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Digitalwüste Deutschland? | Digitale Gesellschaft | bpb.de

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Digitalwüste Deutschland? Digitalisierungsstand im internationalen Vergleich

Bettina Distel

/ 7 Minuten zu lesen

Bei der Beurteilung des Digitalisierungsstands kann ein Blick auf andere Länder helfen. Wichtig ist, Kontextfaktoren zu berücksichtigen und dafür zu sorgen, dass digitale Transformation kontinuierlich begleitet und gestaltet wird und nicht zu mehr Ungleichheit in der Gesellschaft führt.

Der Begriff der Digitalisierung bezieht sich einerseits auf die Umsetzung analoger Daten und Informationen in digitale Formate und andererseits auf die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse, die durch den Einsatz digitaler Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) entstehen. Oftmals wird Deutschland in beiden Bedeutungsbereichen der Status eines "digitalen Entwicklungslandes" attestiert, und die Coronapandemie scheint ihr Übriges geleistet und die Missstände noch schonungsloser offengelegt zu haben. Steckt Deutschland also mitten in einer digitalen Krise? Immerhin stehen den negativen Lesarten des Status quo umfangreiche Digitalisierungsprogramme und -strategien auf allen föderalen Ebenen gegenüber, die zum Teil auch mit erheblichen finanziellen Ressourcen verbunden sind. Derzeit wird zum Beispiel die Umsetzung des sogenannten Onlinezugangsgesetzes mit Mitteln in Höhe von 3 Milliarden Euro gefördert; die Hälfte dieser Gelder steht den Bundesländern zur Verfügung, ein Fünftel wird in den Ausbau digitaler Infrastrukturen investiert.

Im Folgenden wird zunächst der Ausbau der digitalen Infrastruktur sowie der Stand der Digitalisierung in Deutschland in den drei zentralen Bereichen Wirtschaft, Schulbildung und Verwaltung analysiert. Anschließend widmen wir uns drei ausgewählten Faktoren, die den Digitalisierungsgrad eines Landes entscheidend beeinflussen.

Digitalisierung Deutschlands im internationalen Vergleich

Die digitale Infrastruktur bildet die Basis für jedes Digitalisierungsvorhaben und bestimmt den Raum der Entwicklungsmöglichkeiten auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene. Sie umfasst zum einen die grundlegenden informationstechnischen Strukturen wie Breitband- und Mobilfunknetze. Ohne tragfähige, stabile und sichere Netzwerke ist Digitalisierung in vielen Bereichen nicht denkbar. So benennt etwa der E-Government Development Index der Vereinten Nationen die Telekommunikationsinfrastruktur als eine zentrale Dimension für die Bereitstellung elektronischer Dienstleistungen, hier Verwaltungsdienstleistungen. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland in diesem Bereich gut ab und steht in der aktuellen Fassung des Berichts immerhin auf Platz 21, im europäischen Vergleich auf Platz 14, hinter Ländern wie Liechtenstein, Dänemark und Island. 2020 verfügten 92 Prozent der deutschen Haushalte über einen Festnetz-Breitbandanschluss, während es im EU-weiten Durchschnitt 77 Prozent waren. Die Abdeckung des 4G-Netzes lag sogar bei 99,7 Prozent, die Abdeckung von "Very High Capacity Networks", also Netzwerken mit besonders hoher Kapazität wie Glasfasernetze, lag bei immerhin 56 Prozent Verfügbarkeit für Privathaushalte. Deutschland steht im Bereich der technischen Infrastruktur insgesamt gut da, allerdings besteht ein erheblicher Unterschied zwischen Stadt und Land: Nur 81 Prozent der Haushalte im ländlichen Raum verfügen über einen Festnetz-Breitbandanschluss. Obwohl dies eine Steigerung um 6 Prozentpunkte seit 2019 bedeutet, bleibt also ein erheblicher Unterschied zwischen Stadt und Land im Zugang zu digitalen Infrastrukturen bestehen.

