Engagement und Engagementpotential in Deutschland. Erkenntnisse der empirischen Forschung
Helmut Klages
/ 21 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Es gibt in Deutschland -unter Einschluß der neuen Bundesländer -sehr viel mehr ehrenamtliches Engagement, als man bisher glaubt und weiß; darüber hinaus gibt es aber auch einen ungeheuren bislang noch ungehobenen Schatz von Engagementbereitschaften, die ein gewaltiges „Sozialkapital“ verkörpern, das in unserer Gesellschaft schlummert. Wir brauchen eine Strategie, die von dieser Erkenntnis ausgeht. Dabei spielt zunächst eine Rolle, das bürgerschaftliche Engagement zu einem „Leitbild“ zu erheben. Von Bedeutung ist aber auch, sich mit einem offenen Blick für die gesellschaftlichen Realitäten auf die vom Wertewandel geprägten Motivationsgrundlagen des Engagementinteresses wie auch auf die Engagementhemmnisse einzustellen, die es gegenwärtig noch gibt. Es geht hierbei vor allem um Informations-und Kontaktangebote, welche falsche Vorstellungen auf-sprengen und konkrete Zugangswege aufweisen können. Weiterhin geht es um eine Erhöhung der Attraktivität des ehrenamtlichen Engagements, wobei ausdrücklich hinzuzufügen ist, daß hierbei auch an diejenigen Menschen zu denken ist, die sich nicht „aufopfern“ wollen, sondern die im Engagement die Befriedigung eigener Selbstentfaltungsbedürfnisse suchen und die bereit sind, hierfür Zeit und Energie aufzuwenden.
I. Die Bedeutung des freiwilligen Engagements
Freiwilliges bürgerschaftliches Engagement gewinnt heute zunehmend auch an materieller Bedeutung. Noch vor einiger Zeit wäre es undenkbar gewesen, daß von offizieller Seite die Wert-schöpfung, die in einzelnen Bereichen des freiwilligen Engagements geleistet wird, in Mark und Pfennig umgerechnet wird. Jetzt findet man hierzu allenthalben Ansätze, wobei sich jeweils stolze Multi-Millionensummen und insgesamt, über alle Engagementbereiche hinweg gerechnet, Milliardensummen ergeben.
Man möchte sagen: Es war an der Zeit, daß das bürgerschaftliche Engagement öffentliche Aufmerksamkeit und Würdigung findet, denn die fundamentalen Funktionen, die dem Engagement in unserem gesellschaftlichen und politischen System zukommen, liegen inzwischen offen zutage:
Erstens hat man entdeckt, daß das bürgerschaftliche Engagement wichtige Beiträge zur Bewältigung der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte zu leisten vermag. Die Perspektive des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft ist heute nicht mehr die immer weiter anwachsende Vermehrung staatlicher Aufgaben, sondern vielmehr umgekehrt möglichst die Rückverlagerung von Staatsaufgaben an die Gesellschaft, aus der sie in der Vergangenheit irgendwann einmal herausgelöst wurden, und die Beschränkung der staatlichen Verantwortung auf eine sogenannte „Gewährleistungsverantwortung“, wo immer dies möglich ist. In den Kommunen ist in diesem Zusammenhang nicht nur eine breite Welle der Privatisierung und der Gründung von sogenannten Public-Private Partnerships in Gang gekommen. Vielmehr finden sich hier typischerweise auch die meisten Experimente der Übertragung von Aufgaben, die bisher öffentlich waren, an Bürgergruppen und -vereine auf der Grundlage von Zielvereinbarungen und Leistungsverträgen. So gibt es heute bereits eine zunehmende Zahl von Schwimmbädern, die von Bürger-vereinen unter Einsatz ehrenamtlicher Arbeit -und somit preiswerter als bisher -betrieben werden. Das ist nur ein Beispiel, dem eine anwachsende Liste weiterer Beispiele angefügt werden könnten wie die Pflege öffentlichen Grüns, die gemeinschaftliche Sorge um die öffentliche Sicherheit usw.
Natürlich ist in diesem Zusammenhang nicht nur an neue Entwicklungen, sondern auch an diejenigen vielfältigen Leistungen zu denken, welche „alte“ Vereinigungen wie z. B. die Sportvereine oder die freiwilligen Feuerwehren landauf, landab schon seit vielen Jahrzehnten erbringen. Was auch heute vielfach noch „Ehrenamt“ genannt wird, hat bei uns eine große und äußerst lebendige Tradition, die man über dem, was neu hinzukommt und berechtigterweise Schlagzeilen macht, nicht vergessen darf.
Die Aufwertung des freiwilligen Engagements der Bürger erklärt sich, zweitens, auch aus der Erfahrung, daß sich in den vergangenen Jahren in manchen Bereichen eine tiefer liegende Leistungsgrenze sozialstaatlicher Daseinsfürsorge offenbart hat. So sind etwa die Aufgaben der psychischen Stabilisierung chronisch kranker Menschen ohne die Selbsthilfe der Betroffenen kaum mehr lösbar. Hier und in anderen Fällen erweitert sich das Spektrum der „Wohlfahrtsproduktion“ qualitativ um Hilfs-und Unterstützungsbereiche, welche die große Maschinerie des Wohlfahrtsstaats nicht zu unterhalten vermag.
