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Potenziale der Digitalisierung jenseits von Markt und Staat - Essay | Digitale Gesellschaft | bpb.de

Digitale Gesellschaft Editorial Potenziale der Digitalisierung jenseits von Markt und Staat Kulturgeschichte der Digitalisierung. Über die embryonale Digitalität der Alphanumerik Digitale Öffentlichkeit und liberale Demokratie Von Software-Beton, falschen Vorhersagen und "intelligenter" Diskriminierung. Wie digitale Entscheidungsarchitekturen Menschen und Lebensräume ordnen Digital, divers, dynamisch. Perspektiven der Parteiendemokratie Online-Wahlhilfen im digitalen Wahlkampf Digitalwüste Deutschland? Digitalisierungsstand im internationalen Vergleich

Potenziale der Digitalisierung jenseits von Markt und Staat - Essay

Evgeny Morozov

/ 14 Minuten zu lesen

Digitale Technologien erleichtern ohne Frage unser privates und öffentliches Leben, auch der Demokratie können sie zuträglich sein. Doch sollten wir uns von dem Irrglauben verabschieden, die Dominanz der kommerziellen digitalen Plattformen sei alternativlos.

Digitale Technologien können in unzähligen Bereichen zur Anwendung kommen – zumindest in der Theorie. In der Praxis sind es vor allem Unternehmen und Regierungen, die sich ihrer bedienen. Die Möglichkeiten und Funktionen der Technologien sind dementsprechend auf die recht spezifischen Bedürfnisse dieser Auftraggeber ausgerichtet, die meist mit ökonomischer und bürokratischer Kontrolle zu tun haben. Sie überschneiden sich daher nur teilweise mit den Bedürfnissen lebendiger demokratischer Gesellschaften. Könnte sich dies ändern? Sollte es das? Können andere Akteure dazu beitragen, die Vision von wirklich demokratischen digitalen Plattformen und Diensten zu erweitern? Ließen sich neue digitale Landschaften attraktiver gestalten für die politischen Bedürfnisse von Bürgervereinigungen, Nachbarschaftsgruppen, gemeinnützigen Organisationen oder Bürger:innen wie dir und mir?

Auf den ersten Blick erschließt sich der Sinn dieser Fragen vielleicht nicht. Die meisten zivilgesellschaftlichen Gruppen, von einzelnen Nutzern ganz zu schweigen, haben bereits Zugang zu Facebook oder Twitter, sie können also die bestehenden kommerziellen Infrastrukturen nutzen, was sie auch tun. Viele erfolgreiche politische und aktivistische Kampagnen, auch Wahlkämpfe, wurden auf solchen Plattformen geführt und gewonnen. Vor welchem Problem stehen wir also überhaupt? Warum das Rad neu erfinden?

An dieser Stelle hört die allgemeine Kritik an den tatsächlich existierenden digitalen Plattformen in der Regel auf und wird in eher obskure politische Debatten verlagert. Sicher, wir können über den Missbrauch der Marktmacht oder zwielichtige Praktiken der Datenerfassung sprechen. So wichtig diese Themen auch sind: Sie lenken davon ab, dass unseren digitalen Infrastrukturen etwas Großes und Wesentliches fehlt.

Vor zehn Jahren wäre es vielleicht noch gerechtfertigt gewesen, die Grundlagen der Organisation unseres digitalen Lebens und unserer Institutionen nur zurückhaltend infrage zu stellen. Schließlich gab es Ereignisse wie den Arabischen Frühling, und es sah so aus, als würden die dominanten, kommerziell betriebenen Social-Media-Plattformen dabei helfen, festgefahrene Diktaturen zu stürzen. Diese Aufbruchstimmung, getragen von einer gehörigen Portion techno-utopischer Unschuld und Naivität, ist längst verflogen. Und wir sollten uns nicht damit aufhalten, ihr hinterherzutrauern.