In der Forschungsliteratur werden Beobachtungen dieser Art auch als "digitale Spaltung" bezeichnet, die häufig mit weiteren Faktoren wie ökonomischen Ressourcen, Alter, Geschlecht oder Bildung einhergeht. Obwohl gerade in wirtschaftlich hochentwickelten Staaten diese Spaltung allgemein abnimmt, bleibt sie für Deutschland ein relevantes Problem: So zeigt zum Beispiel der sogenannte Breitbandatlas, dass es nach wie vor, und insbesondere auf dem Land, Regionen mit nur geringer Breitbandverfügbarkeit gibt. Während in städtischen Räumen mehr als 98 Prozent aller Privathaushalte Zugang zu Anschlüssen mit einer Bandbreite von ≥50 Mbit/s haben, sind dies in ländlichen Räumen nur 82,8 Prozent. Noch größer ist die Differenz für Anschlüsse mit einer Bandbreite von ≥1.000 Mbit/s, mit einer Verfügbarkeit für 78,4 Prozent aller Haushalte in Städten und nur 22,9 Prozent in ländlichen Räumen.

Digitale Infrastruktur hat aber auch eine soziale Dimension und umfasst daher zum anderen strukturelle Rahmenbedingungen, wie etwa die nationale oder organisationale Kultur und die Kompetenzen im Umgang mit digitaler Technik. "Es reicht nicht aus, einen Internetanschluss zu haben und das Internet zu nutzen; um die Vorteile der digitalen Gesellschaft nutzen zu können, müssen auch die entsprechenden Fähigkeiten vorhanden sein", heißt es im aktuellen Digital Economy and Society Index, einem seit 2014 regelmäßig erscheinenden Bericht der Europäischen Kommission, der die Entwicklung der Digitalisierung in der Europäischen Union bewertet. Erfasst wird hier unter anderem der Anteil der Bürger*innen mit mindestens grundlegenden sowie erweiterten digitalen Kompetenzen, der Anteil IKT-Spezialist*innen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen oder der Anteil der Unternehmen, die gezielt digitale Kompetenzen fördern. Hier liegt Deutschland im EU-weiten Vergleich im vorderen Mittelfeld auf Platz 7: 70 Prozent aller Bürger*innen verfügen über zumindest grundlegende digitale Kompetenzen, 39 Prozent über erweiterte Kompetenzen. Auch der Anteil der IKT-Spezialist*innen an der Gesamtzahl aller Erwerbstätigen liegt mit 4,7 Prozent über dem Durchschnitt. Doch die digitale Spaltung, die sich bereits in der Zugänglichkeit technischer Infrastrukturen bemerkbar machte, setzt sich auch hier fort. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Bürger*innen mit einem niedrigen Bildungsgrad sowohl das Internet im Allgemeinen als auch zentrale digitale Angebote (etwa E-Learning-Angebote oder die Online-Beteiligung an demokratischen Verfahren) im EU-weiten Vergleich unterdurchschnittlich oft nutzen, während Bürger*innen mit einem hohen formalen Bildungsgrad dies überdurchschnittlich häufig tun. Wenngleich die Bevölkerung also insgesamt über hohe digitale Kompetenzen verfügt und daher befähigt ist, die digitale Infrastruktur zu ihren Gunsten zu nutzen, gilt dies nicht für alle Teile der Bevölkerung im gleichen Maße. Digitale Spaltungen verlaufen in Deutschland also sowohl entlang der Zugänglichkeit digitaler Infrastrukturen als auch entlang ihrer Nutzbarkeit für verschiedene Bevölkerungsgruppen.

Wirtschaft

Wie die vorhandene digitale Infrastruktur genutzt wird, wie also die technischen Netzwerke und digitalen Kompetenzen ausgeschöpft werden, bestimmt weitgehend den Grad der Digitalisierung von Unternehmen und anderen Organisationen – und damit zunehmend die Wettbewerbsfähigkeit eines Wirtschaftsstandortes. Trotz des voranschreitenden Ausbaus digitaler Infrastruktur in Deutschland liegt ihre Nutzung in deutschen Unternehmen häufig unter dem EU-weiten Durchschnitt. Nur 29 Prozent aller Unternehmen in Deutschland teilen ihre Daten und Informationen elektronisch, im EU-weiten Vergleich sind es 36 Prozent. Elektronische Rechnungen stellen nur 18 Prozent der deutschen Unternehmen aus, gegenüber 32 Prozent aller Unternehmen in Europa. Zwar liegt die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (28 Prozent) und Big Data (18 Prozent) leicht über dem Durchschnitt, doch legt eine aktuelle Studie nahe, dass der Grad der Digitalisierung, Robotisierung und Automatisierung in Deutschland noch immer gegenüber anderen EU-Staaten abfällt. Berücksichtigt wurden in der Auswertung nicht nur die Nutzung relevanter digitaler Technologien (3D-Druck, Robotics, Cloud Computing) durch Unternehmen, sondern auch die Anwendung von Big-Data-Analysen, die Unterstützung betrieblicher Prozesse durch Software, die Bereitstellung elektronischer Rechnungen sowie Aspekte der digitalen Infrastruktur. Insgesamt bewegt sich Deutschland auch hier wieder im Mittelfeld, doch zeigt die Analyse, dass gerade kleine und mittlere Unternehmen schlechter abschneiden. Auch im weiteren internationalen Vergleich bleibt der Grad der Digitalisierung in Deutschland hinter anderen Ländern wie Singapur, Finnland, Dänemark und Südkorea zurück. Mehr noch, die Digitalisierung der Wirtschaft scheint an Dynamik zu verlieren.