Drittens ergibt sich eine Aufwertung des ehrenamtlichen Engagements in Verbindung mit der Bemühung, eine sich abzeichnende Krise im Verhältnis zwischen dem Staat und den immer „verdrossener“ werdenden Bürgern durch die Beteiligung der Bürger an öffentlichen Planungs-und Entscheidungsprozessen zu überwinden. Hier gibt es ein breites Spektrum von Aktivitäten, das sich gegenwärtig immer noch durch neuartige Komponenten erweitert und das zur Zeit insbesondere mit dem Bürgerbegehren und dem Bürgerentscheid zur Veränderung und Weiterentwicklung unserer Demokratie beiträgt. Viertens greifen gegenwärtig aber auch Vorstellungen um sich, durch sogenannte Bürgerarbeit einen Beitrag zur Entstehung derjenigen „Tätigkeitsgesellschaft“ zu leisten, die manche heute schon an die Stelle der bisherigen „Arbeits-und Leistungsgesellschaft“ treten sehen. Zwar gibt es wohl kaum jemanden, der sich heute ernsthaft auf den Standpunkt stellt, daß das bürgerschaftliche Engagement den Staat von der Sorge um Arbeitsplätze, um die Wirtschaftsentwicklung und um Bildungsinvestitionen entlasten kann. Die Lebenssituation derjenigen Menschen, die durch den mit der Globalisierung verbundenen Umbruch aus der beruflichen Bahn geworfen werden, wird ohne freiwilliges bürgerschaftliches Engagement aber wohl kaum auf einem akzeptanzfähigen Niveau gehalten werden können.
II. Ein Großteil der Deutschen ist engagiert
Abbildung 2
Graphik 2: Motive des Engagements in der Bundesrepublik Deutschland 1997. Was es für einen bedeutet, sich freiwillig zu engagieren Quelle: Helmut Klages/Thomas Gensicke, Wertesurvey 1997.
Graphik 2: Motive des Engagements in der Bundesrepublik Deutschland 1997. Was es für einen bedeutet, sich freiwillig zu engagieren Quelle: Helmut Klages/Thomas Gensicke, Wertesurvey 1997.
Angesichts der Entdeckung des bürgerschaftlichen Engagements als vielseitig wirksame, gesellschaftliche Probleme mindernde und Lebensqualität verbürgende Ressource entwickeln Politiker und Intellektuelle heute nicht selten schon wieder eine ungeduldige Forderungshaltung, die sich oft mit Vorwürfen gegen die Menschen verbindet, die angeblich dem ehrenamtlichen Engagement bisher noch viel zu lustlos gegenüberstehen. Die Kritiker berufen sich auf Ergebnisse international vergleichender Studien, denen zufolge in Deutschland angeblich sehr viel weniger ehrenamtliche Tätigkeit geleistet wird als in anderen Ländern. Gründe für die angebliche relative Ehrenamtsabstinenz der Deutschen sind schnell bei der Hand: Den Erkenntnissen der Sozialforschung zufolge habe in Deutschland ein Wertewandel stattgefunden, der von insgesamt abnehmenden Pflicht-und Akzeptanzwerten in Richtung von Selbstentfaltungswerten verlaufen sei und der zur Durchsetzung eines rigiden Individualismus wie auch zur Entstehung einer „Egogesellschaft“ oder „Ellenbogengesellschaft“ beigetragen habe.
Der Wertewandel ist eine nicht wegzudiskutierende Tatsache, doch der behauptete negative Einfluß auf die ehrenamtliche Tätigkeit der Deutschen ist unseren Untersuchungen zufolge falsch. Aufklärungsarbeit scheint notwendig.
Ein erstes, sehr wichtiges Ergebnis unseres repräsentativen Surveys „ Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement 97“, den wir mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung und der Fritz-Thyssen-Stiftung vom Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer aus durchführten lautet: Die Quote der freiwillig Engagierten, derjenigen also, die in Deutschland ehrenamtliche Arbeit im weitesten Sinne des Wortes leisten, beträgt in Wahrheit 38 Prozent, womit Deutschland einen Spitzenplatz in der internationalen Vergleichstabelle einnimmt. (Genauer gesagt liegt sie in den westlichen Bundesländern bei 39 und in den östlichen Bundesländern bei 35 Prozent der Menschen ab 18 Jahren.)
Graphik 1 veranschaulicht diese Feststellung, indem sie die Engagementquoten für verschiedene Altersgruppen in West-und Ostdeutschland ausweist.
Als wir unsere Zahlen vor einiger Zeit zum ersten Mal bekanntmachten, erregten sie Skepsis und Widerstand. Offenbar verstießen sie zu sehr gegen lieb gewordene Negativvorstellungen über unsere angeblich hyperindividualistische Ego-, Wohlstands-und Ellenbogengesellschaft.
Inzwischen ist man nachdenklicher geworden. Es zeichnet sich ein Konsens der Experten darüber ab, daß Grund dazu besteht, die niedrigeren Zahlen zu revidieren und sich Gedanken über bisherige Erhebungsschwächen zu machen. Wenn heute Engagementquoten ermittelt werden, die im internationalen Vergleich als „normal“ angesehen werden können, dann hat dies vor allem mit dem Beschreiten eines erfolgreicheren Wegs der empirischen Engagementerfassung zu tun.
