Derzeit zu bewältigende globale Krisen sind multipel und komplex: ökologische und klimatische Katastrophen, geopolitische Verschiebungen, sich verschärfende soziale Ungleichheiten und Konflikte und ihre jeweiligen Verschränkungen. Jahrelang diskursiv mit einem Heilsversprechen verknüpft, steht Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Während die internationale Staatengemeinschaft ihre Strategien im Rahmen der Agenda 2030 mit ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) als Beitrag zu Nachhaltigkeit und „Partnerschaft auf Augenhöhe“ präsentiert, weisen postkoloniale Stimmen darauf hin, dass Praktiken und Narrative der EZ weiterhin tief in kolonialen Denkmustern verwurzelt bleiben. So hat die Diskussion um eine „Dekolonisierung von Entwicklung“ in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Ministerien, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und multilateralen Organisationen.
Gleichzeitig gerät EZ auch von anderer Seite unter Druck. Rechtspopulistische Bewegungen und Regierungen – darunter nicht nur die zweite US-Administration unter Präsident Donald Trump mit ihrer massiven Kürzung von Official Development Assistance (ODA) und der Auflösung der staatlichen US-Entwicklungsbehörde USAID – stellen internationale Entwicklungskooperation grundsätzlich in Frage.
Internationale EZ umfasst eine Vielzahl an staatlichen, internationalen, zivilgesellschaftlichen und privaten Akteuren, die in ihrer Breite und Vielfalt an dieser Stelle nicht ausführlich abgebildet werden können. Wir fokussieren uns daher vorwiegend auf staatliche Akteure, weil sie den größten politischen und finanziellen Einfluss auf die globale Entwicklungsagenda ausüben. Zudem spiegeln staatliche Initiativen Zielkonflikte und Machtverhältnisse im Kontext geopolitischer Interessen, EZ und globaler Ungleichheit besonders deutlich wider.
Im Folgenden skizzieren wir zunächst den theoretischen und historischen Rahmen, in dem aus unserer Sicht „Entwicklung“
Verschiedene Versionen der „Entwicklungsgeschichte“
Die nigerianische Schriftstellerin und Aktivistin Chimamanda Adichie weist ihn ihrem TED-Talk „The Danger of a Single Story“
Die von US-Präsident Harry S. Truman geprägte Version formulierte die „Entwicklung der unterentwickelten Gebiete“ als Priorität und forderte, die „Vorteile unserer wissenschaftlichen Fortschritte und unseres industriellen Fortschritts für die Verbesserung und das Wachstum der unterentwickelten Gebiete verfügbar zu machen“.
Dass die Geschichte in der Tat komplexer ist und ihre Erzählung früher beginnen sollte, zeigt der afrokaribisch-französische Schriftsteller Aimé Césaire in seinem Essay „Über den Kolonialismus“. Dort spricht er von „Gesellschaften, die ihres Wesens beraubt sind, von Kulturen, die mit Füßen getreten werden, von Institutionen, die untergraben werden, von geraubten Ländereien“.
Post- und dekoloniale Perspektiven auf „Entwicklung“
Ausgehend hiervon hat post- und dekoloniale Kritik in den letzten Jahren zunehmend Sichtbarkeit im Mainstreamdiskurs erlangt.
Ausgehend von der Diagnose, dass „Entwicklung“ gescheitert sei, fordern Kritiker*innen Alternativen zur „Entwicklung“ und plädieren für die Anerkennung lokaler Wissenssysteme und nicht-westlicher Lebens- und Gesellschaftsmodelle.
Deutsche und europäische EZ: kolonial oder postkolonial?
Wissenschaft, NGOs, aber auch staatliche Akteure wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) integrieren Begriffe wie Dekolonisierung, Kolonialität und Intersektionalität zunehmend, zumindest rhetorisch, in ihre Programmatik.
Das BMZ veröffentlichte im März 2023, in der Amtszeit von Ministerin Svenja Schulze, ein Strategiepapier für eine feministische Entwicklungspolitik.
Die Bilanz von Schulzes Amtszeit fällt ambivalent aus. Mit der feministischen Entwicklungspolitik setzte sie neue normative Maßstäbe und öffnete den Diskurs für postkoloniale und intersektionale Perspektiven. Gleichzeitig blieb die institutionelle Transformation begrenzt. Tatsächlich ist fraglich, ob eine feministische (Entwicklungs-)Politik ohne eine Infragestellung der Grundsätze des globalen Wirtschaftssystems überhaupt möglich ist
Mit dem Regierungswechsel im Mai 2025 deutete sich wiederum eine Neuorientierung an. Schulzes Nachfolgerin Reem Alabali Radovan übernahm das Amt in einem herausfordernden Kontext. So war zuvor nicht nur die Eigenständigkeit des BMZ infrage gestellt und der Etat erneut gekürzt worden, sondern die USA zogen sich auch weitgehend aus der internationalen Entwicklungs- und Verteidigungspolitik zurück. Vor diesem Hintergrund kündigte Alabali Radovan eine Neuaufstellung deutscher Entwicklungspolitik an. Es gehe, so die Ministerin, darum, „Entwicklungspolitik im Dreiklang mit Außen- und Verteidigungspolitik als nachhaltige Sicherheitspolitik aus[zu]buchstabieren“.