Schule und Bildung

Trotz des Ausbaus digitaler Infrastrukturen verfügten 2018 nur zwischen 19 (Grundschulen) und 34 Prozent der Schulen (weiterführende Schulen und Gymnasien) über Glasfaseranschlüsse, über WLAN verfügte knapp die Hälfte der Schulen. In anderen Ländern wie Finnland, Estland und Dänemark liegen diese Werte deutlich höher – zwischen 70 und 100 Prozent. Auch der Zustand der verfügbaren digitalen Infrastruktur liegt in deutschen Schulen nur im Mittelfeld der EU-Länder: Über schuleigene E-Mail-Adressen verfügte etwa ein Viertel der Schüler*innen – in Schweden, dem Spitzenreiter in dieser Hinsicht, waren es zwischen 91 und 97 Prozent der Schüler*innen weiterführender Schulen.

In kaum einem Bereich scheint die Coronapandemie deutlicher die Digitalisierungsrückstände aufgezeigt zu haben als im Bildungssektor. So zeigen die Ergebnisse des eGovernment Monitor 2021, dass "[eine] deutliche Mehrheit der Eltern [zwar angibt], dass ihre Kinder digitalen Schulunterricht bzw. Lernangebote wahrgenommen haben (…). Zufrieden war aber nicht einmal die Hälfte der Eltern damit. Die größten Hürden stellten Probleme mit der Internetverbindung und mangelnde Digitalkompetenzen bei den Lehrkräften dar". In diesem Bereich kommt die digitale Spaltung besonders deutlich zum Tragen. Während Schüler*innen aus einkommensstarken Haushalten (>5.000€/Monat) 2021 im Schnitt drei Geräte zur Teilnahme am digitalen Unterricht zur Verfügung standen, gab es in einkommensschwachen Haushalten (<2.000€/Monat) nur ein Gerät. 8 Prozent dieser Haushalte verfügten über gar kein Gerät (in einkommensstarken Haushalten: 1 Prozent). Auch zeigen die Ergebnisse, dass in Haushalten mit geringeren finanziellen Ressourcen zwar häufiger Smartphones verfügbar waren (49 Prozent), für den Schulunterricht geeignetere Geräte wie Desktop-PCs oder Notebooks aber in weniger als der Hälfte dieser Haushalte zur Verfügung standen. Auch die Spaltung der digitalen Gesellschaft entlang des Zugangs zeigte sich im digitalen Schulunterricht deutlich: In ländlichen Räumen traten Probleme mit dem Internetzugang häufiger auf als in städtischen Gebieten.

