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Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR | APuZ 45/1998 | bpb.de

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APuZ 45/1998 Artikel 1 Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989 Phasen und Kontroversen Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR DDR-Historie zwischen Wissenschaftlichkeit und Politik Anmerkungen zu unterschiedlichen Forschungsansätzen und kontroversen Bewertungen

Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR

Herfried Münkler

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ausgehend von der Feststellung, daß offenbar alle politischen Großverbände auf mythische Erzählungen bzw. Überlieferungen angewiesen sind, werden Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als Gründungsmythos der DDR untersucht. Unter Mythos wird dabei eine in der Regel auf ein historisches Ereignis (oder eine Entwicklung) bezogene Erzählung verstanden, die diesem Ereignis eine herausragende Bedeutung für den Fortgang der Geschichte beimißt und einen zentralen Platz im kollektiven Gedächtnis der betreffenden Gemeinschaft einnimmt. Diesen Platz zu sichern dienen politische Texte wie auch literarische Erzählungen, Denkmäler und Straßennamen, Festveranstaltungen und Aufmärsche. In diesem Sinne wird der antifaschistische Gründungsmythos sowohl als Selbstinterpretation der DDR-Gesellschaft als auch als Herrschaftsinstrument der SED analysiert. Nur mit diesem Mythos konnte sich die DDR positiv von der Bundesrepublik abgrenzen und deren ökonomischem „Wohlstand für alle“ die Entlastung bzw. Selbstbestätigung der eigenen Bevölkerung als „Antifaschisten“ und „Sieger der Geschichte“ entgegensetzen. Abschließend wird der politische Nutzen als Legitimationsquelle mit seinen politischen Kosten der Immobilität und zunehmender Verluste an Glaubwürdigkeit in Beziehung gesetzt. Die These ist, daß der DDR-Gründungsmythos durch den instrumentellen Gebrauch der Machthaber so desavouiert worden ist, daß er im Herbst 1989 keine revitalisierende Kraft mehr besaß.

I. „Ein neues Kapitel“

Man habe damals vor der Alternative gestanden, so Erich Honecker rückblickend über die Gründung der DDR im Oktober 1949, „entweder die antifaschistisch-demokratischen Verhältnisse zu festigen und planmäßig die revolutionäre Umwälzung auf dem Weg zum Sozialismus fortzuführen oder die antiimperialistischen, demokratischen Errungenschaften preiszugeben und eine Restauration monopolkapitalistischer Verhältnisse zuzulassen“. Angesichts dieser Alternative resümiert er: „Logischerweise entschieden wir uns für das erstere und gründeten unseren Arbeiter-und-Bauern-Staat.“ In zahllosen Varianten ist dieses Selbstverständnis der DDR variiert worden, wonach sie selbst in der Tradition des Antifaschismus stehe, während in der Bundesrepublik Deutschland die „monopolkapitalistische“ Gesellschaftsordnung fortbestanden habe, die -so die Behauptung -schon einmal in den Faschismus geführt hätte. „Der Faschismus“, so hatte Walter Ulbricht 1968 erklärt und so wurde er auch im Geschichtslehrbuch für die 9. Klassen in der Ausgabe des Jahres 1970 zitiert, „ist das Werk der aggressivsten, expansionistischsten Kräfte des Monopolkapitals, die mit den Mitteln der Militarisierung, der staatlich formierten Herrschaft und der Manipulierung der Menschen ein unmenschliches System schaffen.“ Als Begründung eines sich zunächst auf Der Artikel beruht auf Ergebnissen, die im Rahmen des von mir geleiteten DFG-Projekts „Politische Mythen der DDR“ erarbeitet wurden. An der Erarbeitung der Einzelstudien waren Dr. Raina Zimmering als wiss. Mitarbeiterin sowie Ruth Schäfer, Alexander Dowe und Dirk Schwiedergoll als studentische Hilfskräfte beteiligt. ganz Deutschland erstreckenden Anspruchs auf die Um-und Neugestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und später dann als Legitimation der Eigenstaatlichkeit der DDR hat dieses Selbstverständnis bis zum Schluß Bestand gehabt. So heißt es noch in einem zum 40jährigen Bestehen der DDR kurz vor deren Zusammenbruch veröffentlichten Band, mit der Gründung der DDR seien „die Ergebnisse der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung ein für allemal verankert“ und „ein neues Kapitel im Buch der deutschen Geschichte aufgeschlagen worden“

Der Begriff „Umwälzung“, der hier gebraucht wird, läßt die Frage nach den Akteuren offen. Daß mit dem Verzicht auf den Revolutionsbegriff an dieser Stelle freilich nicht zugestanden werden soll, die Veränderung sei mit der siegreichen Roten Armee allein von außen gekommen, wird kurz darauf unterstrichen, wenn es von der Politik der DDR heißt, sie folge „dem Schwur, den die in Konzentrationslager und Zuchthäuser Gesperrten, in die Illegalität und das Exil Getriebenen geleistet hatten: ein friedvolles Land zu errichten, von dessen Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, in dem auch die geistigen Wurzeln des Faschismus ausgerottet sind und demokratische Verhältnisse herrschen. Deutsche Antifaschisten waren die Unermüdlichen der ersten Stunde! Sie waren schon daran gegangen, Wege und Ziele abzustecken, die Keime des Neuen zu setzen, als der Krieg noch in den letzten Zügen lag.“ Wenngleich in den entsprechenden Stellungnahmen nie vergessen wird, die entscheidende Rolle der Roten Armee bei der Zerschlagung des Faschismus anerkennend herauszustellen, so wird darin aber auch durchweg darauf Wert gelegt, daß die Befreiung vom Faschismus nicht bloß das Werk anderer Mächte gewesen sei, sondern daß dabei die deutschen Antifaschisten eine wichtige Rolle gespielt hätten. Weit über den tatsächlich geleisteten Widerstand kommunistischer Zellen in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft hinaus wurde dabei das Bild eines kontinuierlichen, breite Bevölkerungskreise umfassenden Widerstands entworfen, in dessen Tradition sich die DDR dann selbst gestellt hat. Der Antifaschismus sowie insbesondere der antifaschistische Widerstand avancierten so zum Gründungsmythos der DDR, dessen Verbreitung und politische Funktion nachfolgend beschrieben und analysiert werden sollen

Wenn hier gegenüber dem Begriff der Ideologie und dem Konzept der Ideologiekritik das des politischen Mythos -verbunden mit der Analyse von Nutzen und Kosten politischer Mythen -verwendet werden soll, so vor allem deswegen, weil der Konzeptualisierung der DDR-Gründungserzählung als Ideologie notwendig bestimmte Annahmen bezüglich der historischen Wahrheit zugrunde liegen, die selbst aus der Perspektive einer beobachtenden Sozialwissenschaft nur schwer durchgehalten werden können, zumal dann, wenn sie nicht nur auf wissenschaftliche und politische, sondern auch auf literarische Texte angewandt werden sollen. Die Konzeptualisierung als politischer Mythos kommt dagegen mit sehr viel schwächeren Annahmen hinsichtlich historisch zutreffender und angemessener Aussagen aus. Im Unterschied zum Ideologiekonzept, das -soll es politikwissenschaftlich anwendbar sein -Annahmen über Ideologiepro-duzenten, Ideologieverwender und ihre Adressaten voraussetzt, also wesentlich auf der Vorstellung der Instrumentalität beruht, kann das Konzept der politischen Mythen auf eine so scharfe Teilung in Mythenproduzenten und Mythenkonsumenten verzichten. Politische Mythen sind Herkunfts-oder Zukunftserzählungen, die „Bedeutungsinvestitionen“ in die Gegenwart tätigen und so für das politische Selbstverständnis einer Gemeinschaft von großer Relevanz sind. Dies soll hier im zweiten Kapitel eingehender dargestellt werden, bevor es im dritten Kapitel ausführlicher um den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR geht, nicht zuletzt im Vergleich mit dem bundesrepublikanischen Gründungsmythos von Währungsreform und Wirtschaftswunder. In einem abschließenden vierten Kapitel werden dann Nutzen und Kosten politischer Mythen überhaupt und insbesondere des politischen Gründungsmythos der DDR untersucht, auch und gerade im Hinblick auf die Frage seines Versagens beim Zusammenbruch des politischen Systems der DDR im Herbst 1989 sowie auf die politischen Entscheidungen, die im Frühjahr 1990 das Ende der Eigenstaatlichkeit einleiteten.

Was hier als „Gründungsmythos“ bezeichnet wird, stellt zumeist freilich nur einen Bestandteil in einem ganzen Mythensystem dar. Im Unterschied zu den an ihn angelagerten und ihn flankierenden „Additionsmythen“ kommt dem Gründungsmythos freilich eine stärker identitätsverbürgende Bedeutung zu; dementsprechend weist er eine geringere Variationsfähigkeit als die Additionsmythen auf. In der Selbstdarstellung der DDR hatten diese Additionsmythen die Aufgabe, dem Projekt des Arbeiter-und-Bauern-Staates eine bis ins späte Mittelalter zurückreichende Vorgeschichte zu verschaffen, so daß sich die DDR als endlich gelungene Verwirklichung schon lange angestrebter Ziele des deutschen Volkes begreifen und darstellen konnte. Solche Additionsmythen waren die Bauernkriege bzw. die sogenannte frühbürgerliche Revolution sowie die antinapoleonischen Befreiungskriege. So heißt es in dem bereits zitierten offiziösen Selbstdarstellungsband der DDR anläßlich ihres 40. Gründungsjubiläums über die „Fülle von humanistischen und progressiven Traditionen“, als deren Fortsetzer sich die DDR verstand: „Dazu zählt die frühbürgerliche Revolution -Reformation und Bauernkrieg von 1517 bis 1526. Martin Luthers Ideen erschütterten das Feudalsystem. Zum Höhepunkt wurde der Bauernkrieg von 1525, in dem das Volk erstmals versuchte, die Gesellschaft revolutionär umzugestalten.“ Und daran anschließend heißt es: „Im Befreiungskrieg von 1813/14 gelang es dem deutschen Volk, die napoleonische Fremdherrschaft zu beseitigen und die Voraussetzungen für eine eigenständige nationale Entwicklung zu schaffen.“ Daß gerade den Befreiungskriegen neben Reformation und Bauernkrieg eine so herausragende Rolle zugedacht wurde -eine größere jedenfalls als der Revolution von 1848/49 -, hat offenkundig mit der preußisch-russischen Waffenbrüderschaft und der Abwehr-richtung gegen Westen zu tun, die als Vorläufer aktueller Konstellationen dargestellt werden konnten. Obendrein ließ sich damit der Nationalen Volksarmee eine Vorgeschichte verschaffen, die über Wehrmacht, Reichswehr und kaiserliches Heer zurückreichte und anschlußfähige Militärtraditionen herausstellen sollte Aber nicht um diese Additionsmythen, sondern um den zentralen Gründungsmythos des antifaschistischen Widerstands soll es hier gehen.