Heute zweifelt niemand mehr an der Tatsache, dass unsere geliebten digitalen Plattformen auch Schattenseiten und versteckte Kosten haben. Wie im Falle des Klimawandels sind diese nicht sofort offenkundig. Aber nur, weil sie nicht sofort ersichtlich sind, heißt das nicht, dass sie weniger folgenreich oder zerstörerisch für Freiheit und Demokratie wären.

Antworten auf diese Fragen und Herausforderungen zu suchen bedeutet nicht, den Nutzen digitaler Technologien für ein lebendiges öffentliches Leben und für die demokratische Politik im Allgemeinen anzuzweifeln. Vielmehr geht es darum, klarzustellen, dass es nicht zwingend eine Gleichwertigkeit zwischen den Methoden und Techniken, die wir mit der Navigation im digitalen Raum verbinden, und den Geschäftsmodellen der Unternehmen gibt, die diese Methoden und Techniken derzeit beherrschen. Man kann Ersteres haben, ohne notwendigerweise auch Letzteres akzeptieren zu müssen.

Schlüsselfunktionen wie das Entdecken, das Organisieren und das Verbreiten von Informationen könnten durchaus über institutionelle und infrastrukturelle Modelle bereitgestellt werden, die sich stark von den Aktivitäten von Facebook, Google oder Twitter heute unterscheiden. Wenn wir uns von dem weit verbreiteten Irrglauben verabschieden, dass die Dominanz dieser digitalen Plattformen alternativlos sei, stellen wir vielleicht auch fest, dass über neue und alternative digitale Methoden und Techniken auch neue Formen des politischen und kollektiven Lebens entstehen können.

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Bevor wir uns mit solchen Alternativen befassen, sollten wir klar benennen, was alles gut läuft. Die heutige digitale Wirtschaft funktioniert – allerdings nur für eine begrenzte Anzahl von Akteuren. Für diejenigen, die im kommerziellen Bereich tätig sind, bieten die digitalen Technologien eine aufregende neue Möglichkeit, neue und oftmals effizientere Märkte zu schaffen. So konnten beispielsweise über lange Zeit ungenutzte Ressourcen wie Häuser oder Autos plötzlich wieder in den Wirtschaftskreislauf gebracht werden. Noch die trivialsten Gegenstände konnten auf einmal verkauft oder versteigert werden; und auch die Kundenzufriedenheit – mit Uber-Fahrern, Airbnb-Gastgebern oder Verkäufern bei Ebay – konnte durch Datensammlung gemessen und überprüft werden. Es entstanden gänzlich neue Arten von Unternehmen und Geschäftsfeldern.

Auch in Regierungskreisen ist es kein Geheimnis, wozu die digitalen Technologien fähig sind: Von der Kontaktnachverfolgung in einer Pandemie bis hin zum Einsatz verschiedener Instrumente wie etwa dem "Nudging", durch das für wünschenswert gehaltene soziale Ergebnisse erzielt werden (zum Beispiel Menschen in prekären Lebensverhältnissen dazu zu bringen, zu sparen), bieten die digitalen Technologien einen neuen Apparat zur Kontrolle. Das Wort "Kontrolle" wird in diesem Kontext ohne unheilvollen Unterton verwendet, auch wenn damit immer ein erhebliches Maß an digitaler Überwachung verbunden ist. In den harmlosesten Szenarien handelt es sich bei solchen "Kontrollbemühungen" einfach um Versuche, die Regierungsbürokratie effizienter zu machen.

Bleibt noch der dritte Akteur, der größte von allen, dessen Bedürfnisse von der heutigen digitalen Wirtschaft weitgehend unberücksichtigt bleiben: die Öffentlichkeit. Welchen Nutzen hat der große Teil der Bevölkerung von den digitalen Technologien? Oberflächlich betrachtet, sind die Antworten klar und zahlreich. Als Privatpersonen begrüßen wir individuelle Apps bei der Bewältigung des Alltags, bei so unterschiedlichen Dingen wie der Kinderbetreuung oder dem Lebensmitteleinkauf. Als Bürger wollen wir unsere Meinung über den Zustand der Politik – oder den Zustand unserer Straßen oder des öffentlichen Raums – ausdrücken, sammeln und mitteilen. Und dann wollen wir natürlich, dass so viel wie möglich in unserem Leben automatisiert und reibungslos abläuft, damit wir die nötige Zeit für Selbstverwirklichung und kreatives Wachstum haben. Dieser Automatisierungsgrad setzt die Existenz und das reibungslose Funktionieren unsichtbarer Hintergrundinfrastrukturen voraus, etwa Künstliche Intelligenz (KI) und Cloud Computing.