Verwaltung

Die Fortentwicklung der Verwaltungsdigitalisierung wird regelmäßig durch den bereits erwähnten E-Government Development Index der Vereinten Nationen gemessen. International steht Deutschlands digitale Verwaltung zwar gut da und befindet sich gemeinsam mit Ländern wie Österreich, der Schweiz und Kanada in der Gruppe der Länder mit dem zweithöchsten Digitalisierungsreifegrad. Doch liegt die Bundesrepublik im Vergleich der europäischen Länder nur im Mittelfeld (Rang 17). Besonders fällt auf, dass Deutschland im Teilindex Onlinedienste, mit dem die Verfügbarkeit digitaler Verwaltungsleistungen gemessen wird, mit einem Wert von etwa 0,74 deutlich unter dem europäischen Durchschnitt liegt (0,81) – und nur knapp vor den Schlusslichtern Liechtenstein, Tschechien, Rumänien, Belarus, Belgien, Griechenland, Lettland und der Slowakei. Nach wie vor zählt die fehlende Verfügbarkeit in Deutschland zu einer Hauptbarriere für Bürger*innen, digitale Verwaltungsdienstleistungen zu nutzen, neben der fehlenden Bekanntheit bereits digitalisierter Dienste und ihrer mangelnden Durchgängigkeit. So liegt die Nutzungsrate auch 2021 mit 52 Prozent der Bürger*innen auf einem eher niedrigen Niveau und hat sich im Zeitverlauf seit 2012 nur um 7 Prozentpunkte gesteigert. Zwei der Hauptbarrieren – fehlende Verfügbarkeit und mangelnde Durchgängigkeit – sollen aber perspektivisch durch das 2017 verabschiedete Onlinezugangsgesetz adressiert werden. Das Gesetz sieht bis Ende 2022 die Bereitstellung von 575 Verwaltungsdienstleistungen – davon 115 Leistungen der Bundes- und 460 Leistungen der Landes- und Kommunalverwaltungen – über einen zentralen Portalverbund vor. Auf Bundesebene sind bereits 76 der 115 zu digitalisierenden Leistungen vollständig online, auf Landesebene bundesweit bislang nur knapp ein Drittel. Dabei gibt es zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede: Sind in Nordrhein-Westfalen 344 Leistungen in zumindest einer Kommune des Landes vollständig online verfügbar, sind es in Berlin und im Saarland nur jeweils 77.

Fasst man die hier deskriptiv präsentierten Ergebnisse zusammen, so zeigt sich sowohl für die digitale Infrastruktur als auch für die drei ausgewählten Bereiche ein heterogenes Bild. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland gut ab, im EU-weiten Vergleich zeigen sich jedoch deutliche Nachholbedarfe. Insbesondere ist festzuhalten, dass der Grad der Digitalisierung für verschiedene Regionen, aber auch für verschiedene Bevölkerungsgruppen in Deutschland nicht gleich hoch ist. Neben dem Zugang zu digitaler Infrastruktur (technische Dimension) ergeben sich insbesondere Unterschiede mit Blick auf den Umgang und die Nutzung digitaler Technik (soziale Dimension).

Rahmenbedingungen der Digitalisierung

Dass die Digitalisierung in Deutschland mit eher geringer Dynamik voranschreitet, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Besonders stark auf den Digitalisierungsgrad wirken unter anderem drei Rahmenbedingungen: Kultur, Kompetenzen und der administrativ-rechtliche Bereich.

Kultur

Gerade der Vergleich des Digitalisierungsgrades in Deutschland mit den nordisch-skandinavischen Ländern und Estland offenbart erhebliche Unterschiede, was den Gedanken nahelegt, die erfolgreichen digitalen Strategien und Lösungen nach Deutschland zu importieren und hier zu implementieren. Doch so einfach ist es nicht. Denn, dies zeigt die aktuelle Forschung, Deutschland und Skandinavien unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres Digitalisierungsfortschritts, sondern auch hinsichtlich kontextueller Faktoren wie der nationalen Kultur. Dänemark beispielsweise ist insgesamt von einem sehr hohen Vertrauen der Bürger*innen in den Staat und seine Institutionen geprägt, was sich etwa auch im Umgang mit Aspekten des Datenschutzes niederschlägt. Der Schutz personenbezogener Daten spielt in Dänemark eine deutlich weniger herausgehobene Rolle im öffentlichen Diskurs als in Deutschland, dessen Gesetze zum Schutz persönlicher Daten lange Zeit als besonders streng galten. Damit einher gehen Unterschiede im Umgang mit rechtlichen Rahmenbedingungen und letztlich auch erhebliche Unterschiede in der konkreten Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen. Auch andere Studien legen nahe, dass die Kultur eines Landes, aber auch einzelner Regionen, beeinflusst, wie Digitalisierung betrachtet und gelebt wird und dass beispielsweise die in Deutschland stark ausgeprägte Unsicherheitsvermeidung zu einer stärkeren Fokussierung auf bestehende Regeln und Strukturen führt. Digitale Innovation und Transformation erfordern jedoch oftmals den Ausbruch aus diesen Strukturen. Dieser Aspekt ist auch auf organisationaler Ebene relevant. Beispielsweise hat die Unternehmenskultur einen maßgeblichen Einfluss auf Digitalisierung, denn Werte wie Kund*innenorientierung, Kollaboration oder Flexibilität scheinen digitale Innovation und Offenheit gegenüber Veränderungen und neuen Ideen zu fördern, während strenge Hierarchien und feste Strukturen Digitalisierung und digitale Innovationen eher hemmen.