II. Die Bedeutung von Gründungsmythen für die Selbstbeschreibung politischer Gemeinschaften

Wohl alle politischen Gemeinschaften haben zwecks Selbstdarstellung nach außen wie Integration nach innen auf politische Mythen zurückgegriffen und sich dabei entweder sagenhafter Er

Zählungen bedient oder aber historisch belegbare Ereignisse mythisch umgedeutet und überhöht. Oft sind es halb mythische, halb historische Gestalten, denen dabei eine herausragende Rolle als Stadt-oder Staatsgründer bzw. als Retter in höchster Not und Bedrängnis zukommt: Theseus in Athen, Romulus in Rom, Moses und David bei den Juden, Arminius, Barbarossa und Bismarck bei, den Deutschen, Vercingetorix, Jeanne d'Arc und Napoleon bei den Franzosen, Teil bei den Schweizern usw. In anderen Fällen sind es politische oder militärische Ereignisse, die für das Selbstverständnis einer politischen Gemeinschaft bedeutsam gemacht werden, wie etwa der Sturm auf die Bastille, die Schüsse des Panzerkreuzers „Aurora“ auf die Peter-und-Pauls-Festung, die Schlacht auf dem Amselfeld oder das „Wunder an der Weichsel“, als polnische Truppen 1920 Verbände der Roten Armee besiegten.

Dabei unterscheiden sich politische Mythen von bloßer Geschichtsschreibung dadurch, daß sie eigentlich nicht so sehr die Ereignisse selbst, sondern deren Bedeutung hinsichtlich des Fortgangs der Geschichte und ihre Bedeutsamkeit für das aktuelle Selbstverständnis der jeweiligen politischen Gemeinschaft vermitteln. Das Ereignis wird erzählt als eines, von dem an eine neue Zeit begonnen habe oder eine Niederlage mit verheerenden Folgen doch noch habe abgewendet werden können und derlei mehr. Politische Mythen berichten insofern nicht von Ereignissen, sondern von Zäsuren der Zeit und Interpunktionen der Geschichte.

Diese Bedeutungsinvestitionen politischer Mythen in Ereignisse oder Entwicklungen dienen vor allem der Vermeidung von historisch Zufälligem oder Beliebigem, also der Reduktion von Kontingenz. Kontingenz nämlich ist der bedrohlichste Verdacht, dem sich politische Gemeinwesen ausgesetzt sehen können: Wenn alles zufällig und beliebig ist, dann hätte die Gründung Roms womöglich unterbleiben, die Revolution ausfallen, die Schlacht verloren werden können, und Stalin hätte auch -um auf den Gründungsmythos der DDR zurückzukommen -zu anderen deutschlandpolitischen Entscheidungen gelangen können. Dann aber wäre, darüber war man sich zumindest in der politischen Spitze der DDR im klaren, der „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ kein Wendepunkt in der deutschen Geschichte, sondern allenfalls eine Fußnote Im antifaschistischen Gründungsmythos wurde dieser Kontingenzverdacht „wegerzählt“; er diente hierin nicht so sehr zur Täuschung der Beherrschten als vielmehr zur Beruhigung der Herrschenden und all derer, die mit der „Wendepunkt“ -Auffassung politische Hoffnungen verbanden. So haben politische Mythen die Funktion, durch Kontingenz-Reduktion die Gleichgültigkeit und Beliebigkeit des Vergangenen gegenüber der Gegenwart „wegzuerzählen“ und die Vergangenheit in einen Garanten der Gegenwart und der Zukunft der politischen Gemeinschaft zu verwandeln.

Neben der Kontingenz-Reduktion kommt politischen Mythen die Funktion der Komplexitäts-Reduktion zu: Aus der Fülle historisch-politischer Ereignisse und Entwicklungen, der gesellschaftlichen Tendenzen und Gegentendenzen greifen sie ein Ereignis heraus und verwandeln es qua Bedeutungsinvestition in das Ereignis, das für den weiteren Verlauf der Geschichte, für die Signatur des Jahrhunderts, womöglich gar für den Anbruch einer neuen Epoche ausschlaggebend gewesen sein soll. Politische Mythen verschaffen Orientierung und Überblick; insofern bilden sie eine wichtige Ressource bei der politischen Integration eines Sozialverbandes. Infolge der durch sie hergestellten Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Hauptsächlichem und Nebensächlichem ermöglichen sie Orientierung und Urteilsbildung -auch wenn sich dies im historischen Rückblick oft genug als Desorientierung und Fehlurteil herausstellen mag, wofür gerade die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zahllose Belege bereithält

Doch unbeschadet dessen sind es immer wieder politische Mythen, die Politik aus Experten-Handein in eines verwandeln, an dem breitere Kreise der Bevölkerung partizipieren können -und seien es zunächst nur jene machtfernen Intellektuellen, die sich als Publizisten oder Dichter an der Ausgestaltung und Verbreitung des jeweiligen Mythos beteiligen. Sie vor allem sind die Akteure und Profiteure eines Prozesses, in dessen Verlauf Politik aus dem auf Staatsgeheimnissen begründeten Handeln kleiner Herrschaftseliten in ein Geschehen verwandelt wird, das zumindest für die kommunikative Partizipation von mit den Staatsgeheimnissen nicht Vertrauten offen ist Politische Mythen sorgen dafür, daß der Verweis auf die Komplexität des politischen Geschehens kein überzeugendes Argument für den Ausschluß von Nichtspezialisten ist. Insofern sind politische Mythen zunächst nicht Medien der Schließung und Zutrittsbeschränkung, sondern vielmehr solche der Öffnung und Integration. Das freilich kann auch heißen, daß sie eine Bevölkerung bloß zum Akzeptieren von Entscheidungen bringen, ohne daß ihr reale Einflußnahme oder auch nur ein wirklicher Über-blick möglich ist. Gerade diese Dimension soll nachfolgend am antifaschistischen Gründungsmythos der DDR eingehender betrachtet werden.

Neben der Kontingenz-und der Komplexitätsreduktion ist die Loyalitäts-Reduktion als dritte Dimension der Orientierungs-und Handlungsermöglichung durch politische Mythen zu nennen. Gerade in Phasen politischer und gesellschaftlicher Umbrüche -wie etwa während der Französischen Revolution, davor im Amerikanischen Bürgerkrieg, bei der Gründung des Deutschen Reiches 1871, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Mitteleuropa und dort erneut während des Zweiten Weltkriegs und danach -sehen sich die Menschen mit divergierenden, zumeist konkurrierenden Loyalitäten konfrontiert: Welcher politischen Ordnung sollen und wollen sie nun angehören? Sind die alten Bindungen und Verpflichtungen noch verbindlich, oder sind es bereits die neuen? Ist die Zugehörigkeit zu einer Nation oder zu einer Partei wichtiger als die Staatsangehörigkeit oder die sprachlich-kulturelle Identität?

Divergierende Verpflichtungen und Loyalitäten werden durch den politischen Mythos geklärt, indem er eine Loyalität als die wichtigste und engste herausstellt; er reduziert letztlich die Fülle poli-tischer Beziehungen auf die einfache, politisch aber hocheffiziente Gegenüberstellung von Freund und Feind Da dabei aber kein politischer Mythos die alleinige Definitionskompetenz besitzt, sondern die Freund-Feind-Bestimmungen durch unterschiedliche Mythen oft genug konträr erfolgen, entsteht ein System von Gegenmythen, die aufs engste aufeinander bezogen sind, indem sie sich wechselseitig die Verbindlichkeit bestreiten. Der französische Napoleon-Mythos und seine deutschen Fort-schreibungen auf der einen, die deutschen Mythen von Arminius/Hermann, Siegfried, den Nibelungen und Kaiser Rotbart auf der anderen Seite waren solche Gegenmythen, die auf die Durchsetzung konkurrierender Loyalitäten abzielten.

Eine solche Funktion hatten auch die Gründungsmythen der beiden deutschen Staaten nach 1949: Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR enthält nicht bloß eine Abgrenzung gegen die Vergangenheit (Weimarer Republik und „HitlerFaschismus“), sondern auch und vor allem eine gegen die Bundesrepublik, der vorgehalten wurde, mit der Vergangenheit nicht wirklich gebrochen zu haben und die darum auch keine Loyalität von Demokraten verdiene. Umgekehrt ist der westdeutsche Gründungsmythos von Währungsreform und Wirtschaftswunder unmittelbar gegen den im Osten eingeschlagenen, zunächst antikapitalistischen und dann sozialistischen Weg gerichtet, dem gegenüber die überlegene Leistungskraft einer marktwirtschaftlichen Ordnung herausgestellt wird: Wer nicht den Weg der Marktwirtschaft gehe, so die Botschaft, werde auf Dauer arm und bedürftig bleiben. Zugleich grenzte der Gründungsmythos von Währungsreform und Wirtschaftswunder die Bundesrepublik gegen die Vergangenheit -die Weimarer Republik sowie das „Dritte Reich“ (so der hier bevorzugt verwendete Begriff) -ab, die auf dieser Ebene mit Wirtschaftskrise, Inflation, Wirtschaftsdirigismus etc. konnotiert wurden.

