöhe pro Kopf wegen des unterschiedlichen Einkommens-und Preisniveaus wenig aussagekräftig ist, wird vor allem die Sozialausgaben-(oder Sozialleistungs-) quote, d. h. das •Verhältnis zwischen Sozialausgaben und Bruttoinlandsprodukt, als Maßstab für die relative Höhe der Sozialausgaben herangezogen

Wie sieht die Höhe der Sozialleistungsquote in der Europäischen Union bzw. in den einzelnen Mitgliedstaaten aus, wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt, wie setzen sich die Sozialleistungen zusammen, wie werden sie finanziert? Diesen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden. 1. Höhe und Entwicklung der Sozialleistungsquoten Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, betrugen die Ausgaben für soziale Sicherung in der Europäischen Union 1995 28, 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Gemeinschaft. Die Höhe der Sozialleistungsquote weist innerhalb der Gemeinschaft jedoch große Unterschiede auf. Der Spitzenwert von 35, 6 Prozent wurde in Schweden erreicht, dicht gefolgt von Dänemark mit 34, 3 Prozent, Finnland mit 32, 8 Prozent und den Niederlanden mit 31, 6 Prozent. Mit größerem Abstand folgten Frankreich mit 30, 6 Prozent, Belgien und Österreich mit 29, Prozent und Deutschland mit 29, 4 Prozent. Ebenfalls mittlere Sozialleistungsquoten fanden sich in Großbritannien (UK) mit 27, 7 Prozent, Luxemburg mit 25, 3 Prozent und Italien mit 24, 6 Prozent. Am unteren Ende dieser Rangfolge lagen Irland (19, 9 Prozent), Portugal (20, 7 Prozent), Griechenland, dessen Wert von 21, 0 allerdings als wenig zuverlässig gilt, und Spanien (21, 9 Prozent). Gerade für die Bürger der Bundesrepublik, die ja zumeist davon ausgehen, daß „ihre“ Sozialleistungsquote im europäischen Maßstab sehr hoch liegt, muß die Feststellung ernüchternd sein, daß die Bundesrepublik in dieser Hinsicht lediglich knapp über dem Durchschnitt liegt. Aus Graphik 1 wird deutlich erkennbar, daß die Staaten des skandinavischen Sicherungsmodells an der Spitze der europäischen Rangordnung liegen, gefolgt von den Staaten des kontinentaleuropäischen Modells, während die Staaten des südeuropäischen und des angelsächsischen Modells mit deutlichem Abstand am Ende der Rangskala plaziert sind.

Vergleicht man die Unterschiede in den Sozialleistungsquoten mit der jeweiligen Höhe des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts, ergibt sich als eindeutige Tendenz, daß mit steigendem Einkommensniveau auch die relative Höhe der Sozialausgaben zunimmt. Dieser „latente Konsens“ (Fritz W. Scharpf) zwischen den Ländern der Europäischen Union wird von der Europäischen Kommission inhaltlich wie folgt umschrieben: „Je weiter sich eine Volkswirtschaft entwickelt und je reicher sie wird, desto größer wird der Teil der Ressourcen, der für die verschiedenen Bereiche der sozialen Sicherheit ausgegeben wird.“ 7 Allerdings gibt es zum Teil auch zwischen Ländern mit vergleichbarem Pro-Kopf-Einkommen -wie etwa den Niederlanden und Italien -beträchtliche Unterschiede in der relativen Leistungshöhe, was darauf verweist, daß das jeweilige Wohlstandsniveau nicht allein für die Höhe der Sozialleistungen maßgeblich ist.

Auch die Entwicklung der Sozialleistungsquoten seit Beginn der siebziger Jahre weist große Unterschiede auf, wenn man die Entwicklung bis 1995 betrachtet (vgl. Tabelle 1): In der Europäischen Gemeinschaft als Ganzes war in den siebziger Jahren und in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ein Anstieg der Sozialleistungsquote zu verzeichnen; dagegen ging die Quote in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zurück, um Anfang der neunziger Jahre wieder stark zuzunehmen. Insgesamt stieg sie von 1970 bis 1995 von 19, 0 Prozent auf 28, 4 Prozent. Kann man die Expansion der Sozialausgaben in den siebziger Jahren als Ausdruck einer (bis Mitte der siebziger Jahre reichenden) Phase der expansiven Sozialpolitik werten, standen die Anstiege in der ersten Hälfte der achtziger und der neunziger Jahre in engem Zusammenhang mit den damaligen weltweiten Rezessionstendenzen. So gelang es auch Großbritannien trotz „Thatcherismus" und „konservativer Revolution“ nicht, in diesem Zeitraum einen durch zunehmende Bedarfslagen verursachten Anstieg der Sozialausgabenquote zu vermeiden. Eine Sondersituation war in den südeuropäischen Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien zu verzeichnen. Hier stieg die Sozialleistungsquote seit 1970 fast durchgängig an -als Ausdruck einer nachholenden Entwicklung zum Aufbau eines den übrigen Mitgliedsländern vergleichbaren Sozial-staats.