Kompetenzen

Eng verknüpft mit kulturellen Aspekten ist die Ausbildung und Förderung digitaler Kompetenzen. Mit dem Einsatz digitaler Technik in Unternehmen, in Verwaltungen und in der Bildung verändern sich die Anforderungen an Kompetenzen der Nutzer*innen im privaten wie im beruflichen Umfeld grundlegend. Digitale Kompetenzen bedeuten hier nicht allein technische Fähigkeiten, sondern auch Fähigkeiten im Umgang mit, der Antizipation von und der Anpassung an veränderte Bedingungen des Arbeitens. Zu den beispielsweise in Verwaltungen als erforderlich betrachteten digitalen Kompetenzen gehören zunehmend fachlich ungebundene Fähigkeiten wie Flexibilität, Selbstorganisation sowie IKT-spezifische Fähigkeiten wie das grundlegende Verständnis für Informationssysteme und Kenntnisse im Bereich der IT-Sicherheit. Fähigkeiten dieser Art als notwendige Bedingung für digitale Innovation und Transformation zu erkennen, erfordert eine entsprechende (digitale) Kultur auf nationaler wie organisationaler Ebene. Jedoch sind insbesondere öffentliche Verwaltungen, aber auch kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland oft von einer eher hierarchischen Kultur geprägt, in der vorgegebene Strukturen und klar definierte Prozesse den Alltag bestimmen.

Digitale Kompetenzen zu antizipieren und gezielt zu schulen, ist jedoch nicht allein eine Herausforderung für Unternehmen oder Verwaltungen, sondern auch für die Schulbildung und insbesondere die Ausbildung von Lehrkräften: "Eine Qualifizierung von Lehrkräften ist vor allem im Hinblick auf ihre Fertigkeit notwendig, digitale Medien sinnvoll in das Unterrichtsgeschehen einzubetten. (…) Technische Kompetenz ist hier zwar notwendige aber keine hinreichende Voraussetzung für gelingenden medienbasierten Unterricht." Auch in der Schulbildung müssen Kompetenzen im Umgang mit digitaler Technik und digitalen Medien trainiert werden, ebenso wie Soft Skills, die Adaptivität und Offenheit fördern. Erst durch die systematische Integration dieser Kompetenzen in die Ausbildung von Lehrkräften können auch Schüler*innen gezielt im Umgang mit der Digitalisierung gefördert werden.

Administrativ-rechtlicher Rahmen

Ein weiterer Faktor schließlich, der den Digitalisierungsgrad eines Landes beeinflusst, ist der administrativ-rechtliche Rahmen, in dem Digitalisierungsprojekte umgesetzt werden können – und damit einhergehend der politische Wille, diese Rahmenbedingungen zu schaffen. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur soll durch das im Dezember 2021 in Kraft getretene Telekommunikationsmodernisierungsgesetz gefördert werden. Insbesondere stellt dieses Gesetz den rechtlichen Anspruch auf einen Zugang zu "Very High Capacity Networks" für Bürger*innen und Unternehmen sicher, sodass in den kommenden Jahren ein erheblicher Ausbau des Glasfasernetzes auch zugunsten von Privathaushalten zu erwarten ist.

Auch andere Bereiche werden derzeit von verschiedenen gesetzlichen Vorhaben und Strategien geprägt: Die Digitalisierung der Wirtschaft und insbesondere der Anschluss kleinerer Unternehmen an den Innovations- und Digitalisierungsgrad großer Unternehmen wird durch die Mittelstandstrategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie gefördert, die Verwaltungsdigitalisierung wird durch das Onlinezugangsgesetz angetrieben, und auch dem Bildungsbereich ist mit dem Digitalpakt ein umfassendes politisches Programm zur Digitalisierung gewidmet. Gleichzeitig beobachtet die Politikwissenschaft "eine Zerfaserung der Interessenvermittlung in diverse Ad-hoc-Kommissionen und Gipfelrunden, die (…) die Bildung einer breiten operativen Konsensbasis und Koordination erschwert". Diese Zerfaserung gilt auch für die Digitalpolitik, die nicht nur zwischen den föderalen Ebenen von der EU bis zu den Kommunen, sondern auch auf den jeweiligen Ebenen selbst zunehmend auf viele verschiedene Akteure verteilt ist. So stehen Unternehmen, Verwaltungen und Bildungseinrichtungen vor einer komplexen und oftmals nur schwer zu durchschauenden Struktur von Ansprechpersonen, Richtlinien, Vergabeverfahren und Fördermöglichkeiten. Ob die Potenziale der auf den Weg gebrachten Gesetze und Strategien vor dem Hintergrund dieser äußerst heterogenen Strukturen gehoben werden können, muss sich erst noch zeigen.