So wurden aus der für beide deutsche Teilstaaten gemeinsamen Geschichte vermittels der jeweiligen Gründungsmythen deutlich voneinander unterschiedene Geschichten gemacht, denen gegenüber dann das gesellschaftliche wie politisch Neue um so schärfer und markanter hervortrat: Im einen Fall ist es der (Monopol-) Kapitalismus, der in den Faschismus geführt habe und gegen den Antifaschismus und Sozialismus eine gleichsam selbstevidente Verbindung eingingen; im anderen Fall sind es vor allem eine dirigistische Wirtschaftspolitik und die Fesselung der Marktkräfte, die in wirtschaftliche Krisen, zu Arbeitslosigkeit und dadurch zum Aufstieg der NSDAP geführt hätten, weswegen die Durchsetzung einer sozial abgefederten Marktwirtschaft die richtige Lehre aus den zurückliegenden Katastrophen sei.

Wie aber erlangen politische Mythen Wirksamkeit? Wie werden sie verbreitet? Wie werden sie zu Bestandteilen des kollektiven Gedächtnisses? Wie werden sie zu Leitvorstellungen bei der Selbstinterpretation einer politischen Gemeinschaft? Im Anschluß an Jan Assmanns Überlegungen zur Überlieferung in früheren Hochkulturen läßt sich zwischen einem kommunikativen und einem kulturellen Gedächtnis unterscheiden, wobei das kommunikative Gedächtnis die Erinnerungen umfaßt, „die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörperten, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis.“ Dem steht das kulturelle Gedächtnis gegenüber, das „eine Sache institutionalisierter Mnemotechnik“ ist. Daraus folgt, daß zum kommunikativen Gedächtnis im Prinzip jeder aus der Kompetenz der von ihm gemachten Erfahrungen beitragen kann, während das kulturelle Gedächtnis immer seine speziellen Träger hat: „Dazu gehören die Schamanen, Barden, Griots ebenso wie die Priester, Lehrer, Künstler, Schrei-ber, Gelehrten, Mandarine und wie die Wissensbevollmächtigten alle heißen mögen.“

Im Hinblick auf die Zirkulation und Weitergabe politischer Mythen in den beiden Formen des kollektiven Gedächtnisses heißt das, daß eine über das kulturelle Gedächtnis vermittelte Erinnerung ungleich besser unter politische Kontrolle gebracht werden kann, als dies beim kommunikativen Gedächnis der Fall ist, wo immer eine gewisse Widerständigkeit gegen offizielle Überformungen bestehen bleibt. Dafür besitzen die über das kommunikative Gedächtnis vermittelten Erinnerungen eine ungleich größere Glaubwürdigkeit, weil das Berichtete durch den Berichtenden selbst verbürgt und bestätigt wird.

Im Falle des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR geschah dies durch das öffentliche Auftreten von Widerstandskämpfern, von in Zuchthäusern und Konzentrationslagern Gefangenen sowie insbesondere von Spanienkämpfern, die nicht nur vom Erleiden des Faschismus, sondern auch vom bewaffneten Kampf gegen ihn berichten konnten Aber dieses kommunikativ vermittelte, persönliche Erinnerungsvermögen an das im Gründungsmythos Behauptete wurde mit dem Fortgang der Zeit zu einer immer knapperen Politikressource. Jan Assmann hat den Zeitraum, den das kommunikative Gedächtnis umfaßt, auf etwa vierzig Jahre beziffert, und so war die DDR gegen Ende ihres Bestehens mehr und mehr darauf angewiesen, ihren Gründungsmythos über die Medien des kulturellen Gedächtnisses zu verbreiten.

Aber auch ohne das allmähliche Wegsterben derer, die eigene Erinnerungen an Verfolgung und Widerstand kommunizieren konnten, gab es ein Problem: Es waren nur wenige, die in Deutschland aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatten; die meisten hatten, auch wenn sie sich nicht gerne daran erinnerten, irgendwie mitgemacht. Unter diesen Umständen war der Gründungsmythos der DDR von Anfang an viel stärker als der der Bundesrepublik auf die Medien des kulturellen Gedächtnisses angewiesen Im Unterschied zum Gründungsmythos der Bundesrepublik mit ihrem den Großteil der Bevölkerung einbeziehenden Wiederaufbau und Wirtschaftswunder war es nicht so dicht und vielfältig mit persönlichen Erinnerungen an die betreffende Zeitspanne verknüpft, bzw. in diesen Erinnerungen war auch sehr viel anderes präsent als Widerstand.

Hinsichtlich des kulturellen Gedächtnisses lassen sich drei Vermittlungsformen politischer Mythen unterscheiden: die narrativ-extensive, die ikonischverdichtende und schließlich die rituell-szenische Form. Dabei fasse ich unter der narrativ-extensiven Form die verschiedenen Varian*ten erzählerischer Vermittlung zusammen: Sie reichen von einem bestimmten Typus der Historiographie über belletristische Literatur, Gedichte, Erzählungen, Romane bis zu politischen Texten und Reden. Zu der ikonisch-verdichtenden Form zählen Denkmäler und Mahnmale oder die in der DDR überaus beliebten Wandmalereien oder Mosaiken an großflächigen Fassaden, schließlich auch die bei Demonstrationen mitgeführten Bilder, die in bildhafter Verdichtung das narrativ Vermittelte repräsentieren. Unter der rituell-szenischen Form der Vermittlung politischer Mythen sind öffentliche Versammlungen, Gedenkveranstaltungen und Aufmärsche zu verstehen, bei denen in regelmäßiger Wiederholung und gemäß einer feststehenden „Liturgie“ jener Ereignisse und Personen gedacht wird, denen der politische Mythos eine herausragende Relevanz für Entstehung und Identität des Gemeinwesens zuspricht.

Alle drei Formen der Vermittlung politischer Mythen, die in dieser Klarheit freilich nur analytisch separiert werden können und eine Fülle von Überschneidungen und Verschränkungen aufweisen -die wichtigste ist wohl der Film -, ergänzen und verstärken sich wechselseitig, wobei die narrative Vermittlung das Fundament darstellt, auf dem die ikonische wie die rituelle Form aufbauen. Ohne Rückbezug auf die Narration bleiben sie unver-ständlich oder verwandeln sich in ein leeres Ritual. Hieraus ist auch erklärlich, daß der entscheidende Ort bei der Vermittlung politischer Mythen die Schule bzw. die dort eingesetzten Lesebücher und ergänzenden Lehrmittel sind, und das wiederum hat zur Folge, daß der Staat durch seinen Einfluß auf die Unterrichtsgestaltung erheblich größere Einflußmöglichkeiten auf die Ausgestaltung und Verbreitung politischer Mythen hat als andere politische und gesellschaftliche Kräfte. Um wieviel mehr gilt dies erst, wenn Staat und Partei eine Einheit bilden und oppositionelle Gruppen nicht einmal die Möglichkeit haben, sich politisch zu formieren, wie dies in der DDR der Fall war.

III. Der antifaschistische Gründungsmythos als Identitätsressource der DDR und Machtinstrument der SED

Die drei aus der Zerschlagung des „Großdeutschen Reiches“ hervorgegangenen selbständigen Staaten -die Republik Österreich, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland -sind mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unterschiedlich umgegangen: Während der Nationalsozialismus, so M. Rainer Lepsius, in Österreich externalisiert, also als ein von außen kommendes Ereignis begriffen worden sei und ihn die Bundesrepublik Deutschland -nicht zuletzt infolge ihres Anspruchs, Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs zu sein -internalisiert, also als Bestandteil der eigenen Geschichte akzeptiert habe, habe ihn die DDR universalisiert, d. h. als eine Etappe in der Epoche des sich verschärfenden Klassenkampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus begriffen entscheidende Instrument hierbei war die Faschismus-theorie, wie sie in den dreißiger Jahren in der Komintern durchgesetzt worden war: Der Faschismus war danach die Periode im weltgeschichtlichen Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in welcher die aggressivsten und reaktionärsten Gruppen des Monopolkapitals an die Macht gelangt waren Der Nationalsozialismus wurde so nicht als ein spezifisches Ereignis der deutschen Geschichte aufgefaßt, sondern auf ganz Europa ausgeweitet, und wenn er sich in Deutschland in aggressiverer und brutalerer Form zeigte als etwa in Italien oder Spanien, dann deswegen, weil hier der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ein fortgeschritteneres Stadium erreicht hatte. Nicht die deutsche Geschichte, auch nicht spezifisch deutsche Mentalitäten -wie Obrigkeitshörigkeit und Untertanengesinnung, Furcht vor der Freiheit und Sehnsucht nach dem „starken Mann“ oder dergleichen -waren danach für den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland verantwortlich, sondern verantwortlich war zunächst und vor allem eine kleine Gruppe von „Monopolkapitalisten“, die mit Geld und Intrigen Hitler den Weg zur Macht gebahnt hatte. Das war nach 1945 natürlich für viele, die damals irgendwie mitgemacht hatten, ohne sich direkt an Verbrechen beteiligt zu haben, eine nicht unwillkommene Theorie -sprach sie doch weitgehend von Mitverantwortung frei.