Dieser erfolgreichere Weg bestand im Fall des vorstehend genannten Surveys 97 schlicht darin, daß wir die Menschen nicht fragten „Sind Sie ehrenamtlich tätig?“ oder „Leisten Sie unbezahlte Arbeit?“ oder „Sind Sie bürgerschaftlich engagiert?“. Wir legten den Befragten vielmehr eine Liste mit ganz konkret bezeichneten verschiedenen Möglichkeiten des ehrenamtlichen Tätigseins vor und fragten sie: Machen Sie so etwas? Diese Frage war einfach, und sie konnte ohne Antwort-hemmnisse bejaht werden, während die Frage anderer Studien nach dem „ehrenamtlichen“ oder „bürgerschaftlichen Engagement“ oder der „unbezahlten Arbeit“ offenbar bei einem überwiegenden Teil derjenigen, die ehrenamtliche Tätig-keiten ausüben, Hemmnisse hervorgerufen hatte und deshalb verneint wurde.
Auf die naheliegende Frage nach der Beschaffenheit dieser Antworthemmnisse gibt es eine überraschende, aber einleuchtende Antwort. Sie lautet, daß sehr viele Aktive gar nicht wissen, daß sie eine „ehrenamtliche“ Tätigkeit ausüben, weil der Begriff des „Ehrenamts“ in unserem Lande ganz überwiegend verhältnismäßig eingeengt, vom „Amt“ her eben verstanden wird. Aber auch neuere Begriffe wie „freiwillige Arbeit“, „Freiwilligenarbeit“, „bürgerschaftliches Engagement“, oder „Neues Ehrenamt“, die den Eingeweihten inzwischen leicht über die Zunge gehen, sind in der Bevölkerung bisher noch weitgehend unbekannt. Sie werden häufig nicht mit derjenigen unbezahlten freiwilligen Tätigkeit, die man selbst ausübt, in Verbindung gebracht. Wir haben festgestellt, daß die Deutschen im Bereich der ehrenamtlichen Tätigkeit zwar faktisch ebensoviel tun wie die Angehörigen anderer Nationen, daß sie sich des gesellschaftspolitischen Stellenwerts ihres Engagements aber vielfach nicht bewußt sind, während z. B. im anglo-amerikanischen Bereich der Begriff des „volunteering“ praktisch von jedermann verstanden wird und ohne die Gefahr von Irritationen zur Kennzeichnung alltäglicher Betätigungen verwendet werden kann.
III. Der Wertewandel fördert das Engagement
Abbildung 3
Graphik 3: Engagiert? Ob man sich freiwillig engagiert in den neuen und alten Bundesländern (1997; in Prozent) Quelle: Helmut Klages/Thomas Gensicke, Wertesurvey 1997.
Graphik 3: Engagiert? Ob man sich freiwillig engagiert in den neuen und alten Bundesländern (1997; in Prozent) Quelle: Helmut Klages/Thomas Gensicke, Wertesurvey 1997.
Ebenso viele Unklarheiten, wie über das Ausmaß der unbezahlten freiwilligen Tätigkeiten, gibt es heute noch in bezug auf die Frage, wie sich die ehrenamtliche Tätigkeit im Laufe der zurückliegenden Jahre entwickelt hat, ob sie also zugenommen oder vielleicht auch abgenommen hat und ob sich gegenwärtig Zu-oder Abnahmetendenzen feststellen lassen.
Es gibt zu dieser sehr wichtigen Frage bisher keine eindeutige Statistik, so daß man darauf angewiesen ist, viele einzelne Mosaiksteinchen zusammenzusetzen, wenn man sie beantworten will. Tut man dies, dann erhält man allerdings den Eindruck, daß es eine Zunahmetendenz gibt. In der Antwort der Bundesregierung auf eine diesbezügliche Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und der F. D. P. -Fraktion des Deutschen Bundestages vom November 1996 heißt es sogar, die „Gesamtzahl ehrenamtlich und freiwillig Tätiger sowie die Bereitschaft, ein Amt zu übernehmen“, sei „in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen“. Es wird in diesem Zusammenhang auf Angaben der Deutschen Gesellschaft für Freizeit e. V. verwiesen, denen zufolge es Anfang der sechziger Jahre nur einen Anteil von fünf Prozent ehrenamtlich Tätige an der Gesamtbevölkerung Westdeutschlands gegeben habe.
Unabhängig von dem Ausmaß der Zunahme ist die Tatsache, daß es sie überhaupt gegeben hat und wohl auch immer noch gibt, eigentlich sehr erstaunlich. Selbst dann, wenn man die groben und offenbar unbrauchbaren Kritiken an der Ego-und Ellenbogengesellschaft einmal beiseite läßt, bleibt doch genügend Material über den Wandel der Gesellschaft übrig, das, auf den ersten Blick, eigentlich eher für eine Abnahme der freiwilligen ehrenamtlichen Tätigkeit zu sprechen scheint. Haben wir denn nicht, so könnte man fragen, eine „Medien-und Informationsgesellschaft“, in der immer mehr Menschen sehr viel Zeit vor dem Fernseher oder auch neuerdings vor dem Computer verbringen? Haben wir nicht eine „Freizeitgesellschaft“, in welcher das Reisen zum Volkssport geworden ist, in welcher Hobbys und Do-it-yourself-Aktivitäten blühen und in welcher eine enorme Vielzahl von Angeboten des Kultursektors um die Zeit und die Aufmerksamkeit der Menschen werben? Hat nicht z. B. erst vor einigen Jahren der Philosoph Hermann Lübbe festgestellt, daß der Besuch von Museen eine Zuwachsrate hat, die alles andere in den Schatten stellt? Und ist es auf der anderen Seite denn nicht auch so, daß im Zeichen der Globalisierung der materielle Existenzkampf härter wird, daß viele Menschen gezwungen sind, ein wachsendes Maß an Zeit und Energie in die Berufsarbeit zu investieren, um unter den Bedingungen der schärfer werdenden Konkurrenz um Arbeitsplätze nicht auf der Strecke zu bleiben? Läuft somit nicht die ganze gegenwärtige Gesellschafts-und Kulturentwicklung darauf hinaus, den einzelnen mehr und mehr auf sich selbst zu verweisen und ihn zu zwingen, an die Verfolgung eigener Ziele und Interessen zu denken? Bleibt unter diesen Bedingungen denn wirklich noch eine wachsende Zeit und Energie für „ehrenamtliche“ Tätigkeit übrig? Und muß man denn nicht überhaupt davon ausgehen, daß ein freiwilliges Engagement, das scheinbar unverrückbar den Stempel des Altruismus, der Selbstlosigkeit also, an der Stirn zu tragen schein, angesichts eines Wertewandels, der von den traditionalen Tugenden der Dienst-und Pflichtbereitschaft zur Selbstentfaltung hinführt, notwendigerweise in seinen Grundlagen eingeschränkt wird?