Fazit

Steckt Deutschland also in einer digitalen Krise? Die eingangs aufgeworfene Frage lässt sich kaum eindeutig beantworten. Zwar ist die Bundesrepublik im internationalen Vergleich gut aufgestellt, fällt auf EU-Ebene jedoch ins untere Mittelfeld ab. Gleichzeitig kann der Blick auf den Digitalisierungsstand anderer Länder nur ein erster Indikator für Nachholbedarfe sein, weil das allein quantitative Benchmarking kontextuelle Faktoren nicht berücksichtigt. Diese sind aber für die Digitalisierung entscheidend und in den europäischen Ländern, aber auch innerhalb der Länder, sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Für Deutschland ergeben sich aus der hier skizzierten Situation zwei zentrale Herausforderungen: Zum einen darf die digitale Transformation nicht zu mehr Ungleichheit führen, digitale Spaltungen aller Art müssen überbrückt werden. Zum anderen darf die digitale Transformation nicht als ein geschlossener Prozess verstanden werden, der mit einigen Strategien und Digitalpaketen zu bewältigen ist. Sie ist vielmehr ein andauernder Prozess ohne klar definierte Start- oder Endpunkte. Dies erfordert eine kontinuierliche politische Begleitung und Anpassung von Strukturen an sich ständig wandelnde Bedingungen. Und vor dieser Aufgabe stehen auch alle anderen Staaten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Mertens, Ist Deutschland wirklich ein "digitales Entwicklungsland" – kann die Institutioneninflation helfen?, in: Wirtschaftsinformatik & Management 13/2021, S. 194–205.

  2. Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI), Onlinezugangsgesetz: Startschuss für Konjunkturmittelverteilung und flächendeckende Digitalisierung. Länder erhalten 1,4 Milliarden Euro zusätzlich zur Umsetzung des OZG, 1.2.2021, Externer Link: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/02/ozg-konjunkturmittelverteilung.

  3. Der Index berücksichtigt die Anzahl der Internetnutzer*innen, der Mobilfunkteilnehmer*innen, der aktiven mobilen Breitbandanschlüsse sowie die Anzahl von Festnetz-Breitbandanschlüssen.

  4. Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs, E-Government Survey 2020. Digital Government in the Decade of Action for Sustainable Development, New York 2020, Externer Link: https://publicadministration.un.org/egovkb/Portals/egovkb/Documents/un/2020-Survey/2020%20UN%20E-Government%20Survey%20(Full%20Report).pdf.

  5. Vgl. Europäische Kommission, Digital Economy and Society Index (DESI) 2021. Thematic Chapters 2021, Externer Link: https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/digital-economy-and-society-index-desi-2021.

  6. Vgl. Bundesministerium für Digitales und Verkehr, Bericht zum Breitbandatlas. Teil 1: Ergebnisse, Berlin 2021, Externer Link: http://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/DG/Digitales/bericht-zum-breitbandatlas-mitte-2021-ergebnisse.pdf?__blob=publicationFile.

  7. Vgl. David Tilson/Kalle Lyytinen/Carsten Sørensen, Research Commentary: Digital Infrastructures. The Missing IS Research Agenda, in: Information Systems Research 21/2010, S. 748–759.

  8. Europäische Kommission (Anm. 5), S. 20 (eigene Übersetzung).

  9. Vgl. Frederico Cruz-Jesus et al., The Education-Related Digital Divide. An Analysis for the EU-28, in: Computers in Human Behavior 56/2016, S. 72–82.

  10. Robotisierung meint den Einsatz von Robotern oder Maschinen, die, zunehmend autark, komplexe Arbeitsvorgänge in Unternehmen übernehmen, die zuvor durch Menschen ausgeführt wurden. Ähnlich bezieht sich der Begriff der Automatisierung auf die (teil-)autonome Durchführung betrieblicher Prozesse durch Informationssysteme.