Auch die Bundesrepublik wies eine besondere Entwicklung auf, ging doch die Sozialleistungsquote im gesamten Verlauf der achtziger Jahre zurück, um erst Anfang der neunziger Jahre als Folge der Vereinigung wieder anzusteigen. In der Transformationskrise stieg die Sozialleistungsquote in den neuen Bundesländern zu Beginn der Vereinigung auf den erstaunlichen Wert von zwei Drittel der ostdeutschen Inlandsproduktion und war Mitte der neunziger Jahre noch doppelt so hoch wie die Quote im früheren Bundesgebiet. Die hohe Sozialleistungsquote in den neuen Bundesländern wurde jedoch durch einen entsprechenden Rückgang der Quote im früheren Bundesgebiet fast ausgeglichen; der Anstieg der deutschen Sozialleistungsquote war daher -trotz der enormen „Vereinigungslasten“ -nur geringfügig stärker als in der gesamten Europäischen Union. Als Folge einer rigiden Politik der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und einer zunehmend stärker neoliberal ausgerichteten Politik des „Umbaus des Sozialstaats“ verschob sich die Position der Bundesrepublik in der Rangskala relativer Sozialausgaben in der Union: Lag sie noch Anfang der siebziger Jahre mit ihrer Sozialleistungsquote an der Spitze der europäischen Staaten, reichte es 1995 nur noch für eine Position im Mittelfeld, knapp oberhalb des Unionsdurchschnitts. 2. Funktionale Gliederung der Ausgaben für soziale Sicherung Die Tabellen 2 und 3 zeigen, wie sich die Sozialausgaben 1995 in funktionaler Hinsicht nach den wichtigsten Aufgabenbereichen untergliederten. Dabei wird erkennbar, daß nicht nur große Unterschiede im Niveau und in der zeitlichen Entwicklung bestehen, sondern auch die Binnenstruktur der europäischen sozialen Sicherungsmodelle große Differenzen aufweist. Betrachtet man dabei die Anteile an den Gesamtausgaben (vgl. Tabelle 2), wird erkennbar, wie das relative Gewicht des jeweiligen Bereichs im Gesamtleistungspaket des einzelnen Mitgliedstaates ausfällt. Betrachtet man dagegen den jeweiligen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (Tabelle 3), steht die relative Höhe im Verhältnis zum volkswirtschaftlichen Leistungspotential im Blickpunkt. So kann es etwa sein, daß ein Leistungsbereich in einem Mitgliedstaat zwar einen hohen Anteil an den Ausgaben hat, jedoch -da die Ausgaben insgesamt niedrig sind -nur einen vergleichsweise bescheidenen Anteil am BIP erreicht; das sozialstaatliche Versorgungsniveau wird daher in diesem Fall trotz des hohen Ausgabenanteils eher niedrig ausfallen. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die (relativen) Ausgaben nichts über den Grad der Bedarfsdeckung aussagen können, solange ihnen nicht Umfang und Struktur der jeweiligen Bedarfslagen und die Wirkung der mit den Ausgaben finanzierten Maßnahmen und Leistungen gegenübergestellt werden.

Im folgenden sind die wichtigsten Befunde zusammengefaßt: -In nahezu allen Mitgliedstaaten bildeten die Leistungen für Alte und Hinterbliebene die größte Ausgabenposition (EU-Durchschnitt 42, 4 Prozent); ihr Anteil am BIP betrug 12, 1 Prozent. Der Anteil dieser Ausgaben am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt variierte zwischen 5, 0 Prozent in Irland und 15, 4 Prozent in Italien. In der Bundesrepublik erreichte dieser Leistungsbereich einen leicht unterdurchschnittlichen Anteil an den Gesamtausgaben (40, 8 Prozent) und am BIP (12, 0 Prozent).

-Den zweitgrößten Ausgabenbereich stellten die Leistungen der Gesundheitsfürsorge und im Krankheitsfall mit 26, 2 Prozent der Sozialausgaben bzw. 7, 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts dar; auch hierbei variierte der BIP-Anteil in den einzelnen Mitgliedstaaten -wenn auch schwächer -zwischen 5, 0 Prozent in Italien und 8, 7 Prozent in Deutschland. Insgesamt erreichte dieser Ausgabenbereich in der Bundesrepublik als Anteil an den Gesamtaus19 gaben und als Anteil am BIP einen Spitzenwert. -Es folgen drei Bereiche -Leistungen bei Arbeitslosigkeit 1 Prozent der Gesamtausgaben bzw. 2, 3 Prozent des BIP), Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit und Behinderung (8, 0 Prozent bzw. 2, 3 Prozent) sowie Leistungen an Familien und Kinder (7, 3 Prozent bzw. 2, 1 Prozent) -, deren finanzielles Gewicht eine mittlere Größenordnung erreichte. Die BIP-Anteile schwankten bei den Leistungen bei Arbeitslosigkeit zwischen 0, 5 Prozent in Italien und 4, Prozent in Dänemark, bei den Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit und Behinderung zwischen 0, 9 Prozent in Irland und 4, 7 Prozent in Finnland und den Niederlanden und bei den Leistungen an Familien und Kinder zwischen 0, 4 Prozent in Spanien und 4, 2 Prozent in Finnland.