Angesichts dieser Bedürfnisse überrascht es nicht, dass die naheliegende institutionelle Lösung für Regierungen darin besteht, sich bereits vorhandenen digitalen Plattformen zuzuwenden. Der Betrieb eines KI-Dienstes – der für Apples sprachgesteuertes Assistenzsystem "Siri" oder Amazons "Alexa" erforderlich ist – ist keine triviale Aufgabe und ist in Wartung und Entwicklung finanzintensiv. Natürlich werden dieselben Infrastrukturen auch für weitaus komplexere Aufgaben benötigt, die über den Alltag hinausreichen. Denken Sie zum Beispiel an die Integration von Alphabets "Deep Mind", einer KI-Anwendung zur Patientenüberwachung, in das britische Gesundheitssystem – ein umstrittener Prozess, der einige Datenschutzbedenken aufkommen ließ, da Google hierdurch Zugriff auf 1,6 Millionen Patientendaten erhielt.

Geht man davon aus, dass Regierungen keine andere Wahl haben, als sich an digitale Plattformen zu wenden, um die Bedürfnisse ihrer eigenen Wählerschaft zu befriedigen, dann ist der Spielraum für mögliche politische Alternativen ziemlich gering. Natürlich könnte man zum Beispiel bestimmte Bereiche des täglichen Lebens oder des Wohlfahrtsstaates für digitale Plattformen für tabu erklären. Oder man könnte die Unternehmen daran hindern, sämtliche Daten, die sie sammeln, auch zu nutzen. Oder man könnte sie dazu verpflichten – wie es die Stadt Barcelona mit einigen Tech-Firmen getan hat –, die von ihnen gesammelten nicht-privaten Daten mit den öffentlichen Behörden zu teilen, damit die Öffentlichkeit Zugang zu ihnen hat und andere Dienste mit ihnen aufgebaut werden können. Die Bedingungen und Auflagen sind vielfältig und reichen von einer Laissez-faire-Politik nach dem Motto "alles ist erlaubt" bis hin zu einer gezielten Politik, die den digitalen Vermittlern in den Unternehmen klare Grenzen dafür setzt, was sie in welchen Bereichen mit ihren Daten tun können.

Doch auch in einem solchen Modell ist die Frage der Freiheit ziemlich eng gefasst. In erster Linie geht es darum, sicherzustellen, dass die Bürger vor den Auswüchsen der stets datenhungrigen digitalen Plattformen geschützt werden. So haben jedenfalls die meisten politischen Entscheidungsträger und kritischen Intellektuellen bisher über dieses Thema gedacht. Man schlug neue Arten von Rechten vor, etwa das "Recht auf Vergessenwerden" oder das "Recht auf Zukunft", wie es die Wirtschaftswissenschaftlerin und Sozialpsychologin Shoshana Zuboff getan hat. Ihr aller Ziel ist es, den Mitgliedern der digitalen Öffentlichkeit ein Mindestmaß an Würde zurückzugeben.

Gegen solche Bestrebungen ist nichts einzuwenden. Die meisten von ihnen sind in der Tat bewundernswert. Und doch muss man fragen, ob der derzeitige Ansatz, der eine bestimmte Verteilung von Befugnissen und Verantwortlichkeiten zwischen Regierungen, Unternehmen und Bürgern als gegeben hinnimmt, wirklich der einzig mögliche ist und wir uns nicht mehr erhoffen dürfen. Könnte es sein, dass hinter all dem Gerede über die Macht der Künstlichen Intelligenz und die Unvermeidlichkeit reibungsloser Utopien, die durch das Internet der Dinge und die intelligente Stadt Wirklichkeit werden sollen, in den digitalen Technologien immer noch ungenutzte und versteckte politische Potenziale stecken? Und könnte es sein, dass unsere derzeitige, eher enge und klar definierte Aufgabenteilung zwischen Staat und Wirtschaft dieses Potenzial nicht ausschöpft?