In der Tat wäre es heute wahrscheinlich sehr schlecht um die freiwillige ehrenamtliche Tätigkeit bestellt, wenn sie ausschließlich von traditionellen Tugenden abhängig wäre, denn diese Tugenden sind im Zeichen des gesellschaftlichen Werte-und Mentalitätswandels bei den überwiegenden Teilen der Bevölkerung und insbesondere bei der Jugend ganz zweifellos im Rückgang begriffen.
Daß das freiwillige unbezahlte Engagement erstaunlicherweise dennoch angewachsen ist, erklärt sich kurz gesagt daraus, daß es von den im Vormarsch befindlichen Selbstentfaltungswerten nicht etwa unterminiert und eingeschränkt, sondern vielmehr umgekehrt kräftig unterstützt und mitgetragen wird. Natürlich gibt es auch heute noch eine große Zahl von Menschen, die in das ehrenamtliche Engagement traditionelle pflicht-ethische Tugenden einbringen, und wir können sehr froh darüber sein, daß dies so ist. Auf der anderen Seite spielen im Motivationsuntergrund des Engagements heute aber auch ganz andere Dinge eine Rolle, was ich anhand von Graphik 2 verdeutlichen möchte, welche Ergebnisse des Surveys 97 wiedergibt.
Es zeigt sich, daß die Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern geringer sind, als vielleicht erwartet werden konnte. Entscheidend ist aber, daß es in unserer Bevölkerung im Untergrund der Engagementmotivation ein sehr breit ausgreifendes Spektrum von Werten gibt, in welchem sowohl traditionelle Tugenden (z. B. „Anderen Menschen helfen“, „Etwas Nützliches für das Gemeinwohl tun“, „Mehr für den Zusammenhalt der Menschen tun“, „Praktische Nächstenliebe üben“) wie auch selbstentfaltungsbezogene Motive (z. B. „Spaß haben“, „Eigene Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen und weiterentwickeln“, „Sich selbst aktiv halten“, „Interessante Leute kennenlernen“) mit eine tragende Rolle spielen. An die Seite der traditionellen Tugenden, die in der Gesellschaft an Boden verloren haben, sind heute im Motivationshintergrund der freiwilligen Tätigkeit neue Werte getreten, die das Engagement stabilisieren und die ihm sogar ein Wachstum ermöglichen. Die entscheidende Botschaft lautet, daß Selbstentfaltungswerte und bürgerschaftliches Engagement sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern verstärken. Natürlich können wir im Einzelfall beobachten, daß Individualisten Egoisten sind. Dies ist aber glücklicherweise nicht die Regel. Vielmehr gibt es eine Vielzahl individualistischer Gründe, sich in dieser oder jener Form bürgerschaftlich zu engagieren -und sei es auch nur deshalb, weil man „Spaß“ daran hat, dies zu tun.
IV. „Selbsthilfe“ dient nicht nur dem Eigennutz
Abbildung 4
Graphik 4: Potentielles Engagement in der Bundesrepublik Deutschland 1997. Quote der Engagement-bereiten in den neuen und alten Ländern nach Altersgruppen (in Prozent) Quelle: Helmut Klages/Thomas Gensicke, Wertesurvey 1997
Graphik 4: Potentielles Engagement in der Bundesrepublik Deutschland 1997. Quote der Engagement-bereiten in den neuen und alten Ländern nach Altersgruppen (in Prozent) Quelle: Helmut Klages/Thomas Gensicke, Wertesurvey 1997
Es könnte sich an dieser Stelle nun allerdings ein Skeptiker zu Wort melden und Einwände erheben. Dieser Skeptiker könnte z. B. auf die bereits zitierte Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-und F. D. P. -Fraktionen des Deutschen Bundestages hinweisen, in welcher man lesen kann, daß die großen Verbände und Organisationen zumindest in Westdeutschland einen Rückgang des Engagements melden, während insbesondere die kleinen Selbsthilfegruppen einen enormen Zulauf erlebt haben. Der Skeptiker könnte fragen, ob diese Tatsache letztlich nicht doch auf einen qualitativen Wandel des Engagements hinweist, der sich mit der Veränderung seiner Wertebasis verbindet. Ist es denn nicht so, so könnte er fragen, daß in Selbsthilfegruppen der Eigennutz dominiert, während z. B. in den etablierten Wohlfahrtsverbänden die Fahne der Gemeinnützigkeit hochgehalten wird? Bringt der Wertewandel, so könnte er fortfahren, somit nicht doch einen Verlust an Gemeinsinn mit sich? Und ist das vor dem Hintergrund dieses Wertewandels anwachsende Engagement der Bürger nicht vielleicht doch ein weniger wertvolles, weil weniger gemeinschaftsbezogenes Engagement als das frühere?