Die Entnazifizierung der DDR erfolgte also auf drei Ebenen: Zum einen erfolgte sie als Entfernung nationalsozialistischer Amtsträger und weitgehend auch der Parteimitglieder mit einem Eintrittsdatum vor 1937 aus ihren Positionen und Funktionen. Auf diese Maßnahmen hat sich die DDR später immer wieder als Zeichen für den von ihr vollzogenen tief-greifenden Bruch mit dem Nationalsozialismus berufen und das zumeist in polemischer Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik, die einen solchen Bruch nicht vollzogen, sondern viele frühere NSDAP-Mitglieder nach einer kurzen Zwischen-phase wieder in ihre alten Positionen gelassen habe. Daneben gab es im Rahmen der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ aber auch eine Reihe von Maßnahmen, die sich nicht gegen ehemalige Nationalsozialisten, sondern gegen die Eigentümer von Ländereien und Fabriken richteten, die aber auf der Basis der alten Faschismus-theorie der Komintern als Bestandteil des antifaschistischen Kampfes angesehen werden konnten Der Rest der Bevölkerung wurde durch diese Faschismustheorie -und das ist die dritte Ebene -moralisch und politisch entlastet, und im antifaschistischen Gründungsmythos der DDR fand dies seinen bedeutsamsten Niederschlag. Hauptelement dieser Entlastung war die weitgehende Ausblendung des nationalsozialistischen Völkermords an den Juden, der in der Faschismustheorie der Komintern keinen Platz hatte

Die sozialpsychologischen Effekte, die die gründungsmythische Verbindung der DDR mit dem antifaschistischen Widerstand hatte, hat Stephan Hermlin im Rückblick folgendermaßen beschrieben: „Das Siegerbewußtsein . . . war zunächst einmal das Bewußtsein der Widerstandskämpfer, die ja auch nur zu einem geringen, wenn auch beträchtlichen Teil Kommunisten waren. Wir haben in den ersten Jahren der Republik ein ziemlich klares, deutliches Urteil über die deutsche Geschichte gefällt, das von der Mehrheit der Bevölkerung angenommen wurde; das hatte aber wiederum Folgen, denn die Mehrheit der Bevölkerung war sich darüber im klaren, daß sie den Faschismus auf irgendeine Weise unterstützt hatte, und fühlte sich schuldig. Und dann ist den Propagandisten bei uns eingefallen, diese seltsame Formel von , Sieger der Geschichte 1 zu verwenden. An sich ein Absurdum, weil es Sieger der Geschichte nicht gibt, nie gegeben hat. In dieser Formel drückt sich die Überzeugung aus, daß dem Sozialismus die Zukunft gehört; aber sie drückt sich auf eine etwas ungeschickte Weise aus. Man ernannte sich selbst zum Sieger der Geschichte. Diese Formel breitete sich sofort aus, wie ein Kreis in einem Wasser, in das man einen Stein geworfen hat. Jeder Bürger der DDR konnte sich nun als Sieger der Geschichte fühlen.

Dadurch, daß man dem Volk diese Schmeichelei sagte und es entlastete, war es dann leichter zu regieren. Es ist schwer, auf die Dauer Leute zu regieren, die sich irgendwie schuldig fühlen. Mit dieser Formel erlangte die DDR gleichzeitig auch eine gewisse politische Autorität!“

Was Hermlin als einen späteren Effekt der Propaganda ansieht, der mit der politischen Gründungsidee der DDR nichts zu tun gehabt habe, ist freilich mit dem Gründungsmythos des antifaschistischen Widerstands selbst untrennbar verknüpft: die Verwandlung der Niederlage des Deutschen Reichs in einen (kommunistischen) Sieg und die Übertragung von Verantwortung und Schuld für die von Deutschen begangenen Verbrechen auf eine kleine Gruppe überzeugter Nazis und ihre „monopolkapitalistischen“ Hintermänner. Der antifaschistische Gründungsmythos stellte sicher, daß man selbst zu den Opfern des Faschismus und gleichzeitig zu den Siegern der Geschichte und nicht zu den Tätern und Verlierern gehörte. Was an der Vergangenheit belastend und beschämend war, was daraus an Schuld und Verantwortung für die Gegenwart erwachsen konnte, wurde als etwas Fremdes markiert, das mit der eigenen Identität nichts zu tun hatte. „Das NS-Erbe wurde zum Problem der Westdeutschen. Hitler war gleichsam ein Westdeutscher geworden“, so hat Bernd Faulen-bach diese Entlastungsstrategie charakterisiert

Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR war insofern zunächst eine Bereinigung des kollektiven Gedächtnisses, die viele entlastete und darum, wie Hermlin dies sicherlich zutreffend erinnert, von einem Großteil der Bevölkerung bereitwillig aufgegriffen wurde. Da er persönliche Erinnerungen relativierte und von Schuldgefühlen freisprach, fand er über längere Zeit breite Akzeptanz in der Bevölkerung Aber, und das hat Hermlin ansatzweise erkannt, man wußte oder ahnte doch, daß diese Freistellung von Schuld und Verantwortung insofern nur geborgt war, als der Widerstand einiger weniger zur Freistellung der übrigen genutzt wurde, und daß diese rechtfertigende und schützende Einbeziehung jederzeit auch wieder zurückgenommen werden konnte. Das politisch gute Gewissen hing nicht am eigenen Tun in der Vergangenheit, sondern an der Kollektivamnestie durch den antifaschistischen Gründungsmythos. Und der war, um auf die oben eingeführte Begrifflichkeit zurückzugreifen, nicht über das kommunikative, sondern allein über das kulturelle Gedächtnis gesichert Dadurch war der antifaschistische Gründungsmythos von vornherein immer auch eine Macht-und Herrschaftsressource derer, die über die offizielle Erinnerung verfügten. Oder pointiert formuliert: Wer über den Begriff des Antifaschismus verfügte, hatte auch die Macht, Oppositionellen und Mißliebigen den durch diesen Begriff gebotenen Schutz zu entziehen. Die schärfste Form dieses Schutzentzugs war die Bezeichnung „Faschist“ oder „faschistisch“, die in der Frühphase der DDR zu einem willkürlich verwendbaren Vernichtungsbegriff wurde Weil der antifaschistische Gründungsmythos der DDR immer beides zugleich war, Integrations-wie Exklusionserzählung, und weil die Verfügung darüber im Herrschaftssystem der SBZ bzw. DDR ausschließlich in der Hand der Machthaber lag, war er -im Unterschied zu den Mythen des antifaschistischen Widerstands in Italien und Frankreich -immer auch ein Herrschaftsinstrument.

Grundlage der Vermittlung politischer Mythen ist, wie oben skizziert, der Unterricht in der Schule, wobei in der DDR dem Deutsch-und Geschichtsunterricht sowie der Staatsbürgerkunde eine besondere Bedeutung zukamen. In etwas vergröbernder Weise kann man festhalten, daß hierbei der Deutschunterricht darauf ausgelegt war, eine politisch nicht weiter differenzierte emotionale Bindung an den Antifaschismus zu vermitteln und Sympathien derjenigen zu wecken, die dem NS-Regime Widerstand geleistet hatten. Das erfolgte zunächst durch den Lektüreplan Als Beispiel hierfür kann die Erzählung „Kiki“ von Friedrich Wolf dienen, die sich seit den sechziger Jahren in nahezu allen Lesebüchern für die 6. Klasse findet. Erzählt wird darin das Schicksal eines kleinen Hundes, der Häftlingen eines nazistischen Straflagers zugelaufen ist. Während diese dem Hund von ihren schmalen Rationen etwas abgeben, wird er von den Aufsehern geschlagen, gequält und schließlich zu Tode gehetzt. Durch die Darstellung des Verhaltens gegenüber der hilflosen Kreatur werden Sympathien für die Antifaschisten geweckt, die sich später in politischen Optionen niederschlagen sollen. In höheren Klassen kam den Romanen „Das Siebte Kreuz“ (1939/42) von Anna Seghers und „Nackt unter Wölfen“ (1958) von Bruno Apitz eine ähnliche Funktion zu, in denen es um den nazistischen Terror in den KZs, Möglichkeiten des Widerstands, die Flucht und schließlich -bei Apitz -das heroische Agieren der Kommunisten in Buchenwald geht. Daß einige Autoren ihre Texte als Beiträge in den politischen Auseinandersetzungen begriffen haben, zeigt Anna Seghers’ Beschreibung der Aufgaben des Künstlers, wonach dieser „die Angriffspunkte ersinnen“ müsse, „von denen aus er die Mentalität der faschistischen Jugend von ungeheurem Wahn, von lügenhaften Vorstellungen, von totenstarrhafter Verkrampftheit in Herrschsucht und mechanischem Gehorsam befreien kann“. Dabei müsse die Literatur den einzelnen Menschen wieder „einsetzen mit seinen Gefühlen und Leidenschaften, mit seinen persönlichen Bindungen in der Liebe, der Freundschaft, der Familie“ Eine solche Bewußtheit über die politische Funktionalität literarischer Texte muß und kann aber keineswegs bei allen vorausgesetzt werden, die mit Erzählungen und Romanen zur Ausgestaltung des antifaschistischen Gründungsmythos beigetragen haben.