Die Anteilswerte der Bundesrepublik für die drei Bereiche lagen im jeweiligen Mittel-feld.

Entgegen den landläufigen Vorstellungen, daß die hohe Arbeitslosigkeit Hauptursache für hohe Sozialtransfers sei, hielten sich die dadurch direkt verursachten Ausgaben mit 2, 3 Prozent des BIP also in vergleichsweise engen Grenzen. Allerdings sind die Belastungen der Sozialsysteme weitaus höher anzusetzen, da infolge der Arbeitslosigkeit das Aufkommen von Steuern und Abgaben verringert wird und höhere Ausgaben in anderen Bereichen anfallen. -Vergleichsweise niedrig fielen schließlich in der EU -wie auch in der Bundesrepublik -die Ausgaben für Wohngeld (1, 9 Prozent der Gesamtausgaben bzw. 0, 6 Prozent des BIP), für Leistungen bei Sozialer Ausgrenzung 8 (1, 6 Prozent bzw. 0, 5 Prozent) und die sonstigen Ausgaben (0, 8 Prozent bzw. 0, 2 Prozent) aus; auch die Verwaltungsausgaben bewegten sich mit 3, 4 Prozent bzw. 1, 0 Prozent in bescheidenen Größenordnungen.

Wie bereits angedeutet, sagt das bloße finanzielle Leistungsvolumen noch nichts über die Wirkungen dieser Mittel und den Grad der Zielerreichung in der sozialpolitischen Bedarfsdeckung in den verschiedenen Feldern der einzelnen EU-Staaten aus 9. Dennoch kommt in diesen Anteilswerten zum Ausdruck, daß die Bundesrepublik in den verschiedenen Leistungsfeldern keineswegs über ein besonders ausgebautes Leistungsvolumen verfügt, sondern zumeist im Mittelfeld verbleibt. 3. Finanzierung der sozialen Sicherung Zur Finanzierung des sozialen Sicherungssystems werden in allen Mitgliedstaaten sowohl Beitragseinnahmen, gemeinsam getragen von Arbeitgebern und Versicherten, als auch allgemeine Steuermittel herangezogen. In einigen wenigen Staaten wie Belgien, Frankreich und Luxemburg werden zusätzlich zweckgebundene Sozialsteuern erhoben, deren Volumen jedoch bisher nur von geringer Bedeutung ist. Insgesamt wurden die Ausgaben für soziale Sicherung in der Union 1995 zu knapp 40 Prozent aus Arbeitgeberbeiträgen und zu 24 Prozent aus Versichertenbeiträgen finanziert, während die Anteile der allgemeinen Steuern rund 30 Prozent und die der Sozialsteuern 2 Prozent ausmachten.

Auch wenn diese Einnahmenstruktur im Prinzip für alle Mitgliedstaaten gilt, bestehen doch große Unterschiede bei den Anteilen der jeweiligen Einnahmearten, entsprechend den je spezifischen Traditionen der nationalen Sicherungssysteme. So erreichte der Anteil der Beitragseinnahmen in den kontinentaleuropäischen Staaten -Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien und die Niederlande -1995 einen Wert von zwei Dritteln und mehr (bis zu 71, 5 Prozent in Frankreich). Nur wenig niedriger fielen die Beitragsanteile in den Staaten des südeuropäischen Modells aus. Umgekehrt lag der Anteil der Sozialversicherungsbeiträge in den Staaten des skandinavischen Sicherungsmodells (20, 3 Prozent in Dänemark) besonders niedrig. Niedrige Beitragsquoten waren auch in den Staaten des angelsächsischen Modells -40 Prozent und weniger in Großbritannien und Irland -anzutreffen. Insgesamt hat in den Jahren seit 1980 eine allmähliche Umstrukturierung der Finanzierungsarten eingesetzt: In der gesamten Europäischen Union ist der Anteil der Arbeitgeberbeiträge zurückgegangen, während umgekehrt die Beiträge der Versicherten wie auch die Steuereinnahmen stärker zur Finanzierung der sozialen Sicherung herangezogen werden.

Bei der Finanzierungsstruktur nach Quellen ist allen Mitgliedstaaten gemeinsam, daß Staat, Unternehmen und private Haushalte an der Finanzierung der sozialen Sicherung maßgeblich beteiligt sind. In fast allen Mitgliedstaaten ist der Staat (Zentralstaat und lokale Gebietskörperschaften)

