Themen Mediathek Shop Lernen Veranstaltungen kurz&knapp Die bpb Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen Mehr Artikel im

EZ (post)kolonial | Entwicklungszusammenarbeit | bpb.de

Entwicklungszusammenarbeit Editorial Deutsche Entwicklungspolitik im Wandel Entwicklungszusammenarbeit. Strukturen, Wirksamkeit, Reformbedarf EZ (post)kolonial Feministische Entwicklungszusammenarbeit Entwicklungspolitik in der neuen Weltunordnung. Die USA als verlorene Ordnungsmacht Chinas Entwicklungszusammenarbeit Asymmetrie und Aushandlung. Ghanaisch-deutsche Entwicklungszusammenarbeit seit 1957

EZ (post)kolonial

Julia Schöneberg Aram Ziai

/ 15 Minuten zu lesen

Trotz einer zunehmenden Sichtbarkeit postkolonialer Kritik wurzeln Praktiken und Narrative der Entwicklungszusammenarbeit weiterhin tief in kolonialen Denkmustern. Zukünftige Entwicklungszusammenarbeit sollte daher auf globale Umverteilung und lokale Selbstbestimmung setzen.

Derzeit zu bewältigende globale Krisen sind multipel und komplex: ökologische und klimatische Katastrophen, geopolitische Verschiebungen, sich verschärfende soziale Ungleichheiten und Konflikte und ihre jeweiligen Verschränkungen. Jahrelang diskursiv mit einem Heilsversprechen verknüpft, steht Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Während die internationale Staatengemeinschaft ihre Strategien im Rahmen der Agenda 2030 mit ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) als Beitrag zu Nachhaltigkeit und „Partnerschaft auf Augenhöhe“ präsentiert, weisen postkoloniale Stimmen darauf hin, dass Praktiken und Narrative der EZ weiterhin tief in kolonialen Denkmustern verwurzelt bleiben. So hat die Diskussion um eine „Dekolonisierung von Entwicklung“ in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Ministerien, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und multilateralen Organisationen.

Gleichzeitig gerät EZ auch von anderer Seite unter Druck. Rechtspopulistische Bewegungen und Regierungen – darunter nicht nur die zweite US-Administration unter Präsident Donald Trump mit ihrer massiven Kürzung von Official Development Assistance (ODA) und der Auflösung der staatlichen US-Entwicklungsbehörde USAID – stellen internationale Entwicklungskooperation grundsätzlich in Frage. Auch in Europa ist ein diskursiver Wandel zu beobachten, bei dem EZ zunehmend als Mittel der Migrationsabwehr instrumentalisiert wird. Damit befindet sich EZ im Spannungsfeld zweier gegensätzlicher, jedoch gleichermaßen fundamentalkritischer Pole: Während post- und dekoloniale Stimmen auf mehr globale Gerechtigkeit und Machtkritik drängen, nutzen rechtspopulistische Akteure ähnliche Krisendiagnosen, um Solidarität, Kooperation und globale Verantwortung zu delegitimieren.

Internationale EZ umfasst eine Vielzahl an staatlichen, internationalen, zivilgesellschaftlichen und privaten Akteuren, die in ihrer Breite und Vielfalt an dieser Stelle nicht ausführlich abgebildet werden können. Wir fokussieren uns daher vorwiegend auf staatliche Akteure, weil sie den größten politischen und finanziellen Einfluss auf die globale Entwicklungsagenda ausüben. Zudem spiegeln staatliche Initiativen Zielkonflikte und Machtverhältnisse im Kontext geopolitischer Interessen, EZ und globaler Ungleichheit besonders deutlich wider.

Im Folgenden skizzieren wir zunächst den theoretischen und historischen Rahmen, in dem aus unserer Sicht „Entwicklung“ als Konzept, Diskurs und politische Praxis aus postkolonialer Perspektive zu verorten ist. Weiterhin betrachten wir Wirkungen postkolonialer Debatten auf die Praktiken deutscher und europäischer EZ und ihre aktuellen Konfliktlinien. Abschließend wagen wir einen Ausblick auf die Zukunft der EZ.

Verschiedene Versionen der „Entwicklungsgeschichte“

Die nigerianische Schriftstellerin und Aktivistin Chimamanda Adichie weist ihn ihrem TED-Talk „The Danger of a Single Story“ auf die Gefahren einseitiger Narrative hin, die Komplexitäten und Vielfalt ausblenden und damit Machtstrukturen, Rassismen und Stereotype reproduzieren und festigen. Auch die Geschichte über „Entwicklung“, zu verstehen als diskursiver Rahmen, in dem seit Mitte des 20. Jahrhunderts über globale Ungleichheit und positiven sozialen Wandel im Globalen Süden gesprochen wurde, lässt sich auf unterschiedliche Weise erzählen.

Die von US-Präsident Harry S. Truman geprägte Version formulierte die „Entwicklung der unterentwickelten Gebiete“ als Priorität und forderte, die „Vorteile unserer wissenschaftlichen Fortschritte und unseres industriellen Fortschritts für die Verbesserung und das Wachstum der unterentwickelten Gebiete verfügbar zu machen“. Der Ökonom Walt W. Rostow verfasste passend dazu die „Fünf Stadien der wirtschaftlichen Entwicklung“. Zugrunde liegen diesem Modell die kapitalistischen Versprechen von Wachstum, Modernisierung und Fortschritt nach dem Vorbild der US-amerikanischen Konsumgesellschaft. Armut und vermeintliche Unterentwicklung werden so zu einem technischen Problem, das durch westlichen Fortschritt und Expertise gelöst werden kann und durch einen Mangel an beidem verursacht wird.