Ganz offenkundig hat die Vermittlung des Gründungsmythos der DDR über lange Zeit funktioniert und Wirkung gezeigt: „Ich konnte mir die Zeit des zwölfjährigen Reiches“, so erinnert sich Annette Simon, die Tochter von Christa und Gerhard Wolf, „nur als eine Zeit unsäglicher Greuel vorstellen. Das sehr früh angebotene sozial-ökonomische Erkiärungsmodell vom Faschismus als höchstentwickelter Form des Monopolkapitalismus 1 und die Projektion, daß diese Verbrecher nun alle im Westen Deutschlands lebten, boten dem Kind Entlastung... Die Geschichten von den gemordeten Antifaschisten waren die Heldensagen der DDR (die Ermordung von Millionen Juden war dabei meist nur ein Nebenthema), und die Überlebenden erfüllten deren Vermächtnis -schon deshalb mußten sie im Recht sein.“ Die Loyalitätsreduktion, wie sie oben als Funktion politischer Mythen beschrieben worden ist, ist hier, wie Simon es nennt, zur „Loyalitätsfalle“ geworden. Ganz ähnlich erinnert sich auch Annette Leo: „Die Helden meiner Kinderträume waren die Widerstandskämpfer. Allen voran natürlich mein Vater, der Partisan, der mit einer Pistole bewaffnet durch den Wald schlich, oder aus höchster Gefahr errettet wurde . . . Nicht nur zu Hause, auch in der Schule, wenn beim Morgenappell die Fahne hochgezogen und ein Spruch rezitiert wurde, bei Demonstrationen schwebten die Bilder der toten Helden über unseren Köpfen. Filme und Bücher handelten vom Kampf und Leidensweg Ernst Thälmanns, John Schehrs, Hans Beimiers.“

Annette Leos Erinnerungen zeigen das Wechselspiel zwischen den narrativen, ikonischen und rituellen Elementen der Vergegenwärtigung des antifaschistischen Gründungsmythos. Auf der Grundlage der Erzählungen vom antifaschistischen Widerstand wurden einzelne Personen herausgegriffen und zu Ikonen des Mythos verdichtet: an erster Stelle natürlich Ernst Thälmann, der im KZ Buchenwald gefangene und schließlich ermordete KPD-Vorsitzende. Er war die wichtigste Identifikationsfigur der DDR, der wichtigste Märtyrer des Sozialismus, der Gründervater der neuen Gesellschaft, und die nach ihm benannten Thälmannpioniere waren auf sein Vermächtnis verpflichtet. In ihnen lebte Thälmann fort oder, deutlicher noch, in ihnen war er wiedererstanden. Sein Leben und Sterben erlangte durch sie Sinn und Bedeutung; sie trugen seinen Namen als „heilige Verpflichtung“, sein Vermächtnis zu bewahren und zu verteidigen So lautete das Gelöbnis der Jungen Pioniere anläßlich der Verleihung des Ehrennamens Ernst Thälmann im Jahr 1952: „ Wir Jungen Pioniere, Söhne und Töchter des deutschen Volkes, geloben bei unserer Pionierehre unserem Präsidenten Wilhelm Pieck, daß wir uns stets des Namens Ernst Thälmanns würdig erweisen werden, der für das Glück unseres Vaterlandes gekämpft und dafür sein Leben gegeben hat. Das geloben wir! Alle: Das geloben wir! Wir geloben, daß wir im Kampffür die Errichtung eines einheitlichen, friedliebenden, demokratischen und unabhängigen Deutschland unsere Kraft einsetzen werden. Alle: Das geloben wir! Wir geloben, stets unerschrocken für den Sieg des Sozialismus in unserem Land einzutreten. Alle: Das geloben wir! Wir geloben, die Freundschaß mit der Sowjetunion zu pflegen und zu hüten so wie Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck. Alle: Das geloben wir! Wir versprechen, vorbildlich zu leben und zu lernen, um würdige Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik zu werden. Alle: Das geloben wir!“

Solche rituell-szenischen Vermittlungen des Gründungsmythos wurden ergänzt durch Denkmäler für Thälmann und entsprechende Straßenbenennungen durch die sein Name und seine Person im öffentlichen Bewußtsein präsent gehalten werden sollten. Thälmanns herausgehobene Bedeutung im Rahmen des DDR-Gründungsmythos zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Anlage des KZ Buchenwald, wo ihm ein eigenes Denkmal gewidmet wurde. Ganz wie Jesus Christus in der christlichen Ikonographie erscheint er hier seinen zur Trauerfeier versammelten Genossen und grüßt sie mit erhobener Faust: Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten in einem als Versprechen, daß allen Niederlagen und Demütigungen zum Trotz am Schluß die Kommunisten doch siegen würden. Die Existenz der DDR war die Bestätigung dieser Verheißung, und die mythisierte Figur Thälmanns war für die DDR so etwas wie eine heilsgeschichtliche Garantie.

IV. Nutzen und Preis des antifaschistischen Gründungsmythos für die DDR

Der Nutzen, den die DDR aus ihrem Gründungsmythos zog, lag, wie gezeigt, zunächst in der klaren Abgrenzung gegen die zurückliegende deutsche Geschichte, angesichts derer die Gründung der DDR sich als ein „Wendepunkt“ verstand. Gleichzeitig wurde die DDR durch ihre Legitimationserzählungen aber auch nicht völlig von der deutschen Geschichte abgetrennt, sondern mit deren „besten Traditionen“ von den Bauernkriegen bis zum antifaschistischen Widerstand verbunden. Vor allem aber diente der Gründungsmythos zur deutlichen Abgrenzung gegenüber der mit einem konkurrierenden Alleinvertretungsanspruch auftretenden Bundesrepublik im Westen und verlieh dem „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ eine eigene Legitimation, die ihn gegen den aus dem Westen sehr bald erhobenen Vorwurf, er sei ein Gebilde von Stalins Gnaden, in Schutz nehmen sollte. Im antifaschistischen Gründungsmythos wurden also auch -und das sollte nicht übersehen werden -eigene politische Gestaltungsansprüche gegenüber der Sowjetunion geltend gemacht. Die historisch sicherlich kaum haltbare Konstruktion von der Selbstbefreiung der Häftlinge des KZs Buchenwald und die entsprechende ikonische und rituelle Inszenierung dieser Selbstbefreiung in der künstlerischen Ausgestaltung der Gedenkstätte hatten nicht zuletzt auch diese Funktion Neben diesen Funktionen der narrativen Identitätsstiftung, die auf die DDR als Ganzes und in Kontrast zu anderen politischen Einheiten bezogen war, diente der antifaschistische Gründungsmythos aber immer auch als Herrschaftsinstrument der SED im Innern, generell zunächst in der Denunzierbarkeit der sogenannten „bürgerlichen Opposition“ als „faschistisch“ und speziell der Unterwerfung der 1946 mit der KPD zur SED (zwangs-) vereinigten Sozialdemokratie unter die Vorgaben der kommunistischen Führung. Zunächst aber ging es darum, vermittelst der Mythen des antifaschistischen Widerstands die Arbeiterklasse von dem Verdacht freizusprechen, sie sei zu nicht geringen Teilen zur NSDAP übergelaufen bzw. zumindest doch für nazistische Parolen empfänglich gewesen. Dies war um so mehr erforderlich, als sich die NSDAP ja explizit an die deutschen Arbeiter gewandt und gegen den internationalistischen Sozialismus den nationalen Sozialismus als Leitidee gesetzt hatte. Dies war -und ist -auch einer der Gründe dafür, daß in der politischen Auseinandersetzung nicht das Wort „Nationalsozialismus“, sondern der für Deutschland nicht zutreffende Begriff „Faschismus“ verwendet wird. Ferner hielt man an der von der KPD wie der SED übernommenen Faschismusdefinition Georgi Dimitroffs fest, daß der Faschismus allenfalls ein Täuschungsmanöver gewesen sei, denn in Wirklichkeit habe er ja die Interessen der reaktionärsten Kapitalfraktionen vertreten. Der Faschismus, so wurde die Dimitroff-Formel im Ge-schichtslehrbuch für die 9. Klasse variiert, „wurde im Interesse der reaktionärsten Kreise des Finanz-kapitals an die Macht gebracht, um die Arbeiterklasse und alle anderen Schichten des deutschen Volkes zu unterdrücken“

Aber nicht alle Schichten hätten um ihre objektiven Interessen gewußt; so sei es dem Faschismus durch Demagogie und falsche Versprechungen gelungen, bei vielen Bauern, Handwerkern, Geschäftsleuten, Beamten und Angestellten Einfluß und Anhänger zu gewinnen, nicht jedoch -oder allenfalls marginal -bei der Arbeiterklasse: „Ein umfassender Einbruch in die Arbeiterklasse gelang der Hitlerpartei nicht“, heißt es im Geschichtslehrbuch weiter Das war der entscheidende Punkt im antifaschistischen Gründungsmythos für das Selbstverständnis der DDR: Die Resistenz der Arbeiterklasse gegenüber der faschistischen Ideologie und der von ihr getragene Widerstand wurden nicht aus individuellen Haltungen, Werten und Einstellungen einzelner, sondern aus der sozio-ökonomischen Lage der Klasse und dem durch die Aufklärungsarbeit der Kommunisten vorhandenen Wissen um diese objektiven Interessen heraus erklärt. Damit aber wurden nicht nur zeitweilige taktische Bündnisse zwischen KPD und NSDAP -etwa beim Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932 -verschwiegen, sondern die politische Führung der Sozialdemokratie wurde zugleich verdächtigt, der NSDAP nicht energisch genug Widerstand geleistet zu haben und statt dessen der KPD in den Rücken gefallen zu sein. Dementsprechend wurde, wenn vom antifaschistischen Widerstand die Rede war, stets ein „vor allem die KPD“ oder „die KPD an der Spitze der deutschen Antifaschisten“ hinzugefügt