der Hauptfinanzier der sozialen Sicherung, wobei sich dieser Finanzierungsbeitrag aus Steuer-und Beitragsmitteln zusammensetzt. Bezeichnenderweise sind die Staatsanteile in den Staaten des skandinavischen und angelsächsischen Modells am höchsten: So erreichte der Staatsanteil in Dänemark 1995 den Wert von 74, 2 Prozent, in Irland immerhin noch den Wert von 71, 5 Prozent; in den gleichen Staaten war der Beitrag der Unternehmen am niedrigsten (Dänemark 6, 3 Prozent, Irland 14, 1 Prozent). In Großbritannien bewegte sich der Staatsanteil dagegen mit 56, 8 Prozent auf mittlerem Niveau, da hier auch der Unternehmensanteil ein vergleichweise hohes Niveau erreichte (29, 2 Prozent). In allen Staaten des skandinavischen und des angelsächsischen Modells war der Finanzierungsanteil der privaten Haushalte extrem niedrig. Vergleichsweise niedrig fiel der Staatsanteil in den kontinentaleuropäischen Staaten aus, so etwa in den Niederlanden mit 27, 5 Prozent, in Frankreich mit 30, 5 Prozent und Deutschland mit 37, 0 Prozent. Die gleichen Länder sind durch einen hohen Finanzierungsanteil der privaten Haushalte gekennzeichnet. In den Niederlanden erreichte ihr Finanzierungsbeitrag den Wert von 46, 9 Prozent; hohe Anteile waren ebenso in Belgien mit 35, 2 Prozent, in Deutschland mit 29, 3 Prozent und in Frankreich mit 26, 8 Prozent zu verzeichnen. Hinsichtlich des Beitrags der Unternehmen ist kein klares Verteilungsmuster erkennbar. Auffallend ist jedoch fast durchgängig ein Rückgang des Finanzierungsbeitrags der Unternehmen seit 1990.

IV. Neue Herausforderungen und Antworten der sozialen Sicherungssysteme in Europa

Tabelle 3: Ausgaben für soziale Sicherheit nach Leistungsarten 1995 in der Europäischen *Union (Ausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) Quelle: Europäische Kommission 1998.

Auch wenn wir unterschiedliche Modelle sozialer Sicherung in den europäischen Staaten feststellen können, ist ihnen doch gemeinsam, daß sie sich seit den achtziger Jahren mit einer tiefgreifenden Herausforderung konfrontiert sehen, die u. a. aus den folgenden Entwicklungstrends resultiert -Beschleunigung des sektoralen Wandels von Produktion und Beschäftigung; -anhaltend hohe und trendmäßig wachsende Zahl von Arbeitslosen, wobei zugleich die Länge der Arbeitslosigkeitsphasen zunimmt;

-Herausbildung und zunehmende Ausbreitung atypischer und zum Teil auch prekärer Formen der Beschäftigung;

-Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen; -Wandel der Familienstrukturen und der Formen des Zusammenlebens in der Bevölkerung; -Wachstum der Zahl der Einkommensarmen wie auch der Empfänger von Fürsorgeleistungen vor dem Hintergrund wachsender ökonomischer Ungleichheit;

-zunehmender Anteil alter und sehr alter Menschen -auf längere Frist -bei zunehmender Tendenz zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben sowie -Anstieg der Ausgaben für das Gesundheitswesen. Den wachsenden sozialökonomischen Risiken im Gefolge des beschleunigten wirtschaftlichen und sozialen Wandels und vor allem der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit steht in den europäischen Staaten ein zunehmend enger fiskalischer und politischer Handlungsrahmen gegenüber als Folge der Ausrichtung der Wirtschafts-, Sozial-und Finanzpolitik an der internationalen ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit und einer von den Kriterien des Maastrichter Vertrags bestimmten Politik zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Wie die Europäische Kommission feststellte, hatten fast alle politischen Maßnahmen im Bereich der sozialen Sicherheit der letzten Jahre eine Kostendämpfung und -soweit möglich -Kostenverringerung zum Ziel.

Sie setzten dabei auf der Leistungsseite u. a. auf -Maßnahmen zur Verschärfung der Regelungen für den Anspruch auf Leistungen;

-eine stärkere Ausrichtung der Leistungen auf die am meisten Bedürftigen;

-die Schwerpunktverlagerung von sogenannten passiven zu sogenannten aktiven Maßnahmen und $-eine Politik der verstärkten Privatisierung im Bereich der Sozial-und Gesundheitsdienste. Auf der Finanzierungsseite wurden dagegen -die Soziallasten der Unternehmen vermindert und -alternative Möglichkeiten der Finanzierung diskutiert und zum Teil erprobt.

Trotz vieler Gemeinsamkeiten in dieser Konsolidierungspolitik, die nicht zuletzt durch die strengen Aufnahmekriterien der Europäischen Währungsunion erzwungen wurde, lassen sich vereinfacht zwei Strategien unterscheiden, mit denen die Unionsmitglieder versucht haben, auf die veränderten Anforderungen zu reagieren: Ein strikt angebotspolitisch ausgerichteter Kurs setzt darauf, durch Deregulierung des Arbeitsmarkts, Zurücknahme der Schutzstandards sozialer Sicherung und Privatisierung der Sozial-und Gesundheitsdienste die Dynamik der Marktsysteme frei-zusetzen. Ein solcher Kurs war vor allem in Großbritannien als Prototyp des angelsächsischen Modells anzutreffen. Eine sozialverträgliche Strategie weltmarktorientierter Modernisierung verfolgen dagegen Länder, die eine begrenzte Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen und einen schrittweisen Umbau der sozialen Sicherungssysteme mit einer Strategie der qualitativ ausgerichteten Wachstums-, Technologie-und Beschäftigungsförderung zu verknüpfen suchen. Ein solcher Ansatz dominierte vor allem in den Ländern des skandinavischen Modells