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Denken Sie an den naheliegendsten – und nur scheinbar langweiligsten – Bereich: das alltägliche Leben. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht eine bessere oder klügere Methode entdecken, um Dinge zu tun, die wir alle für selbstverständlich halten: ein Gericht kochen, unsere Wohnung aufräumen, eine Fremdsprache lernen, einen kaputten Stuhl reparieren. Wir sind von Natur aus aktive Wesen, die sich an unvorhergesehenen Herausforderungen erfreuen – und diese am liebsten kreativ umgehen. Bei der Lösung dieser Mikroprobleme erleben wir ein Gefühl des Triumphs und der Meisterschaft. Wenn wir Glück haben, stolpern wir vielleicht sogar über einen genialen Weg zur Verbesserung grundlegender, scheinbar unabänderlicher Prozesse, die uns, im Nachhinein betrachtet, schon immer viel zu viel Energie und Zeit kosteten.

Aber was passiert danach? Höchstwahrscheinlich wenden wir diese Methode nur an, um unser eigenes Leben zu verbessern und eine kleine private Utopie für uns selbst zu schaffen. Das ist in den meisten Fällen der Punkt, an dem der soziale Innovationsprozess endet: in unseren Köpfen und Händen. Wir geben die potenziell für die ganze Gesellschaft nützlichen Methoden und Techniken, die wir, oft ohne groß danach gesucht zu haben, entdeckten, nicht weiter – nicht einmal an unsere Nachbarn oder Familienmitglieder.

Warum ist das so? Ganz einfach: Die Hürden für eine effektive Kommunikation und soziale Institutionalisierung solcher Entdeckungen auf globaler Ebene sind einfach zu hoch. Deshalb machen sich die meisten von uns nicht einmal die Mühe, diese Entdeckungen so zu formalisieren, dass sie überhaupt mit anderen geteilt werden können. Wir schreiben vielleicht einen Tweet oder posten ein Foto, aber damit endet eine solche Kommunikation normalerweise. Dafür gibt es einen Grund: Unsere sozialen Systeme sind einfach nicht dafür ausgelegt, soziale Innovationen zu maximieren, die von ihren Mitgliedern erdacht – oder in vielen Fällen auch nur aus der Mottenkiste gezogen – werden.

Die einzige Möglichkeit, solche Entdeckungen zu verbreiten und einer Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, besteht in ihrer Vermarktung. Über das Streben des Kapitalismus nach Rentabilität kommt es dann auch zweifellos zu den gewünschten Ergebnissen, und die obskursten und undenkbarsten Produkte werden in den entlegensten Gebieten der Welt allgemein zugänglich. Eine solche Kommerzialisierung bringt die Innovatoren jedoch in eine gewisse institutionelle Zwangslage: Sie müssen ein Start-up gründen, ein Geschäftsmodell ausarbeiten, ganz gleich, wie unhaltbar und ungeeignet sich eine solche kommerzielle Ausrichtung für die anstehende Aufgabe erweisen mag. Es ist ein Kompromiss: Was man an Reichweite und Universalität gewinnt, verliert man an Flexibilität hinsichtlich alternativer Formen der gesellschaftlichen Organisation.