Demgegenüber unterschied man mit Blick auf die Sozialdemokratie zwischen der Masse der Mitglieder, für die die These von der Resistenz der Arbeiterklasse gegen die nazistische Versuchung geltend gemacht wurde, und einer „verräterischen Führung“. So heißt es von den sozialdemokratischen Führern -namentlich von Otto Wels und Theodor Leipart -, sie hätten sich geweigert, „gemeinsam mit der KPD den antifaschistischen Abwehr-kampf“ aufzunehmen. „Diese Führer waren voller Illusionen über den Faschismus und glaubten, daß die SPD und die Gewerkschaften weiter existieren könnten, während der Faschismus bald abwirtschaften würde. Viele Mitglieder der SPD und der Gewerkschaften sahen jedoch weiter als ihre Füh-rer. Sie erkannten, daß nur der gemeinsame Kampf dem Hitlerfaschismus eine Niederlage bereiten konnte.“

Die politische Relevanz dieser Feststellung lag darin, daß die Sozialdemokratie deswegen keinen Anspruch auf die Führungsrolle innerhalb der Einheitspartei der Arbeiterklasse erheben könne und die Überwindung der Spaltung der Arbeiterklasse durch die Vereinigung von SPD und KPD zur SED unter Führung der Kommunisten stattzufinden hatte. Nicht die Mitgliederzahl beider Parteien, die für die Sozialdemokratie den Ausschlag gegeben hätte sondern der antifaschistische Widerstand in der Zeit zwischen 1933 und 1935 und dann wieder seit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion -ausgespart blieben die Jahre 1931 und 1932 und insbesondere 1939 bis 1941, die Zeit des Hitler-Stalin-Pakts -sollte danach den Ausschlag geben. Gleichzeitig wurde die Niederlage der Arbeiterparteien mit der Spaltung der Arbeiterbewegung erklärt, so daß die Überwindung dieser Spaltung als das stärkste Bollwerk gegen das Wiedererstarken des Faschismus dargestellt werden konnte. So hieß es in dem 1977 veröffentlichten Lehrplan für die 10. Klasse: „Die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands war die größte Errungenschaft in der Geschichte der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes nach der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifestes und nach Gründung der KPD.“ Daß -im Unterschied zur DDR -in der Bundesrepublik die Arbeiterklasse politisch gespalten blieb und zeitweilig dort die Kommunistische Partei verboten war, war im DDR-Gründungsmythos ein weiterer Indikator für die dort fortbestehende Gefahr eines Wiedererstarkens des Faschismus.

Diesem Ertrag an politischer Legitimation stehen nicht unerhebliche Kosten an politischer Flexibilität gegenüber, die die Verpflichtung auf den antifaschistischen Gründungsmythos mit sich brachte. Heiner Müller hat dies so beschrieben: „Der verordnete Antifaschismus war ein Totenkult. Eine ganze Bevölkerung wurde zu Gefangenen der Toten. Durch den nachträglichen Gehorsam der überlebenden Besiegten gegenüber den siegreichen Toten der Gegenpartei, nach dem Modell Friedrichs des Zweiten, des einzigen Intellektuellen auf einem deutschen Thron, der nach seiner Zähmung ein wirklicher Soldatenkönig wurde, verloren die Toten des Antifaschismus ihre Aura. Die Replik auf die Konzentrationslager war , das sozialistische Lager 4. Es selektierte auch noch seine Toten.“ Einen Aspekt dessen, was Müller als „Totenkult“ bezeichnet, hat Annette Leo als „Prozeß der Vergleichgültigung“ beschrieben, in dessen Verlauf infolge hypertropher Inanspruchnahme die verpflichtende und motivierende Kraft des Gründungsmythos dahinschwand: „Die Erinnerung als Staatsdoktrin, die sich in feierlichen Reden, Gesängen, Kranzniederlegungen manifestierte, verlor nach und nach all ihre Lebendigkeit und Widersprüchlichkeit. Sie erstarrte zum Ritual, da ihre Überlieferung von wechselnden aktuellen Zweckmäßigkeiten bestimmt wurde.“ Als die Verfasser des Aufrufs „Für unser Land“ sich angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs der DDR noch einmal emphatisch auf den Gründungsmythos beriefen und aus ihm die Motivation für innere Reformen bei Beibehaltung des Weges der Eigenstaatlichkeit erwarteten, verhallte ihre Aufforderung weitgehend ungehört: „Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“ Zwar unterschrieben in den ersten zwei Wochen etwa 200000 Menschen den Aufruf aber das war eine verschwindend kleine Anzahl -verglichen mit denen, die sich von einer Vereinigung mit der Bundesrepublik nicht nur die Lösung der schweren wirtschaftlichen Probleme des Landes versprachen. Pointiert formuliert wird man sagen können, daß vom Spätherbst 1989 bis zum Frühjahr 1990 sich der bundesrepublikanische Gründungsmythos von Währungsreform und Wirtschaftswunder mitsamt den mit ihm verbundenen Prosperitätsversprechen in der Optionswahrnehmung der DDR-Bevölkerung entscheidend hat durchsetzen können und daß nach dessen Vorgaben anschließend der Vereinigungsprozeß politisch-operativ organisiert worden ist: erst Währungsunion, dann blühende Landschaften. Die Reduktionen von Kontingenz, Komplexität und Loyalität, als die die Aufgaben politischer Mythen beschrieben worden sind, wurden vom antifaschistischen Gründungsmythos nicht mehr geleistet, weil aus der Erzählung über die Vergangenheit kein Vertrauen in die eigene Fähigkeit zur Bewältigung der Zukunft mehr erwuchs. Dabei spielte zweifellos auch eine Rolle, daß in dem von Heiner Müller umrissenen Sinn aus dem antifaschistischen Gründungsmythos Blickfeldverengungen und -beschränkungen erwuchsen, die lange vor dem politisch-ökonomischen Zusammenbruch der DDR zu einem inneren Immobilismus geführt haben, der den Staat immer mehr in innerer Agonie erstarren ließ. Dazu gehörte vor allem die Unfähigkeit zur Auswechslung der politischen Führung, als diese erkennbar keine Antworten mehr auf die deutlichen Krisensignale geben konnte. Diese Unfähigkeit war nicht zuletzt das Resultat dessen, daß jede zu Honecker und seinen Gefolgsleuten denkbare Alternative aus Personen hätte bestehen müssen, die ihre politische Prägung nicht mehr in der Zeit des antifaschistischen Widerstands, sondern bereits in der DDR erfahren hatten. Der neue Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende hätte die charismatische Legitimation des antifaschistischen Widerstands nicht mehr gehabt, und vor diesem politisch-legitimatorischen Wechsel scheute man so lange zurück, bis man bemerkte, daß diese charismatische Legitimation längst keine mehr war.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zitiert nach Klaus Ullrich/Peter Seifert/Brigitte Müller/Horst Sauer, Deutsche Demokratische Republik, Leipzig 1989, S. 21.

  2. Walter Ulbricht, Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehren von Karl Marx für unsere Zeit, Berlin (DDR) 1968. S. 41; zit. in: Lehrbuch Geschichte, Klasse 9, Berlin (DDR) 1970, S. 159. Es handelt sich bei dem Ulbricht-Zitat um eine Variation der Faschismusdefinition, die Georgi Dimitroff in

  3. So hatte Otto Grotewohl einen Monat vor Gründung der DDR erklärt: „Das eigentliche Deutschland [ist} die sowjetische Besatzungszone. Darum handelt es sich [bei der Gründung der DDR] nicht um eine ostdeutsche Staaten-bildung oder um eine ostdeutsche Regierung, sondern um eine Regierung für Gesamtdeutschland.“ Zit. nach Matthias Judt, Deutschland-und Außenpolitik; in: ders. (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1997, S. 493.

  4. Herausgeberkollektiv K. Ullrich u. a. (Anm. 1), S. 22: zum Antifaschismus als Begriff und Mythos vgl. Antonia Grunenberg, Antifaschismus -ein deutscher Mythos, Reinbek 1993, sowie dies., Anti-Faschismus und politische Gegenwelten, in: Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, hrsg. von Jürgen W. Falter u. a., Opladen 1996 (= PVS-Sonderheft 27/1996), S. 502-513.

  5. Herausgeberkollektiv K. Ullrich u. a. (Anm. 1), S. 23.

  6. Zusammenfassend ist hier auf folgende einschlägige Arbeiten hinzuweisen: Manfred Wilke, Antifaschismus als Legitimation staatlicher Herrschaft in der DDR, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Bedeutung und Funktion des Antifaschismus, Bonn 1990, S. 52-64; Sigrid Meuschel, Antifaschistischer Stalinismus, in: Brigitte Rauschenbach (Hrsg.), Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Zur Psychoanalyse deutscher Wenden, Berlin 1992, S. 163-171; Wilfried Schuberth/Thomas Schmidt, „Sieger der Geschichte“. Verordneter Antifaschismus und die Folgen, in: Karl-Heinz Heinemann/Wilfried Schuberth (Hrsg.), Der antifaschistische Staat entläßt seine Kinder. Berlin 1992, S. 12-28.

  7. An Friedrich Engels anknüpfend, diese Anknüpfung aber deutlich überzeichnend, hat Alfred Meusel 1952 den Begriff „frühbürgerliche Revolution“ geprägt, in dem er Reformation und Bauernkrieg zu einem „einheitlichen revolutionären Prozeß“ zusammenfaßte; vgl. Alfred Meusel, Thomas Müntzer und seine Zeit, Berlin (DDR) 1952, S. 41. So wurde es schließlich auch möglich, dem zunächst geschmähten Luther einen prominenten Platz in der Vorgeschichte der DDR anzuweisen; vgl. Jan Hermann Brinks, Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit. Luther, Friedrich II und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels, Frankfurt/M. 1992, S. 149 ff.