Als Folge der wachsenden sozialökonomischen Risiken wie auch der zunehmend restriktiven Wirtschafts-und Sozialpolitik hat das Netz der Fürsorgeleistungen in nahezu allen EU-Mitgliedstaaten an Bedeutung gewonnen. Der Anstieg der Empfängerzahlen und der Ausgabenlasten der „letzten Netze“ signalisiert, daß die vorgelagerten Sicherungssysteme zunehmend weniger in der Lage sind, den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden Vor allem mit der Verlagerung von „passiven“ zu „aktiven“ Maßnahmen wird in vielen Ländern versucht, den steigenden Zahlen von Anspruchsberechtigten in Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe wie auch einer langen Bezugsdauer bei der Inanspruchnahme dieser Sozialleistungen entgegenzuwirken. Die Verstärkung von Arbeitsanreizen und -zwängen wird nicht zuletzt damit begründet, Konstruktionsmängel in den sozialen Sicherungssystemen (fehlende Arbeitsanreize als Folge der sogenannten Arbeitslosigkeits-und Armutsfalle) und unzureichende Arbeitsmotivation (Mißbrauchsverdacht) seien zentrale Ursachen des Verbleibs in der Arbeitslosigkeit bzw. im Sozialleistungsbezug (zum Beispiel Großbritannien, Bundesrepublik). Umgekehrt wird in anderen Ländern verstärkt auf den Ausbau von Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktförderung (zum Beispiel Dänemark) und von Programmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen gesetzt (zum Beispiel Belgien), um die Ausgrenzung am Arbeitsmarkt und die Inanspruchnahme von Sozialtransfers zu überwinden

Insgesamt ist festzustellen, daß innerhalb des letzten Jahrzehnts im Zuge eines Prozesses der Differenzierung und Polarisierung der Ressourcenverteilung die Zahl der Armen und Ausgegrenzten in Europa zugenommen hat. Legt man das bedarfsgewichtete verfügbare Haushaltseinkommen zugrunde, verfügten nach Angaben des Europäischen Haushaltspanels in der Europäischen Union 1993 17 Prozent der Haushalte über ein Einkommen, das unter 50 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens und damit unter der Armutsschwelle der Europäischen Union lag.

Die höchsten Armutsquoten waren in Portugal ) (29 Prozent), Spanien (24 Prozent), Großbritannien (23 Prozent) und Irland (21 Prozent) anzutreffen; dagegen fielen die entsprechenden Quoten in Dänemark (9 Prozent), Deutschland und Belgien (jeweils 13 Prozent) besonders niedrig aus.

Die Sozialtransfers (einschließlich privater Renten) machten 1993 etwa 30 Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens in der Union aus. Für ungefähr 37 Prozent der Haushalte stellten sie die Haupteinkommensquelle dar. Ohne Sozialtransfers hätten fast 40 Prozent der Haushalte mit einem Einkommen unter der Armutsschwelle leben müssen

Die wachsende Zahl der Armen bedroht den sozialen Zusammenhalt der (west-) europäischen Gesellschaften und stellt eine zentrale Herausforderung für die europäischen Sozialstaatsmodelle dar. Gerade weil die Leistungen des sozialen Sicherungssystems bisher einen entscheidenden Beitrag darstellen, um Armut zu vermeiden, droht die Fortführung des Konsolidierungs-und Umbau-kurses in vielen Mitgliedstaaten das Armutsproblem weiter zu verschärfen. Die Frage stellt sich, ob zur Vermeidung bzw. Überwindung dieser Entwicklung der Ausbau der letzten Netze sozialer Sicherung Vorrang haben sollte oder ob primär die Schutzstandards in den vorgelagerten Sicherungssystemen erhalten bzw. wiederhergestellt werden sollten.

In einem Beitrag zu einer von der Joseph Rowntree Foundation veranstalteten europäischen Konferenz hat vor kurzem Jos Berghman davor gewarnt, die sozialen Sicherungssysteme in Europa auf eine bloße Mindestsicherung nach amerikanischem Vorbild zu beschränken Zwar ist das angelsächsische Modell schon immer durch ein starkes Gewicht der Fürsorgeleistungen geprägt. Dennoch kommt diesen letzten Netzen in Europa traditionell lediglich die komplementäre Funktion zu, Mängel und Defizite der vorgelagerten Sicherungssysteme aufzufangen und zu kompensieren. Notwendig erscheint daher eine Strategie, die darauf setzt, die primären Netze funktionsfähig zu erhalten bzw. ihre Funktionsfähigkeit wiederherzustellen.