Wie funktioniert diese Dynamik in der Praxis? Nehmen wir an, Sie haben in Ihrem Alltag eine clevere Methode zum Lernen und Einprägen von Wörtern in einer Fremdsprache gefunden. Wenn Sie der Meinung sind, dass Ihre Lösung wirklich revolutionär ist und Tausende von Menschen dafür dankbar wären, ist es unwahrscheinlich, dass Sie sie für sich behalten, um ganz alleine alle Sprachen der Welt zu erlernen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Sie tatsächlich versuchen werden, ihre Methode zu verbreiten. In der heutigen Welt gibt es dafür aber nur einen Weg: Sie werden Ihre Erfindung vermarkten und sich Kapital beschaffen. Sie werden also einige Zeit und Mühe darauf verwenden, andere davon zu überzeugen, in Ihr neues Unternehmen zu investieren, damit die ursprüngliche Innovation von einem bloßen Prototyp zu einem brauchbaren Massenprodukt werden kann.

Nehmen wir an, die Sterne sind Ihnen gewogen und Ihre Entdeckung kommt als erfolgreiches Produkt auf den Markt: Nun stehen Sie vor der Aufgabe, die ursprünglichen Mittel, die Sie aufgebracht haben, zurückzuzahlen. Das erzwingt ein bestimmtes Geschäftsmodell, das höchstwahrscheinlich auf Abonnements zurückgreift oder auf eine Kombination aus der Datenextraktion Ihrer Nutzer und der anschließenden Generierung von Werbeeinnahmen auf der Grundlage dieser Daten. Damit ist diese neue und revolutionäre Technik zum Erlernen von Sprachen in eine Ware verwandelt worden – und Sie zu einem Unternehmer.

Das ist nichts Neues. So hat die Kommerzialisierung von Erfindungen im Kapitalismus schon immer funktioniert. Dies ist auch der Grund, warum die bekannten Verfechter des Kapitalismus wie Friedrich Hayek im sogenannten Cash-Nexus das Vehikel des menschlichen Fortschritts ausgemacht haben: Unabhängig von den lokalen Kosten für einige – etwa Ungleichheit oder Ungerechtigkeit an einigen Stellen – ist der Gesamtnutzen (und sei es nur im Hinblick auf die Senkung der Produktionskosten) immer größer, wenn nicht-kommerzielle Kontexte und Prozesse in wirtschaftliche Beziehungen gezwungen werden.

Hat sich durch die Digitalisierung hieran etwas geändert? Nun, zunächst einmal sind unglaublich viele unserer Handlungen plötzlich beobachtbar geworden. Dank Sensoren und anderer intelligenter Systeme, die heute in unzähligen Bereichen um uns herum allgegenwärtig sind, wird das meiste, was wir tun, aufgezeichnet. Infolgedessen konnte ein immer größerer Teil unseres Alltags zum Gegenstand von Überlegungen und empirisch abgesicherten Analysen werden: Auch in unseren intelligenten Häusern werden wir ständig aufgefordert, über Trends, Muster und Statistiken nachzudenken. Zweitens kommt man heute selbst mit einem trivialen Maß an technologischem Wissen und Können viel weiter als noch vor zehn oder gar fünf Jahren: Auch ohne Programmieren zu lernen, können wir mit weniger Aufwand mehr erreichen. In diesem Punkt hatten die Techno-Utopisten der 1990er Jahre absolut recht. Ein solcher erweiterter Einfallsreichtum wird wahrscheinlich ein ständiges Merkmal des digitalen Umfelds bleiben und gewöhnlichen Nutzern nie dagewesene – wenn auch nicht immer vollständig realisierbare – Handlungsmöglichkeiten bieten.

Das war die gute Nachricht. Die nicht ganz so gute Nachricht ist, dass die heutige digitale Wirtschaft den neu entdeckten Fähigkeiten der Menschheit zu Reflexivität und transformativem Handeln auch Grenzen setzt. Diese Fähigkeiten werden vor allem durch die Logik der digitalen Plattformen und der Apps, die sie bevölkern, eingeschränkt. Welche sozialen Entdeckungen auch immer von den neu befähigten, sich selbst analysierenden Akteuren und Gruppen gemacht werden, sie müssen in diese Logik passen und sich den mit ihr verbundenen Zwängen beugen, Nutzerdaten zu monetarisieren oder Abonnements zu verlangen und einen Teil der erwirtschafteten Einnahmen der Plattform selbst abzutreten.