  11. Vgl. Jarosław Brodny/Magdalena Tutak, Assessing the Level of Digitalization and Robotization in the Enterprises of the European Union Member States, in: Plos One 16/2021, S. 1–36.

  12. Vgl. Bhaskar Chakravorti et al., Digital in the Time of Covid. Trust in the Digital Economy and Its Evolution Across 90 Economies as the Planet Paused for a Pandemic, Medford, MA 2020, Externer Link: https://sites.tufts.edu/digitalplanet/files/2021/03/digital-intelligence-index.pdf.

  13. Vgl. Europäische Kommission, 2nd Survey of Schools: ICT in Education. Objective 1: Benchmark Progress in ICT in Schools, Luxemburg 2019, Externer Link: https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/2nd-survey-schools-ict-education-0.

  14. Sandy Jahn et al., Digitaler Schulunterricht. Hürden beim digitalen Unterricht/Austausch von Lernhinhalten/Geräteausstattung der Schüler:innen. Vorabergebnisse des eGovernment Monitor 2021, Berlin–München 2021, Externer Link: https://initiatived21.de/app/uploads/2021/09/ergebnisse-digitaler-schulunterricht-egovernment-monitor-2021.pdf, S. 1.

  15. Vgl. ebd.

  16. Dieser Index kann Werte zwischen 0 (keine Dienste verfügbar) und 1 (vollständige Verfügbarkeit) annehmen.

  17. Vgl. Sandy Jahn et al., eGovernment Monitor 2021. Staatliche Digitalangebote – Nutzung und Akzeptanz in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin–München 2021, Externer Link: https://initiatived21.de/app/uploads/2021/10/egovernmentmonitor2021.pdf.

  18. Das OZG-Portal (Externer Link: http://www.ozg-umsetzung.de) sammelt zentral alle Informationen zum Umsetzungsstand des Gesetzes. Für die Anzahl verfügbarer Online-Leistungen je Bundesland reicht es aus, dass eine Kommune im Land einen Dienst vollständig online anbietet. Auch innerhalb der Bundesländer zeigen sich zwischen Regionen und Kommunen erhebliche Unterschiede im Umsetzungsstand. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise sind nur sechs Leistungen landesweit verfügbar.

  19. Vgl. Michael Minkov/Geert Hofstede, Clustering of 316 European Regions on Measures of Values: Do Europe’s Countries Have National Cultures?, in: Cross-Cultural Research 48/2014, S. 144–176.

  20. Vgl. Bettina Distel/Sara Hofmann/Christian O. Madsen, Nationale E-Government-Strategien: Deutschland und Dänemark im Vergleich, Bericht Nr. 12 des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums, Berlin 2020, Externer Link: https://negz.org/projekte-publikationen.

  21. Vgl. Christine Moser/Dirk Deichmann, Knowledge Sharing in Two Cultures: The Moderating Effect of National Culture on Perceived Knowledge Quality in Online Communities, in: European Journal of Information Systems 30/2021, S. 623–641.

  22. Vgl. Sune D. Müller et al., Digital Innovation and Organizational Culture: The Case of a Danish Media Company, in: Scandinavian Journal of Information Systems 31/2019, S. 3–34.

  23. Vgl. Walter Ganz/Bernd Dworschak/Kathrin Schnalzer, Competences and Competence Development in a Digitalized World of Work, in: Isabel L. Nunes (Hrsg.), Advances in Human Factors and Systems Interaction, Cham 2019, S. 312–320.

  24. Vgl. Bettina Distel/Nadine Ogonek/Jörg Becker, eGovernment Competences Revisited – A Literature Review on Necessary Competences in a Digitalized Public Sector, in: 14. Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik, Siegen 2019, S. 286–300.

  25. Katharina Scheiter/Andreas Lachner, Digitalpakt – was nun? Eine Positionierung aus Sicht der Lehr-Lernforschung, in: Unterrichtswissenschaft 47/2019, S. 547–564, hier S. 552.

  26. Roland Czada, Politikwenden und transformative Politik in Deutschland, in: Der moderne Staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management 12/2019, S. 400–417, hier S. 400.

  27. Vgl. Mertens (Anm. 1).

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ist promovierte Wirtschaftsinformatikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschaftsinformatik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
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