In der Tat hat es in den letzten Jahren eine Diskussion gegeben, die sich genau auf dieser Achse bewegt hat. Wir meinen jedoch, daß ein solches Auseinanderdividieren des Engagements in ein eigennütziges und in ein gemeinnütziges Engagement unproduktiv ist und überdies ein weiteres Mal an der Wirklichkeit vorbeiführt.
Man erkennt dies schon dann, wenn man sich vor Augen führt, womit sich die Selbsthilfegruppen, in denen heute einige Millionen Menschen tätig sind, eigentlich beschäftigen. Es hat sich in den vorliegenden Untersuchungen erwiesen, daß Selbsthilfe-gruppen, die ihren Schwerpunkt im sozialen und im gesundheitlichen Bereich haben, die aber auch im ökologischen Bereich tätig sind oder sich mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und des Wohnumfelds beschäftigen, wertvolle Beiträge zur „Wohlstandsproduktion“ leisten; daß sie darüber hinaus aber auch Leistungen erbringen, die zwar aus der persönlichen Betroffenheit von Problemen erwachsen, die jedoch im solidarischen, auf Gegenseitigkeit gegründeten Gruppenzusammenhang über diese rein individuelle Ebene hinauswachsen.
Man erkennt die Unproduktivität eines Auseinanderdividierens von Ehrenamt und Selbsthilfe aber auch dann, wenn man sich die Motivationsbasis der beiden Engagementbereiche vor Augen führt. Es fällt hierbei sofort auf, daß die Verbindung von traditionellen unmittelbar gemeinschaftsbezogenen Dienst-und Pflichtmotiven und von Selbstentfaltungsbedürfnissen, die wir gerade kennengelernt haben, sowohl beim Ehrenamt im engeren Sinne des Wortes wie auch in der Selbsthilfebewegung vorhanden ist. Die Selbsthilfe, dieser typische Wachstumssektor der zurückliegenden Jahre, unterscheidet sich also von ihrer Motivgrundlage her gesehen von den übrigen Formen des Engagements nicht grundsätzlich. Menschen gehen in Selbsthilfegruppen nicht primär aus egoistischen Gründen, sondern in erster Linie auch deshalb, weil sie sich in einem lockeren organisatorischen Rahmen engagieren wollen, der die Einbringung der Person viel stärker gestattet, als dies gemeinhin in den großen Organisationen möglich ist, in welchen es oft noch recht bürokratisch zugeht und in denen sich die Freiwilligen vielfach als „Laien“ den „hauptberuflichen Professionellen“ unterordnen müssen, die sie oft genug als unqualifizierte letztlich untergeordnete Hilfskräfte behandeln. und
V. Das Engagementpotential: Eine riesige „schlafende Ressource“
Die Bedeutung des Themas „Engagementpotential“ läßt sich unmittelbar aus einer einfachen Graphik ablesen, die wiederum Ergebnisse des Surveys 97 wiedergibt (vgl. Graphik 3).
Wie sich zeigt, kann sich über die Hälfte der Menschen in West-und Ostdeutschland, die bisher nicht in irgendeiner Form engagiert sind, ein zukünftiges Engagement vorstellen. Es gibt also ein gewaltiges, mehrere Millionen Menschen umfassendes Engagementpotential. Rechnet man die bereits Engagierten hinzu, dann bleibt in West-und Ostdeutschland nur ein knappes Drittel der Menschen ab 18 übrig, die heute abseits stehen und die auch in Zukunft abseits stehen wollen.
Natürlich muß man sich die Frage vorlegen, warum es denn so viele Menschen gibt, die sich zwar an einem Engagement interessiert zeigen, die sich aber dennoch -jedenfalls bis heute -nicht engagieren. Und man muß sich auch fragen, wie ernst dieses Interesse ist, ob sich mit diesem Engagement wirklich verläßlich rechnen läßt und ob es somit überhaupt sinnvoll ist, sich mit Strategien zur Umsetzung dieses Interesses in ein aktives Handeln zu beschäftigen.
Zu der letzteren Frage kann gesagt werden, daß wir selbst aufgrund unserer eigenen Datenanalysen die Interessenäußerungen sehr ernst nehmen. Es ist offensichtlich so, daß heute ein überwiegender Teil der Menschen in unserem Lande zumindest den Drang spürt, ein freiwilliges Engagement zu erbringen. Mit anderen Worten, es besteht bei der Bevölkerungsmehrheit eine Grundbereitschaft zum Engagement, wobei es sehr wichtig und auch sehr bezeichnend ist, daß diese Grundbereitschaft, wie Graphik 4 zeigt, vor allem bei den jüngeren Menschen sehr stark ausgeprägt ist.
Auf die naheliegende Frage, warum sich diese Grundbereitschaft bisher nur bei einem Teil der Menschen in faktisches Engagement umgesetzt hat, welches also die Gründe für das Nichtengagement trotz ernstzunehmender Interessenäußerungen sind, muß zunächst mit dem Hinweis darauf geantwortet werden, daß die Gelegenheiten und Herausforderungen zum Engagement in der Bevölkerung sehr unterschiedlich verteilt sind.