Dieses marktwirtschaftliche Modell birgt durchaus einige Vorteile. Aber sollte es die alleinige Blaupause dafür sein, wie die digitale Gesellschaft funktioniert und wie sie soziale Innovationen institutionalisiert? Sollte jeder, der beim digitalen Sprachenlernen einen noch clevereren Weg entdeckt, vor die Wahl gestellt werden, entweder nichts zu tun oder Unternehmer zu werden? Führt diese Einheitslösung nicht dazu, dass die institutionellen Repertoires, die zur Problemlösung zur Verfügung stehen, begrenzt bleiben?

Was, so könnte man sich fragen, ist aus all den intellektuell reichen und vielfältigen Institutionen geworden, die in früheren Zeiten eine so wichtige Rolle bei der Gestaltung der demokratischen öffentlichen Kultur gespielt haben, von der Bibliothek bis zum Museum und von der Universität bis zum Postamt? Was wäre ihre Entsprechung im digitalen Zeitalter? Und wie stellen wir überhaupt sicher, dass diese Frage auch für künftige Generationen noch Sinn ergibt, die daran gewöhnt sein werden, den gesellschaftlichen Wandel hauptsächlich als simplen Zweiklang von Plattform und App zu denken?

Angesichts der Komplexität und Unlösbarkeit vieler sozialer und politischer Probleme, mit denen moderne Demokratien konfrontiert sind – vom sich beschleunigenden Klimawandel bis zur grassierenden Ungleichheit –, scheint es unklug, sich bewusst die Hände zu binden, wenn es darum geht, Rahmenbedingungen und Infrastrukturen aufzubauen, die soziale Innovationen unterstützen und beschleunigen. Genau hier liegt der größte Mythos der heutigen, von Unternehmen kontrollierten digitalen Wirtschaft: Während sie uns versichert, dass wir in einer innovationsfreundlichen Zeit leben, suggeriert ihre Rhetorik, dass wir in Wirklichkeit nicht innovativ genug sind – nicht schnell und nicht energisch genug –, um die Probleme der Menschheit zu lösen.

Erst wenn wir erkennen, dass es möglich ist, die Methoden und Techniken zur Entdeckung, Organisation und Verbreitung von Informationen von den Unternehmensplattformen zu entkoppeln, die derzeit eine Monopolstellung innehaben, können wir anfangen, uns alternative Modelle vorzustellen, die hoffentlich einer ganz anderen Ökologie sozialer Innovationen den Boden bereiten.

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Der Weg, den es zu gehen gilt, zumindest für diejenigen unter uns, die an der Förderung einer demokratisch ausgerichteten digitalen Politik interessiert sind, scheint klar. Die beiden Elemente – die gesteigerte Selbstbeobachtung und der Einfallsreichtum kreativer Akteure –, die wir mit der Digitalisierung in Verbindung bringen, müssen gestärkt werden. Sie sind ein Teil der heutigen digitalen Landschaft, der zweifellos erhaltenswert ist. Ja, wir brauchen mehr Sensoren, mehr Analytik, mehr Datenverarbeitung. Und ja, wir brauchen mehr und einfachere Schnittstellen, die die Kosten für die Interaktion mit digitalen Systemen – und den Aufbau darauf – weiter senken. All diese Dinge können mit einer vorausschauenden und zielgerichteten Politik erreicht werden. Glücklicherweise gibt es keinen Mangel an Talenten – wenn die meisten von ihnen auch derzeit in der Privatwirtschaft beschäftigt sind –, die gerade solche Herausforderungen suchen.

Ohne geeignete Eingriffe in den politischen und wirtschaftlichen Bereich dürften solche Maßnahmen jedoch nur bloße Technologieverstärker bleiben, die früher oder später von den kommerziellen Plattformen übernommen werden. Daher brauchen wir zunächst einmal öffentliche Maßnahmen und Institutionen, durch welche es für die Menschen ebenso leicht und rational wird, aus nicht-marktlichen Motiven heraus zu handeln wie aus marktorientierten. Soziale Innovation ist ein zu wichtiger Prozess, um ihn den Unternehmern und dem Markt zu überlassen.

