Die Geschichte der Entwicklungspolitik hat in den vergangenen Jahrzehnten einen beträchtlichen Aufschwung erlebt. Ihre historische Erforschung beginnt in den 1990er Jahren. Das Ende des Ost-West-Konflikts schwächte die bis dahin vorherrschenden ideologischen Legitimationsmuster und ließ Entwicklungspolitik erstmals als ein genuin historisches und historisierbares Phänomen erscheinen.
Eine zweite Zäsur in der Historiografie markierten die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001.
Bundesdeutsche Entwicklungspolitik
Die deutsche Politik stand und steht nicht im Zentrum der internationalen Erforschung von Entwicklung. Aufgrund der erzwungenen Entkolonialisierung nach dem Ersten Weltkrieg waren die personellen, institutionellen und kulturell-mentalen Überhänge der Kolonialepoche in Deutschland nach 1945 weniger deutlich erkennbar als im britischen, französischen oder niederländischen Fall. Lange Zeit galt die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik vor allem als Instrument der Außenwirtschaftspolitik, als Ausdruck der Bündnissolidarität im Kalten Krieg und als Produkt der sogenannten Hallstein-Doktrin, nach der die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR als „unfreundlicher Akt“ gegenüber der Bundesrepublik gewertet wurde. Neuere Forschungen betonen hingegen, dass die Anfänge bundesdeutscher Entwicklungspolitik nicht allein staatlich geprägt waren, sondern durch Kirchen, Verbände und Nichtregierungsorganisationen mitgestaltet wurden. Studien der Historiker Bastian Hein und Karsten Linne zeigen, dass Motive wie Mitleid, soziale Gerechtigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe zentral waren.
Die bislang vor allem auf die 1950er bis frühen 1970er Jahre fokussierten Studien werfen im Hinblick auf die übergeordneten Erkenntniszusammenhänge der internationalen historischen Forschung einige Fragen auf. Wenn man die deutsche Entwicklungshilfe im Sinne der älteren Forschung als Paradebeispiel einer aus der Systemlogik des Kalten Krieges resultierenden Politik begreift, ist schwer nachvollziehbar, wieso sie einerseits schon vor 1990 einem erheblichen Wandel in ihrer Konzeption und Legitimierung unterlag und andererseits die deutsch-deutsche Vereinigung und das Ende des Systemkonflikts vergleichsweise ungefährdet überdauerte. Auch wer mit der neueren Forschung die Kolonialreiche als ideologischen und praxeologischen Nährboden der Entwicklungspolitik betrachtet, wird in den deutschen Kolonien, die geografisch relativ eng begrenzt waren und nicht viel mehr als drei Jahrzehnte existierten, weniger fündig als im Falle anderer Länder. Deutsche imperiale Fantasien und Praktiken richteten sich vornehmlich auf Regionen in Ost(mittel)europa, die – zumindest im Kalten Krieg – außerhalb der Reichweite entwicklungspolitischer Aktivitäten lagen.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Verlängerung eines multikausalen Wirkungszusammenhangs, wie ihn Hein und Linne für die Anfänge der Entwicklungspolitik in der Bundesrepublik untersucht haben, als beste Ausgangshypothese.
Genese in der Ära Adenauer
Die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland entstand zwischen 1956 und 1961 vor dem Hintergrund des Wiederaufbaus und der Westbindung im Kalten Krieg. Zu Beginn war sie stark außenpolitisch bestimmt und eng mit den geopolitischen Interessen der Bundesrepublik verknüpft. Die Politik war geprägt von Abwehrmechanismen gegenüber dem Kommunismus und dem Versuch, die DDR international zu isolieren und zugleich die eigene Souveränität durch Integration in westliche Bündnissysteme auszubauen. Die ersten entwicklungspolitischen Initiativen entsprangen der Forderung der USA und alliierter Partner zur Lastenteilung im globalen Ost-West-Konflikt. Sie waren zugleich auch von außenwirtschaftlichen Motiven des auf Export setzenden westdeutschen Staates beeinflusst.
Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale entwickelten unterschiedliche ethische und politische Begründungen: Solidarität und Frieden waren Leitbegriffe der SPD, die CDU appellierte an christliche Werte, die FDP setzte auf wirtschaftsliberale Selbsthilfe. Mit der Gründung des Unterausschusses „Wirtschaftsentwicklung fremder Völker“ im Bundestag 1956 wurde die Entwicklungspolitik parlamentarisch institutionalisiert. Sie blieb als Aufgabe aber auf verschiedene Ministerien verteilt, was zu dauerhaften Ressortkonflikten führte. Während das Wirtschaftsministerium vor allem die Exportwirtschaft förderte, verstand das Auswärtige Amt Entwicklungspolitik als Instrument der Soft Power und außenpolitischer Einflussnahme. Die Bundesrepublik beteiligte sich zwar an internationalen Entwicklungsfonds, strebte aber vor allem bilaterale Programme an, um eigene Konditionen durchzusetzen und als Akteur auf der internationalen Bühne sichtbar zu werden.
Die ersten entwicklungspolitischen Schritte wurden von gesellschaftlichen Akteuren – vor allem Kirchen und parteinahen Stiftungen – entscheidend mitgestaltet. Initiativen wie „Misereor“ und „Brot für die Welt“ knüpften an die überkommene Missionsarbeit an, die sich im Zuge der Dekolonisation zu mehr karitativen Zielen praktischer Solidarität wandelte. Die Leitidee der „Hilfe zur Selbsthilfe“ etablierte sich früh als Konsens. Entwicklungspolitik sollte keine einseitige Zuwendung sein, sondern ein partnerschaftlicher Austausch.
Institutionelle Etablierung bis 1973
Die Gründung eines Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ, seit 1993 mit dem Zusatz „und Entwicklung“) im Jahr 1961 markierte einen Bruch mit der personen- und ressortgebundenen Koordination der 1950er Jahre. Sie schuf erstmals eine administrative Zentrale für das neue Politikfeld. In dieser Zeit wichen die Antagonismen des Kalten Krieges einer Atmosphäre der Entspannung. Im Zuge der Dekolonisierung rückten Afrika und Asien als Schauplätze globaler Konflikte in den Mittelpunkt. Die Zahl unabhängiger Staaten stieg. Die Bundesrepublik stand unter außenpolitischem Druck, sich im Wettbewerb der Systeme mit der DDR und den Ostblockstaaten in Afrika und Asien zu behaupten. Zunächst koppelte sie ihre Entwicklungshilfe daher an die Forderung, dass die Empfängerstaaten die DDR nicht anerkannten. Ab 1966, spätestens aber mit dem Machtwechsel 1969 und der neuen Ostpolitik der Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt verlor diese Verknüpfung an Bedeutung.
Die Etablierung des neuen Ministeriums verlief konfliktreich. Das Wirtschafts- und das Außenministerium stritten weiter um Kompetenzen und die politische Ausrichtung. Das BMZ startete als Koordinationsstelle mit begrenzten Befugnissen und einer geringen personellen Ausstattung. Doch bereits in den ersten Jahren gelang es, den Apparat auszubauen. Dafür wurden Beamte aus anderen Ressorts abgeworben und andere neu eingestellt. So stieg die Zahl der Beschäftigten innerhalb eines Jahrzehnts von den ursprünglich geplanten 34 auf über 300. Neben Juristen und Ökonomen wurden – stärker als in anderen Ministerien – auch Ethnologen, Sozialwissenschaftler sowie Praktiker aus Nichtregierungsorganisationen und Kirchen eingestellt.