Man kann sich dies eingängig am Beispiel des Sports vor Augen führen, dem insofern ein besonderes Interesse zukommen muß, als er in Westund Ostdeutschland derjenige Einzelbereich ist, in dem man sich besonders häufig engagiert. Man wird kaum erwarten können, hier aktiv Engagierte, d. h. etwa Trainer und Übungsleiter oder Vereinsvorstände, zu finden, die nicht seit ihrer Jugend -oder möglicherweise schon seit ihrer Kindheit -aktiv Sport getrieben haben. Eine notwendige Voraussetzung des Engagements im Sport ist auch die Mitgliedschaft -man wird hinzufügen können: die länger zurückreichende Mitgliedschaft -in mindestens einem der zahlreichen örtlichen Sportvereine. Im Hintergrund wird man häufig Eltern und/oder Verwandte finden, die selbst bereits sportlich engagiert waren oder es noch sind und die großen Wert darauf legen, auch ihre Kinder in „den Verein“ zu bringen.
Der Sport ist aber nur ein Beispiel von mehreren. Es bietet sich an, mit demselben Schema z. B. auch den Kirchenbereich zu analysieren, welcher in Westdeutschland der am zweithäufigsten gewählte Engagementbereich ist.
Wir selbst konnten die über Generationen hinweg-reichenden Verknüpfungen, die hier eine Rolle spielen, unmittelbar anhand unserer eigenen Daten rekonstruieren. Wir fragten im Rahmen des Surveys 97 nach den Erinnerungen der Befragten an ihre Kindheit und ihr Elternhaus, wobei es u. a. die Antwortvorgabe „Ich wurde sehr religiös erzogen“ gab. 23, 5 Prozent aller Befragten in Westund Ostdeutschland bejahten diese Antwortvorgabe nachdrücklich, während sie von 41, 8 Prozent verneint wurde. Überprüft man die entsprechenden Prozentsätze bei den Engagierten und den interessierten Nicht-engagierten, dann kann man feststellen, daß in beiden Teilen Deutschlands die Bejahungsquote der interessierten Nichtengagierten niedriger liegt als bei den Engagierten. Sie wurden also im Durchschnitt weniger religiös erzogen. Es läßt sich aber gleichzeitig auch eine deutliche Verbindung zwischen einer weniger religiösen Erziehung und einer geringeren Häufigkeit des Kirchgangs wie auch zwischen der geringeren Häufigkeit des Kirchgangs und einer geringeren Stärke des Engagements im Bereich kirchlicher Aktivitäten nachweisen. Ähnliche, in die Tiefe der individuellen Biographie zurückverweisende Entwicklungsgänge, die auf eine selektive Weise zum Engagement hinführen, lassen sich unschwer z. B. auch für die Engagementbereiche der öffentlichen Ehrenämter, für das politische Engagement, für den Bereich Dritte Welt und Menschenrechte, für den Tierschutz, für die Freiwillige Feuerwehr sowie für den Unfall-und Rettungsdienst nachweisen. Überall trifft man darauf, daß Menschen aufgrund eines unterschiedlichen persönlichen Entwicklungsgangs, der oft schon in der Kindheit oder Jugend begann, mehr oder weniger direkt zum Engagement in den jeweils in Frage kommenden Bereichen hingeführt wurden.
Der Hinweis auf Unterschiede der individuellen Lebensverläufe reicht nun allerdings keinesfalls bereits aus, um zu erklären, warum es so viele Menschen gibt, die eigentlich am Engagement interessiert wären, die sich aber dennoch nicht engagieren. Man darf die Gründe hierfür nicht ausschließlich im persönlichen Entwicklungshintergrund der einzelnen Menschen suchen. Man muß vielmehr zu der zusätzlichen Einsicht vordringen, daß wir es bisher noch nicht ausreichend vermögen, den interessierten Nichtengagierten ausreichende Motive, Anlässe und Chancen anzubieten, um ihr Interesse in die Tat umzusetzen und um die Hemmungen, die sie empfinden, zu überwinden.
Es sei dies anhand einer Zusammenstellung verdeutlicht, in der wir die Gründe, die uns von den interessierten Nichtengagierten selbst für ihr fehlendes Engagement genannt wurden, vor dem Hintergrund einer sogenannten Faktorenanalyse in einigen Gruppen zusammengefaßt haben.
Zusammenstellung: Gründe für Nicht-Engagement -Faktorenbildung Negativ-Image 1 -Anreizmangel • Es macht keinen Spaß • Ich habe keine Lust dazu • Ich will nichts mit wildfremden Leuten zu tun haben • Bin nicht kompetent Negativ-Image 2 -vermutete Problembelastung • Man bekommt vielleicht noch rechtliche Schwierigkeiten • Man erhält keine Aufwandsentschädigung • Man wird als Laie nicht ernstgenommen • Ohne ordentliche Bezahlung mache ich gar nichts Informations-/Anstoßmangel • Ich weiß zu wenig darüber • Ich kenne niemanden, an den ich mich wenden könnte • Es hat mich niemand danach gefragt Zeitmangel • Ich habe keine Zeit dafür übrig • Meine berufliche Karriere ist mir wichtiger Am Anfang dieser Liste findet sich -im Rahmen des ersten Faktors -die Begründung: „Es macht keinen Spaß!“ Wenn man einen Blick auf Graphik 2 (Motive des Engagements der Engagierten) zurückwirft, dann wird man feststellen können, daß dort die umgekehrte Feststellung „Es macht Spaß!“ den „längsten Balken“ hat, d. h. die Spitzenstellung einnimmt. Dem entspricht, daß die Engagierten bei der Beantwortung der Frage „Und was glauben Sie, warum sich die Menschen in der Bundesrepublik freiwillig engagieren?“ dem Spaßfaktor eine Spitzenstellung eingeräumt hatten. Allerdings hatten dies bei der Beantwortung dieser Frage auch die interessierten Nichtengagierten getan.