Der Weg der Veränderung führt aber nicht über eine Ächtung von Märkten und Unternehmertum, sondern es muss darum gehen, dafür zu sorgen, dass die digitalen Plattformen, auf die wir uns für unsere politischen und sozialen Aktivitäten verlassen, auch nicht-kommerziellen Ideen und Institutionen offen stehen. Es geht darum, das Repertoire und die Identitäten und Verhaltensweisen zu erweitern, die wir mit effektivem, digital vermitteltem Handeln in Verbindung bringen, anstatt für soziale Innovationen nur auf den kommerziellen Ansatz zu setzen, wie es heute der Fall ist. Wir müssen zu diesem Zweck keineswegs den Plattformen dieses oder jenes vorschreiben. Vielmehr geht es darum, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen, um entkommodifizierte, vom Markt entkoppelte Verhaltensweisen und Aktivitäten zu fördern und aufrechtzuerhalten, deren letztendlicher Zweck es ist, Solidarität, Altruismus und Zusammenarbeit zu fördern.

Wenn ich kein Start-up gründen will und es keine Risikokapitalgeber gibt, die sehen wollen, wie meine App oder Plattform alle ihre Konkurrenten verdrängt, wie stelle ich dann sicher, dass sich meine Standortinnovation über den gesamten Globus ausbreitet und eine Chance hat, auch an abgelegenen Orten angenommen zu werden? Und was motiviert mich überhaupt, diesen Weg zu gehen? Welche Art von institutioneller und sonstiger Unterstützung müsste zum Beispiel der modernisierte Wohlfahrtsstaat bieten, damit dieses Geschäft für mich politisch und wirtschaftlich attraktiv und überhaupt realisierbar ist?

Es gibt vermutlich keine richtigen oder falschen – und sicherlich keine einfachen – Antworten auf diese Fragen. Aber stellen wir sie nicht, werden wir wahrscheinlich nie herausfinden, welche Arten von demokratischen Innovationen uns entgangen sind, nur weil wir es noch nicht geschafft haben, unsere digitalen Infrastrukturen aus ihren derzeitigen Einsatzgebieten in der Wirtschaft und in der bürokratischen Verwaltung herauszulösen. Es geht nicht darum, einfach mehr Civic-Tech-Projekte zu finanzieren. Wir können nicht blind darauf vertrauen, dass solche Initiativen sich von selbst eine nicht-marktbezogene Nische in der globalen Wirtschaft erobern.

Die Aufgabe ist komplex: Es geht um den Aufbau von Institutionen außerhalb des Marktes, die in der Lage wären, die Art von Anziehungskraft zu entwickeln, die große Teile der digitalen Wirtschaft – und die zugrunde liegenden digitalen Infrastrukturen – mit sich reißt. Wie bereits erwähnt, wurden solche Institutionen schon einmal erfunden – es gibt den Wohlfahrtsstaat, es gibt kulturelle Einrichtungen, von Universitäten über Museen bis hin zu Forschungsinstituten. Zugegeben, diese waren im Laufe der Jahrhunderte nicht frei von Kontroversen, da sie in den Kolonialismus und viele andere unangenehme Hinterlassenschaften verwickelt waren. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass nur durch die Einrichtung, den Betrieb und die öffentliche Finanzierung solcher entkommodifizierten, nicht-marktwirtschaftlichen Institutionen langfristige institutionelle Alternativen angedacht und umgesetzt werden können. Hier muss die Digitalpolitik die größten Anstrengungen unternehmen. Andernfalls bleibt das große Potenzial der digitalen Technologien ungenutzt – so wie es heute der Fall ist.

Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff.

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ist Publizist, Internettheoretiker und Gründer und Herausgeber des Online-Newsletters "The Syllabus".
E-Mail Link: evgeny@the-syllabus.com