Eine solche Strategie müßte zum einen Reformen der Finanzierungsstruktur einschließen, um künftig die Finanzierungslasten der sozialen Sicherung auf mehr bzw. breitere Schultern zu verteilen. Zum anderen müßte sie u. a. die Einführung von Mindestsicherungsleistungen in den vorgelagerten Sicherungssystemen einschließen -eine Debatte, die auch in der Bundesrepublik seit Jahren geführt wird. Diese sollten jedoch nicht ersetzend, sondern ergänzend zu den bisherigen und gegebenenfalls neugestalteten Sozialversicherungsleistungen treten. Insgesamt dürfte in Zukunft dem Ziel, die Effektivität der eingesetzten Mittel zu erhöhen, hohe Priorität zukommen. Folgt man Jos Berghman, darf ein zielgerichteter Einsatz der Mittel im Sinne eines stärker final, d. h. am tatsächlichen Bedarf ausgerichteten Sozialstaats jedoch nicht darauf hinauslaufen, soziale Sicherung allein auf die „wirklich Bedürftigen“ zu beschränken, wie dies heute vielfach gefordert wird, soll nicht die spezifische Tradition europäischer Sozialstaatlichkeit über Bord geworfen werden. Dies dürfte auch weder von den ökonomischen noch von den fiskalischen Rahmenbedingungen her zwingend erforderlich sein, sind doch die Handlungsspielräume hier weiter gesteckt, als dies im politischen Prozeß häufig unterstellt wird.

V. Ausblick: Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Sicherungssystem?

Seit Bestehen der Europäischen Gemeinschaft war die Sozialpolitik stets eine Angelegenheit der einzelnen Mitgliedstaaten. Lediglich im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit der Selbständigen wurden der Gemeinschaft in begrenztem Umfang Regelungskompetenzen zugebilligt. Zwar wird mit der Ausweitung der Kompetenzen in anderen Bereichen auch die Autonomie der Mitgliedstaaten im Bereich sozialer Sicherung zunehmend eingeschränkt. Dennoch spiegeln die eingangs skizzierten „Wohlfahrtsstaatsregimes“ bzw. Modelle sozialer Sicherung bis heute die unterschiedlichen Grade wirtschaftlicher Entwicklung und die jeweiligen nationalen Traditionen von Sozialstaatlichkeit wider.

Tatsächlich war die Sozialpolitik auf europäischer Ebene bislang weitgehend darauf beschränkt, im Interesse der Mobilität des Faktors Arbeit ein Mindestmaß an Koordinierung der nationalen Sozialsysteme und eine Abstimmung der Ziele und Politiken sozialer Sicherung herzustellen

Durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam wurden zwar die Chancen verbessert, daß Sozialpolitik künftig auch auf der europäischen Ebene stattfinden kann Dennoch spricht vieles dafür, daß Sozialpolitik und soziale Sicherung auch in absehbarer Zukunft ein Handlungsfeld der jeweiligen Mitgliedstaaten bleiben werden. Dabei sind es nicht nur die je spezifischen sozialkulturellen Traditionen und institutioneilen Beharrungstendenzen, die der Herausbildung eines europäischen Sozialstaats entgegenstehen. Eine wichtige Rolle spielt ebenso die Tatsache, daß bei den nationalen Regierungen und Parlamenten schon deswegen wenig Neigung besteht, ihre sozialpolitische Souveränität und damit die Zuständigkeit für die Sozialhaushalte an die Union abzugeben, da gerade diesem Budgetbereich eine Schlüsselrolle für die Sicherung der jeweiligen nationalen Massenloyalität zukommt. Zudem besteht bei den reichen Mitgliedstaaten die Furcht, daß mit dem Aus-bau der Sozialpolitik auf der europäischen Ebene die finanziellen Zuwendungen an die ärmeren Unionsmitglieder rasch ansteigen würden

Gleichwohl wird durch die Wirtschafts-und Währungsunion der Druck auf die Mitgliedstaaten zunehmen, bei der Ausgestaltung ihrer Sozial-systeme die Systeme in den anderen Mitgliedstaaten stärker zu beachten. Zweifellos wird der Austausch auf fachlicher und politischer Ebene zwischen den Unionsstaaten zunehmen und ein wechselseitiger Lernprozeß in Gang gesetzt werden. Inwieweit es durch den Transfer von Wissen und Erfahrungen hinsichtlich Defiziten und Fehlern ebenso wie im Hinblick auf Beispiele gelungener bzw. erfolgreicher Lösungen tatsächlich zu einer Annäherung von Systemen und Leistungen kommt, bleibt abzuwarten. Am ehesten könnte dies zwischen Staaten des gleichen Sicherungsmodells mit vergleichbaren politischen, institutioneilen etc. Strukturen eintreten.