Mit der Konsolidierung des BMZ begann ein Professionalisierungsprozess. Das Ministerium schuf regelmäßige Ausbildungswege und institutionalisierte mit dem Wissenschaftlichen Beirat im Jahr 1963 eine systematische Beratung. Es bemühte sich, die Entwicklungspolitik auf sozialwissenschaftliche und ökonomische Kriterien zu gründen sowie regionale und projektbezogene Schwerpunktsetzungen auf Basis quantifizierbarer Daten von UN, Weltbank und OECD zu definieren. Gleichzeitig wuchs ein dichtes Geflecht aus nachgeordneten Behörden, Durchführungsorganisationen und gesellschaftlichen Initiativen, innerhalb dessen sich die bundesdeutsche Entwicklungszusammenarbeit immer weiter ausdifferenzierte. Bis 1973 blieben Konflikte und Ressortkämpfe prägend, etwa beim Streit mit dem Finanzministerium über die Vergabe von Kapitalhilfe oder bei der Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt über Technische Hilfe. Erst 1973 erreichte das BMZ die (fast) vollständige Federführung über alle Entwicklungsprojekte und die Verfügung über 95 Prozent seines Etats. Damit wurde das Ministerium endgültig zum Gravitationszentrum der Bonner Entwicklungspolitik.
Entwicklungspolitik im Zeitalter der Ölkrisen
Nach 1973 veränderten sich die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen der deutschen Entwicklungspolitik. Die drastische Erhöhung der Ölpreise 1973 und 1979 und der damit verbundene Aufstieg der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) verschoben die Machtverhältnisse auf den internationalen Märkten. Viele Entwicklungsländer gerieten in Finanzierungsnöte. Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Versorgungskrisen in der Dritten Welt spitzten sich zu. Konflikte im Nahen Osten und die Hungersnot in der Sahelzone unterstrichen die Verwundbarkeit globaler Versorgungsketten, während der Club of Rome mit seinem Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ das Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewusstsein auch in der Entwicklungspolitik verstärkte. Die Vorstellung einer einheitlichen Dritten Welt wich einer Differenzierung in verschiedene Gruppen von Entwicklungsländern: von rohstoffexportierenden Staaten über Schwellenländer bis zu den ärmsten Staaten ohne Zugang zu den Weltmeeren und globalen Märkten. Migration, Urbanisierung und strukturelle Arbeitslosigkeit avancierten zu zentralen Problemen, ebenso wie Umweltzerstörung und der demografische Wandel.
Der Regierungswechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt 1974 markierte einen Kurswechsel. Der Idealismus der frühen 1970er Jahre, in denen Bundesminister Erhard Eppler Entwicklungspolitik als globale Friedens- und Sozialpolitik gestaltet hatte, wurde durch eine pragmatischere Orientierung an nationalen Interessen, Rohstoffsicherung und exportwirtschaftlicher Stabilität abgelöst. Epplers Nachfolger sahen sich mit wachsender Kontrolle durch Haushalts- und Finanzpolitik sowie einer latenten gesellschaftlichen Skepsis konfrontiert. Ministerielle Kompetenzen und interministerielle Kooperationen wurden einer strategischen Neubewertung unterzogen. Die Grundbedürfnisstrategie als neue konzeptionelle Leitlinie fokussierte auf Armutsbekämpfung, landwirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau der Infrastruktur in besonders bedürftigen Ländern.
Gleichzeitig verlagerten sich die Gewichte in der internationalen Politik. Die Bundesrepublik trat den Vereinten Nationen im Jahr 1973 zu einem Zeitpunkt bei, als afrikanische Staaten aufgrund der Entkolonialisierung zahlreicher geworden waren und entsprechend größeres Gewicht gewonnen hatten. Die Beziehungen zur Dritten Welt wurden nicht mehr primär im Kontext der Deutschlandpolitik betrachtet, sondern als integraler Bestandteil der deutschen Außen-, Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik. Mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), dem Europäischen Rat oder den G7 entstanden neue Foren politischer Koordination. Zusammengenommen schärften diese Veränderungen das Bewusstsein für ein „Zeitalter der Interdependenz“, in dem die Bundesrepublik auch ihre Entwicklungspolitik stärker multilateral ausrichtete.