Wenn man verstehen will, warum bei ihnen nichstdestoweniger die Vermutung, daß mit dem Engagement zu wenig Spaß verbunden sei, eine nicht unerhebliche Rolle als Engagementhemmnis spielt, dann muß man die Hypothese aufstellen, daß sie sich ein Bild von den Engagierten machen, das von ihrem Selbstbild erheblich abweicht. Überprüft man, welche Engagementmotive sie den Engagierten neben dem Spaßfaktor sonst noch zurechnen, dann erkennt man in der Tat, daß hierbei das Motiv „Um dem Leben mehr Sinn zu geben“ in Verbindung mit einer Reihe von „altruistischen“ Beweggründen stärker im Vordergrund steht. Die bereits Engagierten erscheinen den interessierten Nichtengagierten also, mit anderen Worten, eher als von ihrem Tun erfüllte Fanatiker einer Selbstlosigkeit, mit der sie sich nicht identifizieren können, so daß sie davon ausgehen, unter unerwünschten „ideologischen“ Druck zu geraten, wenn sie sich ihnen zugesellen. Das nicht der Realität entsprechende Image der Engagierten wirkt -verständlicherweise, wie man nunmehr hinzufügen kann -als Hemmnis.
Es kommen aber noch andere Dinge hinzu, so insbesondere der vielfach bestehende Informationsund Anstoßmangel. Sehr viele Menschen sagen „Ich weiß zu wenig darüber“ und „Ich kenne niemanden, an den ich mich wenden kann“ oder „Es hat mich niemand gefragt“. Es wird hier unmittelbar ein ganz wichtiges „kommunikatives“ Engagementhemmnis sichtbar.
Weiterhin kommt hinzu, daß sehr viele sagen: Ich habe zu wenig Zeit dafür, wobei aber eigentlich wiederum ein Mangel an Wissen im Spiele ist -ein Mangel an Wissen darüber nämlich, daß sich auch über 80 Prozent der Engagierten mit einem relativ geringen Zeitaufwand engagieren, der überraschenderweise nur bei bis zu 20 Stunden im Monat, d. h. also bei bis zu fünf Stunden in der Woche liegt. Überprüft man aufgrund der Befragungsergebnisse, wieviel Zeit die interessierten Nichtengagierten nach eigener Einschätzung aufwenden könnten, dann sieht man, daß sie eigentlich gar nicht allzu weit unter dieser knappen Stundenzahl der überwiegenden Mehrzahl der Engagierten liegen. Die von ihnen genannte Zeit beträgt im Durchschnitt 11, 65 Stunden pro Monat gegenüber 15, 68 Stunden bei den Engagierten, wobei die Spannweite der individuellen Nennungen sehr groß ist und bis in die Spitzengruppe der Nennungen der Engagierten hineinreicht.
Offenbar meinen die interessierten Nichtengagierten aber sehr häufig, daß man für das Engagement mehr Zeit aufwenden muß, als sie erübrigen können, weil sie schlicht zu wenig über die konkreten Bedingungen und Möglichkeiten des Engagements wissen. Und diese falsche Vorstellung über den Zeitbedarf des Engagements wirkt dann wiederum als ein Engagementhemmnis.
VI. Auch bei den Engagierten gibt es brachliegendes Potential
Die Tatsache eines relativ geringen zeitlichen Einsatzes der Engagierten verdient gesonderte Aufmerksamkeit.
Diese Tatsache war bisher nicht völlig unbekannt. Man zog aus ihr jedoch verschiedentlich die falsche Konsequenz, die Masse der nur geringfügig Engagierten abschätzig als unerheblich zu bewerten, oder sie gegebenenfalls sogar -mehr oder weniger vollständig -aus der Engagementstatistik auszuklammern.
Die richtige Reaktion ist demgegenüber, die Frage aufzuwerfen, warum sich eigentlich so viele Engagierte nur geringfügig engagieren.
Eine erste Antwort auf diese Frage liefert die empirische Erkenntnis, daß das Motivationsniveau mit dem Zeitaufwand, den man ins Engagement investiert, in einer sehr deutlichen Beziehung steht: Die Engagierten wenden um so mehr Zeit auf, je motivierter sie sind.
Diese Antwort kann aber nicht befriedigen, denn man muß sich natürlich sofort fragen, warum bei so vielen Engagierten die Motivation, die sie haben, verhältnismäßig niedrig liegt und somit nur für ein geringfügiges Engagement ausreicht.
Glücklicherweise vermag sich die empirische Forschung an diesem Punkt noch einige Schritte vor-anzutasten. So muß die Tatsache höchst aufschlußreich erscheinen, daß das Engagementniveau und der investierte Zeitaufwand in den „großen“ Engagementbereichen, in denen große und etablierte, oft auch „bürokratisierte“ Vereinigungen dominieren, durchschnittlich gesehen besonders niedrig sind, während sie dort, wo kleine, relativ neue und verhältnismäßig „unbürokratische“ Gruppen vorherrschen, so z. B. bei der gesundheitlichen Selbsthilfe, beim Tierschutz wie auch in den Bereichen Dritte Welt und Menschenrechte sowie Umwelt und Wohnen, relativ stark ausgeprägt sind.