Zu erwarten ist daher ein Prozeß einer allmählichen Annäherung der sozialen Sicherungssysteme, ohne daß es jedoch zu einer Vereinheitlichung im Sinne eines Einheitsmodells für den europäischen Sozialstaat kommen dürfte. Dennoch bleibt es eine offene Frage an die Zukunft, welches der genannten Modelle sozialer Sicherung die europäische Debatte künftig am stärksten prägen wird. Zwar hat im Zuge des Vordringens des Neoliberalismus das angelsächsische Modell zunehmende Resonanz gefunden. Die Hinnahme oder gar Förderung stärkerer ökonomischer Ungleichheit und größerer Armut erscheint vielen -auch in der Bundesrepublik -mittlerweile als ein notwendiges Übel, um die Strukturkrise des Arbeitsmarkts zu überwinden, ohne daß freilich bislang hinreichend belegt wäre, daß der neoliberale Weg tatsächlich ökonomisch so erfolgversprechend ist, daß er den hohen sozialen Preis rechtfertigen könnte. Andererseits haben die Erfahrungen der letzten Jahre mit dem skandinavischen und dem kontinentaleuropäischen Modell gezeigt, daß diese sehr wohl in der Lage sind, auch bei gewandelten Anforderungen Sicherungsstandards auf hohem Niveau zu gewährleisten.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, auf welchem Niveau sich die künftigen Schutz-und Sicherungsstandards in der Union einpendeln werden. Häufig wird die These vertreten, mit der Einführung des Binnenmarkts und der Beseitigung gesetzlicher und administrativer Barrieren für Güter-und Faktorenbewegungen innerhalb der Union würden die Handlungsmöglichkeiten der nationalen Politik stark eingeschränkt. Entscheidungen zur Arbeits-, Steuer-und Sozialpolitik müßten künftig darauf bedacht sein, die Abwanderung des mobilen Kapitals in andere Mitgliedsländer zu vermeiden. Der Wettbewerb der nationalen Produktionsstandorte in der EU erschwere somit die Sozialpolitik und soziale Sicherung und fördere tendenziell einen Prozeß der Angleichung nach unten, zumindest solange die soziale Sicherung in der Zuständigkeit der Nationalstaaten verbliebe

Tatsächlich müssen jedoch die unterschiedlichen Sozialsysteme in den einzelnen Ländern nicht ohne weiteres zu einem Wettbewerbsvor-oder -nachteil führen, da sie in ihren Auswirkungen durch Faktoren wie Differenzen in der Qualifikation, Qualität und Produktivität der Arbeit entscheidend modifiziert werden. Auch wenn es daher aus ökonomischen Gründen keineswegs zu einer Absenkung des Sicherungsniveaus kommen muß, ist ein solcher Prozeß dennoch nicht auszuschließen. Solange es zu keinem einheitlichen Sozialstaatsund Sicherungssystem auf europäischer Ebene kommt, kann durch die Dynamik der Regime-bzw. Systemkonkurrenz ein Prozeß des Herabschaukelns allein dadurch in Gang gesetzt werden, daß die nationale Politik in den Mitgliedstaaten vermeintliche Standortwettbewerbsnachteile vermeiden will. Aber auch die Tatsache, daß künftig der Kreis der Leistungsberechtigten von Sozial-transfers nicht mehr ausschließlich national steuerbar ist, sondern in zunehmendem Maße auch durch das Freizügigkeitsrecht auf europäischer Ebene beeinflußt ist, kann dazu beitragen, daß die soziale Leistungspalette künftig eher vorsichtig definiert wird.

Vergleichbares gilt für die europäischen Sicherungssysteme im Globalisierungsprozeß: Wie dargelegt, weist das an der Sozialleistungsquote gemessene Sicherungsniveau in den EU-Mitgliedstaaten keinen durchgängig hohen Standard auf. So liegen die Ausgabenquoten in den südeuropäischen Mitgliedstaaten kaum höher als in den USA. Die in der internationalen Standortdiskussion immer wieder betonte Gefährdung des europäischen Sicherungsniveaus betrifft daher vor allem die Staaten des skandinavischen und des kontinentaleuropäischen Sicherungsmodells. Auch hier gilt jedoch, daß das vergleichsweise hohe Sicherungsniveau nicht ausschließlich von der Kostenseite her betrachtet und bewertet werden darf, da es in der Regel mit hohen ökonomischen Produktivitätsstandards einhergeht. Vieles spricht dafür, daß dieses Sicherungsniveau eine entscheidende Bedingung dafür darstellte, daß es gerade in den Ländern des skandinavischen und kontinentaleuropäschen Sicherungstypus über lange Phasen hinweg gelungen ist, ein hohes Maß an volkswirtschaftlicher Effizienz mit einem hohen Grad an sozialer Kohäsion zu verbinden. Dies ist freilich keine Gewähr dafür, daß dies auch in Zukunft gelingen wird. Die Aufgabe der Zukunft wird daher darin liegen, diese Modelle so weiterzuentwickeln, daß sie den gewandelten Anforderungen und Rahmenbedingungen gerecht werden, ohne ihre historisch gewachsene sozial-staatliche Sicherungs-und Ausgleichsfunktion preiszugeben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Einen kurzgefaßten Überblick über die sozialen Sicherungssysteme in der Europäischen Union bieten die regelmäßig aktualisierten Übersichtstabcllen zur „Social protection in thc Member States of the European Union“, herausgegeben vom Mutual Information System on Social Protection (MISSOC) der Europäischen Kommission, letzte Ausgabe Luxemburg 1997. Einen Überblick über die sozialen Sicherungssysteme im übrigen Europa, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, geben die vom Europarat hcrausgegebenen und in regelmäßigen Abständen aktualisierten „Comparative tables of social security schemes", letzte Ausgabe Straßburg 1997.