Wie sich Alabali Radovans Programm in den nächsten Jahren in der Praxis ausgestaltet, bleibt abzuwarten, es steht allerdings zu befürchten, dass der Versuch einer explizit postkolonialen Ausrichtung möglicherweise der Vergangenheit angehört. „Entwicklung“ wird diskursiv deutlich als sicherheitspolitisches und wirtschaftsstrategisches Handlungsfeld und unmissverständlich innerhalb der Interessen des Globalen Nordens gesetzt. Die fortgesetzte Rhetorik von Partnerschaft und Nachhaltigkeit verdeckt, dass asymmetrische Abhängigkeiten fortbestehen und sich geopolitische Machtverhältnisse in neuer Form stabilisieren.
Gleichzeitig lässt sich festhalten, dass auch in den vergangenen Jahren zwischen rhetorischem Wandel und realer Umverteilung von Macht, Ressourcen und epistemischer Autorität eine deutliche Diskrepanz bestand. Beispielhaft sei hier auf die deutsche Afrikapolitik sowie auf Deutschlands Rolle in der globalen Ressourcenausbeutung verwiesen.
Tatsächlich hat wirtschaftliche Zusammenarbeit zur Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen schon länger Priorität in der deutschen EZ, insbesondere seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. „Grüner Kolonialismus“ beschreibt die Fortsetzung kolonialer Abhängigkeitsverhältnisse im Kontext der globalen Energiewende, bei der Länder des Globalen Nordens ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen auf den Zugang zu strategischen Rohstoffen fokussieren.
Auch die deutsche und europäische Afrika-Strategie lässt sich vor diesem Hintergrund einordnen.
Auch auf EU-Ebene ist die Unterstützung partnerschaftlicher Beziehungen zum Süden bislang bestenfalls rhetorisch. Strategien wie die Global Gateway Initiative betonen zwar Augenhöhe, verfolgen jedoch weithin geopolitische Interessen (etwa im Wettbewerb mit China). Obwohl die EU die Vorteile für alle Akteure betont, entstehen auch hier Zielkonflikte zwischen den formulierten Prinzipien der europäischen EZ (Bekämpfung von Armut, Eigenverantwortung der Partnerländer, inklusive und transparente Regierungsführung) und den tatsächlich verfolgten Interessen.
Die Annahme, dass die Interessen des Globalen Nordens deckungsgleich mit denen des Globalen Südens seien, bietet mehrere Ansatzpunkte für postkoloniale Analyse. So ist, erstens, der definierte Rahmen von erstrebenswertem Wandel klar abgegrenzt. Erinnern wir uns an Truman und Rostow, ist das Ziel der Interventionen auch hier, mit strategischen Investitionen auf dem vom Westen vorgegebenen Pfad voranzukommen, der ein marktliberales Wirtschaftsmodell voraussetzt. Gleichzeitig wird, zweitens, angenommen, dass die entsprechenden Partnerländer über keine adäquaten eigenen Wissensbestände verfügen und so eine Form von Treuhandschaft zum Schließen der identifizierten „Infrastrukturlücken“ offenbar nötig ist. Nicht zuletzt erinnert, drittens, das unverhohlene Interesse an Energie- und Rohstoffzugängen und insbesondere die Inkaufnahme der desaströsen Folgen für lokale Bevölkerung und Natur an koloniale Akkumulationen. Eine Win-win-Situation für alle Seiten steht zu bezweifeln, solange die globalen Wirtschafts- und Finanzstrukturen und -institutionen unverändert bleiben.
„Entwicklung“ ist gescheitert?! Entwicklungspolitische Zeitenwenden
Das Ende von „Entwicklung“ haben Postdevelopment-Proponent*innen bereits seit den 1980er Jahren proklamiert. Gleichzeitig stand die EZ der vergangenen Jahrzehnte, insbesondere vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Klimakrise, unter dem Leitbild von Partnerschaft, Kooperation und gemeinsamer Verantwortlichkeit. Die Agenda 2030 formulierte den Anspruch, dass alle Länder angesichts globaler Herausforderungen als Entwicklungsländer zu verstehen seien. Zwar wurde kritisiert, dass Kooperation unter Effizienzvorzeichen nicht zwangsläufig eine Normenannäherung oder -veränderung mit sich bringt und „funktionalistische Modernisierung und mehr Gerechtigkeit kaum zugleich und zu gleichen Teilen erreichbar sind“.