  8. Herausgeberkollektiv K. Ullrich u. a. (Anm. 1), S. 22.

  9. Die Befreiungskriege hatten bereits im Gründungsmanifest des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ eine bedeutende Rolle gespielt (vgl. Gerd Ueberschär [Hrsg. ], Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund deutscher Offiziere, Frankfurt/M. 1995, S. 268) und waren insofern mit dem Gründungsmythos des antifaschistischen Widerstands gut zu verknüpfen.

  10. Vgl. hierzu Harald Bluhm, Befreiungskriege und Preußenrenaissance in der DDR, in: Rudolf Speth/Edgar Wolf-rum (Hrsg.), Politische Mythen und Geschichtspolitik, Berlin 1996, S. 71-95, sowie ders., Zur Ikonographie und Bedeutung von Darstellungen der Befreiungskriege 1813/1814 in der Staatsrepräsentation der DDR; in: Dieter Vorsteher (Hrsg.), Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Rituale und Symbole der frühen DDR. Berlin 1996, S. 162-174.

  11. Einen Überblick zum französischen, deutschen sowie mitteleuropäischen Raum bietet Frantisek Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln -Wien 1985.

  12. Die Formel vom „Wendepunkt in der Geschichte“ stammt zwar von Stalin selbst (vgl. Hermann Weber, Die DDR 1945-1990, München 1993, S. 28), aber in der soge-nannten „Stalin-Note“ vom 10. März 1952 hat Stalin auch gezeigt, daß die sowjetische Politik andere Ziele verfolgen konnte als die Sicherung des Fortbestandes der DDR. Dem hohen Maß an politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion entsprach die -berechtigte -Angst der Führung, die Sowjetunion könne sich dieser Last einmal entledigen wollen. Das war 1990 der Fall.

  13. Vgl. etwa Herfried Münkler/Wolfgang Storch, Sieg -Frieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1987; Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr, Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918, München 1991; Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: Zur Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen, Reinbek 1996.

  14. Dagegen läßt sich einwenden, dies sei bloß Scheinpartizipation; aber im politischen Bereich läßt sich die Trennlinie zwischen scheinbarer und tatsächlicher Partizipation nur sehr schwer ziehen, weswegen sie oft selbst Gegenstand politischer Kontroversen ist. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß die DDR ein Geheimhaltungsstaat mit teilweise paranoiden Zügen war und daß die Partizipation der Intellektuellen durch die Filter der Zensur mußte; vgl. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998, S. 135-162.

  15. Es kommt wohl nicht von ungefähr, daß sich Carl Schmitt, der die Formel von der Unterscheidung zwischen Freund und Feind als Kriterium des Politischen geprägt hat („Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen [1932], Berlin 1963, S. 26), auch für die Fragen des politischen Mythos interessiert hat. Vgl. Carl Schmitt, Die politische Theorie des Mythos (1923), in: ders., Positionen und Begriffe, Berlin 1988, S. 9-18.

  16. So wird in diesem Mythos etwa der große Anteil der Amerikaner an der Währungsreform „wegerzählt“, und die Prosperitätsphase wird mit der Währungsreform unmittelbar verknüpft, was vom Zeitablauf her unrichtig ist; vgl. Dieter Haselbach, „Soziale Marktwirtschaft“ als Gründungsmythos. Zur Identitätsbildung im Nachkriegsdeutschland; in: Claudia Mayer-Iswandy (Hrsg.), Zwischen Traum und Trauma -die Nation, Tübingen 1994, S. 255-266, sowie Volker Hentschel. Ludwig Erhard, die „soziale Marktwirtschaft“ und das Wirtschaftswunder. Historisches Lehrstück oder Mythos?, Bonn 1988.

  17. Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses, das etwas anderes ist als die Summe der individuellen Gedächtnisse eines Sozialverbandes, wurde geprägt von Maurice Halbwachs; vgl.ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M. 1985.

  18. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 52.

  19. Ebd. S. 52 und 54.

  20. Die wichtigste Gestalt war hier Hans Beimier, der Politkommissar der 11. Internationalen Brigade, der 1936 bei den Kämpfen um Madrid unter ungeklärten Umständen ums Leben kam.

  21. Vgl. Herfried Münkler, Das kollektive Gedächtnis der DDR, in: D. Vorsteher (Anm. 10), S. 458-468; grundsätzlich dazu auch Peter Steinbach, Die Vergegenwärtigung von Vergangenem. Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erneuerung und öffentlichem Gedenken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3-4/97, S. 3-13.

  22. Gerade dem Film ist bei der Vermittlung des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR eine zentrale Funktion zugekommen; vgl. dazu jetzt Detlef Kannapin, Dialektik der Bilder. Über den Umgang mit der NS-Vergangenheit im deutschen Film nach 1945 -Methoden und Analysekriterien, in: Wilhelm Hofmann (Hrsg.), Visuelle Politik. Filmpolitik und die visuelle Konstruktion des Politischen, Baden-Baden 1998, S. 220-240; Sandra Langenhahn, Zur politischen Ikonographie des DEFA-Films am Beispiel der Produktionen zu Ernst Thälmann, in: ebd., S. 267-280, sowie dies., Ursprünge und Ausformung des Thälmannkults. Die DEFA-Filme „Sohn seiner Klasse“ und „Führer seiner Klasse“, in: Leit-und Feindbilder in DDR-Medien, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 55-65; grundsätzlich dazu auch Rainer Rother (Hrsg.), Mythen der Nationen. Völker im Film, München -Berlin 1998 (Begleitband zu einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum).

  23. Vgl. M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Max Heller u. a. (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1989. S. 247 ff.

  24. Vgl. Richard Saage, Faschismustheorien; München 19972, S. 32 ff.

  25. So heißt es in dem bereits zitierten Jubiläumsband zum 40. Jahrestag der DDR dazu: „ 520000 ehemalige Angehörige der Nazipartei wurden aus öffentlichen Ämtern entlassen. Allein bis 1950 sind über 10000 Personen, die der Kriegsverbrechen und Vergehen gegen die Menschlichkeit überführt waren, abgeurteilt worden. 7136 Großgrundbesitzer und 4112 Kriegsverbrecher wurden -den Bestimmungen des gesetzlich rechtsverbindlichen Potsdamer Abkommens folgend -entschädigungslos enteignet.“ (Herausgeberkollektiv K. Ullrich [Anm. 1], S. 24). Insgesamt dürften in der SBZ bzw. DDR knapp drei Prozent der Gesamtbevölkerung von Entnazifizierungsverfahren direkt betroffen gewesen sein, also etwa jedes achte Mitglied der NSDAP und ihrer Gliederungen; vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998, S. 66ff. Verglichen mit den Westzonen war damit ein ungleich höherer Anteil von NS-Verantwortlichen bestraft worden, und die Strafen waren zudem erheblich schwerer als im Westen; vgl. hierzu die exemplarische Untersuchung von Barbara Fait, Die Kreisleiter der NSDAP -nach 1945, in: Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, hrsg. von Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller, München 1988, S. 213-299; sowie Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

  26. Vgl. hierzu Helga A. Welsh, „Antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ und politische Säuberung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 84-107.

  27. Vgl. Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996, S. 100 ff.; zur westdeutschen Erinnerung des Holocaust im Vergleich zu dessen Bearbeitung in Israel vgl. Moshe Zuckermann, Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998. Eine polemisch-engagierte Auseinandersetzung mit der in der DDR unterbliebenen Beschäftigung mit dem Mord an den Juden bietet Michael Wolffsohn, Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden, München 1995.

  28. Stephan Hermlin. Wo sind wir zuhause? Gespräch mit Klaus Wagenbach, Frühjahr 1979, in: ders., In den Kämpfen dieser Zeit, Berlin 1995, S. 28. Daß Hermlin seine eigene Vita dem Gründungsmythos der DDR angepaßt hat, um auch bei den Siegern der Geschichte zu sein, legt das von Carl Corino veröffentlichte Material nahe; vgl. Carl Corino, „Außen Marmor, innen Gips“. Die Legenden des Stephan Hermlin, Düsseldorf 1996.

  29. Bernd Faulenbach, Zur Funktion des Antifaschismus in der SBZ/DDR, in: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft. Ausgewählte Dokumente, Zeitzeugenberichte und Diskussionen der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ des Deutschen Bundestags 1992-1994 in vier Bänden, hrsg. von Ingrun Drechsler u. a., München 1997, Bd. 1, S. 149.

  30. Vgl. hierzu auch B. Faulenbach, ebd., S. 151 f.; Faulen-bach erschwert sich freilich selbst den Zugang zur politischen Attraktivität des Antifaschismus auch für viele, die dem SED-Staat ansonsten skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, indem er den Gründungsmythos ausschließlich als Ideologie begreift und dementsprechend vor allem seine herrschaftsstrategische Funktion herausstellt.

  31. Die Diskrepanzen, die zur offiziellen Erinnerungskultur entstanden, wenn die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in der persönlichen Erinnerung revoziert wurde, zeigen gleichzeitig Stärke wie Schwäche des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR: Es war klar, daß er in seiner offiziellen Form kaum der historischen Wahrheit entsprechen konnte, aber gleichzeitig erlaubte er, dieser unangenehmen Wahrheit auszuweichen. In dieser Hinsicht zumindest hat der antifaschistische Gründungsmythos der DDR sozial-wie individualpsychologisch dieselbe Funktion gehabt wie die lange Zeit vorherrschende Praxis des Verdrängens und Beschweigens im Westen.

  32. Vgl. Günter Fippel, Verfolgte des Nationalsozialismus und des Stalinismus, in: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft (Anm. 29), S. 154-162.