  2. Vgl. z. B, Europäische Kommission: Soziale Sicherheit in Europa'1995, Luxemburg 1996, S. 9f, und 33 f.

  3. In vergleichbarer Weise kann man die im Zuge des Über-gangs zu marktorientierten Wirtschaftsgesellschaften neu eingeführten Sicherungssysteme in den Staaten Mittel-und Osteuropas als Übergangsmodelle interpretieren.

  4. Vgl. Gpsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

  5. Vgl. hierzu die Diskussion in: Stephan Lessenich/Ilona Ostner (Hrsg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt am Main -New York 1998. Zur Arbeitsmarktentwicklung in der EU vgl. z. B. Europäische Kommission, Beschäftigung in Europa 1997, Luxemburg 1997.

  6. Seit den siebziger Jahren legt das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften (EUROSTAT) statistische Daten zum Sozialschutz in den Mitgliedsstaaten der EG vor, die seit 1981 in dem Europäischen System der Integrierten Sozialschutzstatistik klassifiziert sind. Nach Einführung einer neuen Methodik 1995 wurden die Daten ab 1990 nach dieser Methodik umgerechnet und sind daher nur bedingt mit den Daten der vorangegangenen Jahre vergleichbar (vgl. EURO-STAT Social Protection expenditure and receipts 1980-1995, Luxemburg 1998). Aufgrund unterschiedlicher Abgrenzungen weichen die EUROSTAT-Zahlen auch von den Werten der deutschen Sozialbudget-Rechnung ab. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1997, Bonn 1998.

  7. Europäische Kommission, Soziale Sicherung in Europa 1995, S. 59; vgl. auch Fritz W. Scharpf: Jenseits der Regime-Debatte, in: St. Lessenich/I. Ostner (Anm. 5).

  8. Dieser auf europäischer Ebene neu eingeführte Aufgabenbereich umfaßt vor allem die Fürsorgeleistungen in den Mitgliedstaaten.

  9. Vgl. auch den Vergleich der Sicherungsstrukturen in exemplarischen Feldern bei Josef Schmid, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, Opladen 1996.

  10. Vgl. dazu z. B. Europäische Kommission, Soziale Sicherheit in Europa 1995, Luxemburg 1996, sowie die Zusammenfassung des Berichts der Kommission zu Sozialer Sicherung in Europa 1997, dessen Langfassung demnächst erscheint; vgl. auch Gsta Esping-Andersen (Hrsg.), Welfare States in Transition. National Adaptations in Global Economies, London u. a. 1996.

  11. Vgl. Hans-Jürgen Bieling, Soziale Fragen, Sozialpolitische Regulation und Europäische Integration, in: ders. /F. Deppe (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Wohlfahrtsstaat in Westeuropa, Opladen 1997.

  12. Vgl. Tony Eardley u. a., Social Assistance in OECD Countries: Synthesis Report, London 1996.

  13. Vgl. z. B. die Debatte in: Matti Heikkila (Hrsg.), Linking Welfare and Work, Dublin 1998.

  14. Vgl. EUROSTAT, Income Distribution and Poverty in EU 12 -1993. Statistics in Focus, Luxemburg 1997; Europäische Kommission, Soziale Sicherheit in Europa 1997 -Zusammenfassung, Brüssel 1998.

  15. Vgl. Jos Berghman, Western Europe: Current Practice and Trends, in: Donald Hirsch (Hrsg.), Social Protection and Inclusion, York 1997.

  16. Vgl. Bernd Schulte, Wohlfahrtsregime im Prozeß der europäischen Integration, in: St. Lessenich/I. Ostner (Anm. 5).

  17. Vgl. z. B. Perspektiven der Europäischen Sozial-und Beschäftigungspolitik nach Amsterdam und Brüssel, Informationen zur Sozial-und Arbeitsmarktpolitik, Düsseldorf, 2/1998.

  18. Vgl. zu diesem Fragenkomplex auch die Beiträge in: Stephan Leibfried/Paul Pierson (Hrsg.), Standort Europa. Europäische Sozialpolitik, Frankfurt am Main 1998.

  19. Vgl. z. B. Fritz W. Scharpf, Jenseits der Regime-Debatte, in St. Lessenich/I. Ostner (Anm. 5).

Weitere Inhalte

Walter Hanesch, Dr. rer. pol, geb. 1947; Professor für Sozialverwaltung am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Darmstadt. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt u. a.: (zus. mit Wilhelm Adamy u. a.) Armut in Deutschland. Der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Reinbek 1994; (Hrsg.) Sozialpolitische Strategien gegen Armut, Opladen 1995; Reform der Sozialhilfe, Düsseldorf 1996; (Hrsg.) Überlebt die soziale Stadt?, Opladen 1997; (zus. mit Gerhard Bäcker) Arbeitnehmer und Arbeitnehmerhaushalte mit Niedrigeinkommen in NRW, Opladen 1998.