Man denkt bei dieser Feststellung unwillkürlich nochmals an die oben schon angesprochenen Meldungen, nach denen in den großen und etablierten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege in den letzten Jahren die Zahl der freiwillig Engagierten sank, während sie bei den Selbsthilfegruppen quasi explodierte. Es liegt die Deutung nahe, daß es in den großen und etablierten Engagementbereichen Hemmfaktoren gibt, die sich motivationsdämpfend auswirken und die somit dafür verantwortlich sind, daß große Teile der Engagierten Zurückhaltung üben. Anders ausgedrückt lassen sich auch bei den bereits Engagierten Engagementreserven oder -potentiale ausmachen, die unter der Bedingung freigesetzt werden können, daß diese Hemmungsfaktoren erkannt und beseitigt werden.
VII. Perspektiven der zukünftigen Engagementförderung
Wir möchten nun am Ende noch zu der praktischen Nutzanwendung der Analyseergebnisse kommen. Was wir aus der Analyse über das Engagementpotential wissen, ermöglicht uns, kurz gesagt, die schlüssige Ableitung von Folgerungen für diejenige Strategie, die eingeschlagen werden kann, um diese große, noch „schlafende“ gesellschaftliche Ressource zum Leben zu erwecken und somit eine auf Erweiterung zielende Engagement-förderung zu betreiben. Wir möchten diese Strategie in zwei Schritten skizzieren:
Erstens ist es erforderlich, das freiwillige Engagement zu einem nachdrücklich stimulierenden „Leitbild für Bürgerinnen und Bürger“ zu erheben. Wir meinen, daß die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement -ungeachtet der persönlichen Motive -in Zukunft nicht mehr als eine rein „private“ Angelegenheit betrachtet werden kann. Zumindest sollte deutlicher als bisher werden, daß die politisch organisierte Gemeinschaft ein existentielles Interesse am Engagement und eine entsprechende Erwartungshaltung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern besitzt.
Mit anderen Worten sollte der Bürger von der politisch organisierten Gemeinschaft in Zukunft nicht nur als „Kunde“ angesprochen werden, wie es im Rahmen der gegenwärtig in Gang befindlichen Verwaltungsreform geschieht. Es gibt keinen Grund, sich gegen ein solches Bürgerverständnis zu wenden, weil es eine dringend erforderliche Dienstleistungsethik der Verwaltung fördert. Es muß aber deutlich gesehen werden, daß es sich hierbei um ein Bürgerbild handelt, das zwar nachhaltig zu einer Selbstverpflichtung der Politik und Verwaltung beitragen kann, das aber als ein Leitbild für Bürgerinnen und Bürger nicht geeignet ist.
Ein solches Leitbild sollte -zweitens -die Bereitschaft zu aktiver Mittätigkeit und Mitverantwortung zu einem Kernbestandteil der Bürgerrolle erheben. Es sollte Zielvereinbarungen für die Entwicklung des örtlichen Gemeinwesens zwischen der Politik, der Verwaltung und den Bürgern einschließen, gleichzeitig aber auch die persönliche Hinwendung zum Nächsten als ethisches Prinzip, wie auch als Chance der Selbstentfaltung hervorheben.
Wir möchten im Anschluß hieran -sehr kurz und stichwortartig -noch drei Wünsche an eine zukünftige Engagementförderung formulieren, die mehr ins Konkrete gehen und diejenigen Bedingungen betreffen, die man -auf dem Hintergrund vorliegender Engagement-und Engagementpotentialanalysen -berücksichtigen muß, wenn man Erfolg haben will: a) Mehr informationshaltige Öffentlichkeitsarbeit für das bürgerschaftliche Engagement. -Ein breites Motivationsspektrum unter Einbeziehung von Selbstentfaltungsinteressen ansprechen.
-Hemmschwellen aufgrund von Wissensdefiziten abbauen. b) Kontakt-und Beratungsangebote als „Bringschuld“ erkennen und anbieten sowie eine „engagementfördernde Infrastruktur“ aufbauen, die dies zu leisten vermag. c) Freiwilliges Engagement attraktiver und „motivierender“ machen (Handlungsspielräume für Engagierte erweitern, Gleichrangigkeit der Tätigkeit Freiwilliger mit der Arbeit „hauptamtlicher Professioneller“ anerkennen und durch Fortbildungsangebote und Zertifikate sichern etc.).
Helmut Klages, Prof. Dr. rer. pol., geb. 1930; Inhaber des Lehrstuhls für empirische Sozialwissenschaften, insb. Soziologie, an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; Mitbegründer des Zentrums Berlin für Zukunftsforschung e. V; Mitglied u. a. in: Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft e. V. (DGfP); Deutsche Gesellschaft für Soziologie; Deutsche Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften; International Sociological Association. Veröffentlichungen u. a.: Häutungen der Demokratie, Osnabrück 1993; (Hrsg. zus. mit Hermann Hill) Spitzenverwaltungen im Wettbewerb, Stuttgart u. a. 1993; Traditionsbruch als Herausforderung, Frankfurt am Main 1993; (Hrsg. zus. mit Carl Böhret/Hermann Hill) Staat und Verwaltung im Dialog mit der Zukunft, Baden-Baden 1994; Werte und Wertewandel, in: Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 1998.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).