Entwicklungspolitische Ernüchterung in den 1980er Jahren
Im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren gab es in der entwicklungspolitischen Konzeption und Praxis sowohl Kontinuitäten als auch Umbrüche. In den 1970er Jahren war Entwicklungshilfe vor allem als Beitrag zur Armutsbekämpfung und zur Schaffung stabiler Verhältnisse in der Dritten Welt betrachtet worden. Mit dem Übergang in die 1980er Jahre vollzog sich jedoch ein Wandel. Die ökonomische Krise in den Industriestaaten, die zunehmende Verschuldung vieler Empfängerstaaten, die weiterwachsende Heterogenität innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer, eine neuerliche Verschärfung des Ost-West-Konflikts sowie der Regierungswechsel in Bonn veränderten die Ausrichtung der westdeutschen Entwicklungspolitik. Nun standen marktwirtschaftliche Reformen, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Exportinteressen der westdeutschen Wirtschaft sowie sicherheits- und bündnispolitische Überlegungen im Zeichen eines „zweiten Kalten Krieges“ im Mittelpunkt. Die internationalen Handlungsspielräume für die westdeutsche Entwicklungspolitik verengten sich.
Der Wandel war unter anderem eine Folge enttäuschter Erwartungen an rasche und tiefgreifende Verbesserungen. Anstelle einer durchschlagenden Emanzipation der Dritten Welt waren neue, teils ungewollte Abhängigkeiten entstanden. Wirtschaftliche Krisen, politische Repression, explodierende Schulden und gescheiterte Großprojekte legten die Vermutung nahe, dass Hilfe von außen die strukturellen Probleme, politischen Instabilitäten und sozialen Ungleichheiten in den Entwicklungsländern kaum dauerhaft überwinden konnte. Insbesondere wegen der Hungerkatastrophe in Äthiopien rückten Hunger und Armut stärker in den Mittelpunkt.
Unter der christlich-liberalen Regierung gewann der Gedanke Auftrieb, Entwicklungshilfe wieder stärker sicherheits- und bündnispolitisch auszurichten. Die neue Akzentsetzung auf humanitäre Hilfe war Ausdruck einer gewissen Entpolitisierung der Entwicklungspolitik und signalisierte eine Verschiebung weg von strukturellen Fragen hin zu stärker moralisch aufgeladenen Deutungen.
Neue Herausforderungen und gestiegene Erwartungen nach 1990
Obwohl die westliche Entwicklungspolitik (auch) ein Produkt des Kalten Krieges war, führten das Ende des Ost-West-Konflikts und der Zerfall der Sowjetunion in den Jahren 1990/91 nicht zur Einstellung der entwicklungspolitischen Bemühungen in der Bundesrepublik. Beim Umgang mit dem entwicklungspolitischen Erbe des SED-Staates überwog vielmehr der Wunsch, die bestehenden Institutionen und Maßnahmen der Internationalen Solidarität der DDR weitestgehend abzuschaffen und die westdeutschen Projekte und Programme fortzuführen. Dennoch hatte der weltpolitische Umbruch von 1989/90 weitreichende Folgen für die deutsche Entwicklungspolitik. Er veränderte das internationale Koordinatensystem, in dem sie operierte, grundlegend. Mit der deutschen Einheit und dem Zerfall des sowjetischen Machtbereiches wurde Deutschland vom Frontstaat des Kalten Krieges zur Macht in der Mitte Europas, mit erweiterten Handlungsoptionen und im Fokus gesteigerter internationaler Erwartungen.