  33. Die Mythisierung der Resistenza bzw.der Resistence hat in beiden Ländern in ähnlicher Weise zur Bereinigung des kollektiven Gedächtnisses gedient und die eigene Involviertheit in die nationalsozialistische Schreckensherrschaft in Europa marginalisiert. So war es in Italien nach brutalen Abrechnungsaktionen im Rahmen des Partisanenkrieges in Oberitalien schon 1946 unter Mitwirkung der Kommunisten zu einer Amnestie gekommen, die den „kleinen Faschisten“ die Rückkehr ins bürgerliche Leben ermöglichte (vgl. Hans Woller,„Ausgebliebene Säuberung“? Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien, in: K. -D. Henke/H. Woller [Anm. 26], S. 148-191, insbes. S. 180 ff.). Die mit den „Säuberungsmaßnahmen“ in Frankreich verbundene Funktion der „Wiederherstellung einer nationalen Identität“ hebt Rousso hervor (Henry Rousso, L’Epuration. Die politischen Säuberungen in Frankreich, in: ebd., S. 192-240, insbes. S. 238f.). Die Bedeutung der „antifaschistischen Lebenslügen“ (Altwegg) für die politische Kultur der Nachkriegszeit in beiden Ländern ist in den Debatten der letzten zehn Jahre in den Blick gekommen; vgl. dazu jetzt Jürg Altwegg, Die langen Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des Verdrängten, München 1998; zur Kollaboration in Frankreich vgl. Gerhard Hirschfeld/Patrick Marsh (Hrsg.), Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940-1944, Frankfurt/M. 1991.

  34. Zur Entwicklung der Literatur in SBZ und DDR im Hinblick auf den antifaschistischen Gründungsmythos vgl. Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996, S. 70 ff.; die Einbeziehung anerkannter literarischer Werke in die Analyse der Selbstauslegung einer Gesellschaft ist möglich auf der Grundlage ihrer Konzeptualisierung als politischer Mythos, während das Ideologiekonzept auf den Nachweis der Auftragsarbeit gemäß politischen Direktiven angewiesen ist; vgl. dazu auch Wolfgang Emmerich, Selektive Erinnerung. Selbstbegründungsmythen der literarischen Intelligenz in Ost und West nach 1945, in: Orientierung, Gesellschaft, Erinnerung. Rostocker Philosoph. Manuskripte (1997), S. 95-114, insbes. S. 105 ff.

  35. Anna Seghers’ Werk, insbesondere „Das Siebte Kreuz“, war im Westen nach 1948/49 Gegenstand heftiger Kritik und Angriffe; sie sind dargestellt bei Alexander Stephan, Anna Seghers’ Das Siebte Kreuz. Welt und Wirken eines Romans, Berlin 1997, S. 283 ff.; Stephan notiert diese Kritik jedoch verständnislos, weil er die Funktion des Romans in der Konfrontation der politischen Gründungsmythen nicht zur nimmt. Kenntnis

  36. Auch gegen Apitz’ Roman wurde im Westen polemisiert; so warf ihm ein Rezensent u. a. vor, „eine rührselige Geschichte mit Lesebuch-Didaktik“ geschrieben zu haben (zit. nach W. Emmerich [Anm. 34], S. 135); auch hierbei spielte die gründungsmythische Dimension des Romans eine entscheidende Rolle. Die Situation der Schriftsteller in der SBZ und DDR beschreibt Günter de Bruyn rückblickend so: „Über Krieg und Nachkrieg zu schreiben, war in den fünfziger und sechziger Jahren, wenn man gedruckt werden wollte, nur mit Verschweigen und Lügen möglich; denn alles, was uns in diesen Jahren Angst gemacht hatte, war tabuisiert. Kein Sowjetsoldat durfte geplündert und vergewaltigt haben, kein nach dem Krieg Internierter durfte in Buchenwald, Ketschendorf oder in Sibirien verendet sein. Von den deutschen Offizieren, die von den Amerikanern in die sowjetisch besetzte Zone entlassen und von den Russen sofort wieder gefangen und abtransportiert wurden, durfte genauso wenig verlauten wie von den Opfern der Bodenreform und der Bauernvertreibung, von den Justizmorden in Waldheim, von der sogenannten Aktion Rose, die den Hotelbesitzern an der Küste gegolten hatte, oder von den hohen Gefängnisstrafen für kritische Worte oder einem politischen Witz. So viel, wie ich heute weiß, wußte ich damals noch nicht, aber nichts war mir gänzlich verborgen geblieben . . . Man war gut trainiert aufs Verschweigen, denn gefährlich war auch das Reden darüber, was Hetze genannt wurde und bestraft werden konnte. Man behielt besser für sich, was man wußte, und da es noch besser war, davon gar nichts zu wissen, galt die Nichtbeachtung des Schweigegebots bald als ungehörig. Zwang wurde zur Konvention.“ Günter de Bruyn, Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, Frankfurt/M. 1996, S. 117.

  37. Zit. nach W. Emmerich (Anm. 34), S. 88.

  38. Annette Simon, Antifaschismus als Loyalitätsfalle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Febr. 1993; vgl. auch das zusammenfassende Urteil von Günther Rüther: „Die stärkste Bindung der DDR-Literatur an ihren Staat bewirkte die sogenannte antifaschistische demokratische Umwälzung.“ Und über die Mehrzahl der Autoren im Juni 1953: „An der DDR als antifaschistischem Staat wollten sie festhalten, aber den stalinistischen Kulturbetrieb überwinden.“ Günther Rüther, Nur „ein Tanz in Ketten“? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung und Selbstbehauptung, in: ders. (Hrsg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn u. a. 1997, S. 249-282, hier S. 252 f.

  39. Annette Leo, Die Helden erinnern sich, in: Die wiedergefundene Erinnerung. Verdrängte Geschichte in Osteuropa, Berlin 1992, S. 159 f.

  40. In der Bezeichnung „Thälmann-Pioniere“ wurde zugleich ein Bezug zu den Spanienkämpfern hergestellt: Die 11. Internationale Brigade trug ebenfalls den Namen „Ernst Thälmann“.

  41. Zit. nach Ulrich Mählert/Gerd-Rüdiger Stephan, Blaue Hemden -Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, S. 65 (Faksimile der Pionier-zeitung für das I. Pioniertreffen, Dresden 1952).

  42. Vgl. Maoz Azaryahu, Vom Wilhelmplatz zum Thälmannplatz. Politische Symbole im öffentlichen Leben der DDR, Tel Aviv 1991, S. 151 ff.

  43. Vgl. die knappe Darstellung bei James E. Young, Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997, S. 115-125; zur Rolle der inhaftierten Kommunisten in der Lagerorganisation sowie bei der „Selbstbefreiung“ vgl. Lutz Niethammer, Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994, S. 24-67; vgl. hierzu auch die Berichte von Buchenwald-Häftlingen über die Vorgänge zwischen dem 1. und 12. April, in: Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, hrsg. von David A. Hackett, München 1996, S. 358-377.

  44. Als Beispiel sei auf die Verhaftung mehrerer der CDU angehörender Studenten der Berliner Universität unter dem Vorwurf „geheimer faschistischer Tätigkeit“ hingewiesen. Mehrere der Verhafteten hatten sich vor 1945 aktiv am Widerstand gegen Hitler beteiligt; vgl. U. Mählert/G. -R. Stephan (Anm. 41), S. 56 ff., sowie G. Fippel (Anm. 32), S. 153 ff.; zur Bedeutung der „Einheitsfront antifaschistisch-demokratischer Parteien“, des sog. „Antifa-Blocks“, als Instrument, eine bürgerliche Mehrheit in der SBZ zu brechen, vgl. Ehrhardt Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997, S. 43 ff.

  45. Aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Republik und der Niederlage gegen den Nationalsozialismus waren zahlreiche Sozialdemokraten nach Kriegsende zunächst für eine „Wieder“ -Vereinigung beider Arbeiterparteien. Als aber schon bald klar wurde, daß die KPD keineswegs an einer gleichberechtigten Zusammenarbeit interessiert war, sondern ihren politischen Führungsanspruch mit allen Mitteln durchzusetzen gedachte, entstand in der SBZ eine entschiedene Opposition gegen die von Otto Grotewohl betriebene Vereinigungspolitik. Diese Opposition wurde mit Druck (Vorladungen, Verhaftungen) wie Gratifikationen (Aussicht auf Ämter und Positionen) gebrochen; die Vereinigung war kein nur erzwungener Schritt, aber freiwillig war er auch keineswegs, und wo, wie in Berlin, über ihn in der Mitgliedschaft der SPD abgestimmt wurde, fand er keine Mehrheit; vgl. Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung der Einheitspartei, Bonn 19902.

  46. Lehrbuch Geschichte. Klasse 9 (Anm. 2), S. 159.

  47. Ebd., S. 136.

  48. Ebd., S. 49, 127.

  49. Ebd., S. 147; Bezug genommen wird hier auf die Politik beider Parteien nach dem 30. Januar 1933.

  50. Im Oktober 1945 hatte die KPD ca. 248 900 Mitglieder, die SPD dagegen 302400; vgl. Art. „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ in: Rainer Eppelmann u. a. (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, Paderborn -München 1996, S. 534.

  51. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Volksbildung, Lehrplan Geschichte, Klasse 10, Berlin (DDR), S. 18.

  52. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 364.

  53. A. Leo (Anm. 39), S. 160

  54. Zit. nach Charles Schüddekopf (Hrsg.), „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Reinbek 1990, S. 240 f.

  55. Vgl. K. Schroeder (Anm. 25), S. 351.

Weitere Inhalte

Herfried Münkler, Dr. phil., geb. 1951; Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 1984; (Hrsg. zus. mit Iring Fetscher) Handbuch der politischen Ideen, 5 Bde., München 1985 ff.; Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt/M. 1992; Reich -Nation -Europa. Modelle der politischen Ordnung, Weinheim 1996; (Hrsg.) Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch, München 19972; (zus. mit Hans Grünberger und Kathrin Mayer) Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller, Berlin 1998.