Während der bisherige Konsens EZ als Form aufgeklärten Eigeninteresses versteht, die durch Kooperation langfristig Sicherheit und Wohlstand auf beiden Seiten schafft, markiert Trumps Rückzug aus der EZ einen Bruch mit dieser Logik. Auch andere rechte Regierungen und Parteien (Viktor Orbán in Ungarn, Giorgia Meloni in Italien, die PiS in Polen und die AfD in Deutschland) setzen zunehmend auf nationale Abschottung und betrachten internationale Zusammenarbeit als Kosten statt (um in der Logik zu bleiben) als Investition. Damit verschiebt sich das Paradigma von global geteilter Verantwortung hin zu einer Politik, die Kooperation zugunsten innenpolitischer Machtgewinne und nationaler Exklusivinteressen zurückdrängt, in den Worten von Andy Sumner und Stephan Klingebiel von einem „liberal multilateralism“ zu einem „nationalist conditionality regime“.
Mitnichten ist dies aber nun das Ende von „Entwicklung“ im Sinne eines Postdevelopment. Die Abwicklung von „Entwicklung“ wurde hier nie ohne die Vision der Fülle von Alternativen zur Entwicklung vorgebracht, die eine gemeinsame Basis von Solidarität, Konvivialität, Demokratie und Kooperation teilen. Gleichzeitig hat das abrupte Ende der USAID-Programme gezeigt, dass EZ derzeit humanitär an vielen Orten noch gebraucht wird. Entwicklungshilfen, wie geschehen, von heute auf morgen zu streichen, ist daher keine progressive Strategie, lässt sie doch den globalen Kapitalismus und die wirtschaftlichen Strukturen, die in großem Ausmaß Reichtum und Elend erzeugen, unberührt.
Wie also nun weiter? Eine konstruktive Haltung könnte sich an der Strategie der humanitären Organisation „medico international“ orientieren, die sich zum Ziel setzt, Hilfe gleichzeitig zu verteidigen, kritisch zu analysieren und letztlich zu überwinden. Übertragen auf die Zukunft von „Entwicklung“ bedeutet dies, dass EZ so lange verteidigt werden muss, wie sie, trotz allem, zur Stärkung von Emanzipation, Demokratie und Selbstbestimmung beiträgt. Zugleich bleibt es notwendig, sie dort kritisch zu hinterfragen, wo sie koloniale Kontinuitäten und Machtasymmetrien fortschreibt oder als Instrument geopolitischer Interessen fungiert. Entscheidend ist die Gleichzeitigkeit: Es gilt, an demokratischen, sozial-ökologischen und dekolonialen Formen des Zusammenlebens zu arbeiten, die langfristig dazu beitragen können, die EZ als Institution überflüssig zu machen. Trotz aller Kritik ist es angesichts des erstarkenden Nationalismus und Autoritarismus zentral, die emanzipatorischen Elemente der EZ aktiv zu verteidigen.
Fazit
Wie steht es nun also um die EZ aus postkolonialer Sicht? Festzuhalten ist, dass Entwicklungszusammenarbeit neokoloniale Machtasymmetrien und die Abhängigkeit des Globalen Südens von externen Kapital- und Wissensstrukturen reproduziert, wenn sie primär an Wachstumslogiken, Freihandel, Investitionssicherung und geopolitischen Interessen ausgerichtet bleibt. Aktuelle Konfliktlinien, etwa der europäische Zugriff auf Rohstoffe für die sogenannte grüne Transformation, das Spannungsverhältnis zwischen Freihandel und lokaler Wertschöpfung oder die Dominanz ausländischer Investoren, verdeutlichen einmal mehr, dass Dekolonisierung nicht allein eine Frage neuer Narrative, sondern realer Machtverhältnisse ist. Eine zukünftige EZ müsste daher vor allem auf globale Umverteilung, Reparationen und die Stärkung lokaler Selbstbestimmung setzen und den Anspruch, die Welt entsprechend einer universellen Version zu „entwickeln“, durch das Ziel ersetzen, Beziehungen demokratisch, gerecht, vielfältig und reziprok zu gestalten. Vor dem Hintergrund des globalen Rechtsrucks und der politischen Fokussierung auf nationale Interessen erscheint die Utopie einer „Welt der vielen Welten“, in der unterschiedliche Lebensweisen gleichberechtigt und solidarisch koexistieren, zunehmend schwer vorstellbar. In diesem Sinne ist es aus einer postkolonialen und gerechtigkeitsorientierten Perspektive notwendig, wenn auch paradox, EZ zunächst zu verteidigen, um solidarisch für eine gerechte, antirassistische, antifaschistische, demokratische globale Gesellschaft einzutreten.