Das Ende des Ost-West-Konflikts ermöglichte Entwicklungshilfe in zuvor verschlossenen Ländern. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde auf die postsowjetischen Staaten Osteuropas, des Kaukasus und Zentralasiens ausgeweitet, deren Stabilität und Transformation als sicherheitspolitisch relevant galten. Hilfszahlungen an Russland dienten nicht nur der wirtschaftlichen Unterstützung, sondern auch der Absicherung des Abzugs sowjetischer Truppen und der Vermeidung von Fluchtbewegungen aus dem Osten. Kriege und Krisen im Nahen Osten, in Ostafrika und auf dem Balkan stellten neue Anforderungen an das Krisenmanagement, die humanitäre Hilfe und die Konfliktprävention. Zugleich wurde in Somalia, Ruanda und Bosnien deutlich, wie begrenzt die Möglichkeiten internationaler Friedensmissionen waren und welche Schwierigkeiten effektiven Hilfs- und Schutzmechanismen entgegenstanden.
In einem veränderten internationalen Kontext setzte Deutschland noch stärker auf Multilateralismus im Rahmen regelbasierter Ordnungsmodelle der Europäischen Union, der Vereinten Nationen und deren Weltkonferenzen.
Zwischen globaler Strukturpolitik und der Suche nach Sicherheit
Nach 1998 postulierte die neue rot-grüne Bundesregierung eine enge Verbindung von Entwicklungspolitik, Friedenspolitik und globaler Gerechtigkeit. Die damalige Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul betonte die Rolle Deutschlands bei der Mitgestaltung internationaler Ordnungen, Regeln und Strukturen, die weltweit zu gerechteren Lebensverhältnissen, nachhaltiger Entwicklung und friedlichen Konfliktlösungen beitragen sollten. Entwicklungspolitik wurde nicht länger als reine Armutsbekämpfung verstanden, sondern als aktive Mitgestaltung globaler Rahmenbedingungen, um strukturelle Ungleichheiten auf internationaler Ebene und im Welthandel anzugehen. Zentral war der Anspruch, den Schwellen- und Entwicklungsländern die Chancen der Globalisierung zugänglich zu machen. Als globale Strukturpolitik zielte Entwicklungspolitik auf die Etablierung einer sozial gerechten Weltordnung. Dazu gehörten fairere Handelsbeziehungen, umfassende Armutsstrategien, globale Umweltstandards, die soziale Verantwortung von Unternehmen und die Förderung multilateraler Lösungen.
Die Anschläge vom 11. September und ihre Folgen durchkreuzten die ambitionierten Pläne der Bundesregierung. Sicherheitsaspekte, deren Einschreibung in den Aufgabenbereich der Entwicklungspolitik schon in den 1990er Jahren begonnen hatte, traten stärker nach vorne. Semantische Verschiebungen wurden organisatorisch umgesetzt, als die Entwicklungsministerin 1998 in den Bundessicherheitsrat kooptiert wurde. Die damaligen Debatten um eine strategische Neuorientierung der Bundesrepublik im Sinne einer Vernetzung aller für ihre Außenbeziehungen relevanten Politikfelder unter Einschluss der Entwicklungspolitik nahmen in gewisser Weise vorweg, was seit Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine im Februar 2022 als „Zeitenwende“ deutscher Politik diskutiert wird.
Ein Schnelldurchlauf durch siebzig Jahre deutsche Entwicklungspolitik zeigt: Ihre Geschichte ist mehr als die Genese eines einzelnen Ministeriums. Sie bildet die Wandlungen des Weltverständnisses unseres Gemeinwesens und seiner geopolitischen Positionierungen ab. Sie vermisst die Ansichten über den Platz der Bundesrepublik in der Weltwirtschaft und die dort geltenden Regeln sowie den Raum, den langfristige Hilfsmaßnahmen in der internationalen Politik einnehmen sollten. Sie ist zugleich auch ein Spiegel innenpolitischer Positionskämpfe und gesellschaftlicher Selbstverständigungsdebatten. Die Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik zeugt von einem zeitweise breiten politischen Konsens und langen Kontinuitätslinien. Zugleich ist sie von Kontrasten und Widersprüchen geprägt. Was genau Entwicklungspolitik war und was nicht, was sie bewirken konnte und wollte, war von Beginn an umstritten – und ist es bis heute.