Dass die Geschichte in der Tat komplexer ist und ihre Erzählung früher beginnen sollte, zeigt der afrokaribisch-französische Schriftsteller Aimé Césaire in seinem Essay „Über den Kolonialismus“. Dort spricht er von „Gesellschaften, die ihres Wesens beraubt sind, von Kulturen, die mit Füßen getreten werden, von Institutionen, die untergraben werden, von geraubten Ländereien“. Gleichzeitig macht die historische Aufarbeitung des transatlantischen Sklavenhandels deutlich, dass Sklaverei, Sklavenhandel und koloniale Enteignung die Grundlage für Europas wirtschaftliche Entwicklung legten. „Entwicklung“ ist damit weder ein technisches, unpolitisches oder neutrales noch ein philanthropisches Unterfangen. Gurminder Bhambra, Professorin für historische Soziologie, formuliert dies so: „Die untrennbare Verflechtung der Rhetorik der Moderne (Fortschritt, Entwicklung, Wachstum) und der Logik der Kolonialität (Armut, Elend, Ungleichheit) muss im Mittelpunkt jeder Diskussion über die gegenwärtigen globalen Ungleichheiten stehen.“ In anderen Worten: Wenn das Ziel von EZ die Bekämpfung von Armut und globaler Ungleichheit ist, kann jegliches Handeln nur effektiv sein, wenn es die Ursachen bekämpft und nicht nur die Symptome. Im Kern muss die Frage nach den Wurzeln globaler struktureller Ungleichheiten und ihrer historisch bedingten Ursachen stehen.

Post- und dekoloniale Perspektiven auf „Entwicklung“

Ausgehend hiervon hat post- und dekoloniale Kritik in den letzten Jahren zunehmend Sichtbarkeit im Mainstreamdiskurs erlangt. Kritiker*innen sind sich einig, dass Praxis und Wissen über „Entwicklung“ weiterhin von westlich-universalistischen Vorstellungen geprägt und in globalen Agendasetzungen wie den SDGs normativ verankert bleiben. Postdevelopmentkritik, seit den 1980ern vorgetragen, ist nicht homogen, lässt sich aber dennoch im Kern in fünf Punkten zusammenfassen: Entwicklungspolitik nimmt, erstens, die Lebensweise westlicher Industriegesellschaften als den Gradmesser für ein „gutes Leben“ an, entpolitisiert, zweitens, globale Abhängigkeiten und sozioökonomische Ungleichheiten als technisch lösbare Entwicklungsprobleme, legitimiert, drittens, Machtasymmetrien zwischen sogenannten Expert*innen und den zu Entwickelnden, setzt, viertens, westliches Wissen als Standard voraus und ist, fünftens, patriarchal geprägt.

Ausgehend von der Diagnose, dass „Entwicklung“ gescheitert sei, fordern Kritiker*innen Alternativen zur „Entwicklung“ und plädieren für die Anerkennung lokaler Wissenssysteme und nicht-westlicher Lebens- und Gesellschaftsmodelle. Viele dieser möglichen Alternativen teilen ein grundlegendes Verständnis davon, was ein gutes Leben ausmachen könne: Einheit von menschlicher und nicht-menschlicher Existenz, Konvivialität und Interdependenz, Autonomie und Selbstverwaltung. Sie üben Kritik an der Logik und den Folgen des Kapitalozäns, des (neo-)extraktivistischen Wirtschaftens sowie am unreflektierten Glauben an euro-modernistische Ideologien von Fortschritt und Wachstum. Allerdings wird hier ein Spannungsfeld zwischen Transformationen innerhalb der bestehenden Entwicklungsstrukturen und radikaler Alternativen außerhalb deutlich. So werden zentrale Aspekte der im kapitalistischen System verankerten Ausbeutung kaum praktisch adressiert: die Arbeits-/Kapital-Beziehungen, der Besitz der Produktionsmittel, ungleiche globale Liefer- und Produktionsketten sowie Aneignungs- und Akkumulationsprozesse.

Deutsche und europäische EZ: kolonial oder postkolonial?

Wissenschaft, NGOs, aber auch staatliche Akteure wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) integrieren Begriffe wie Dekolonisierung, Kolonialität und Intersektionalität zunehmend, zumindest rhetorisch, in ihre Programmatik. Gleichzeitig besteht die Gefahr von Kooptation und Entpolitisierung post- und dekolonialer Forderungen, sofern diese nicht auch materiell und strukturell umgesetzt werden.

Das BMZ veröffentlichte im März 2023, in der Amtszeit von Ministerin Svenja Schulze, ein Strategiepapier für eine feministische Entwicklungspolitik. Dieses Papier ist im Kontext einer Reihe weiterer Veröffentlichungen in dieser Hinsicht zu sehen. So formulierte das deutsche Außenministerium im selben Zeitraum Grundsätze für eine feministische Außenpolitik, und auch in anderen Ländern (unter anderem Schweden, Spanien, Kanada, Frankreich) gab es vergleichbare Bestrebungen. Während etwa Kanada oder Frankreich ihre Strategien auf Entwicklungspolitik und Diplomatie begrenzten und übergreifende Themen wie Handel, Klima, aber auch nationale und ministerielle Strukturen ausklammerten, erscheint der deutsche Vorstoß vergleichsweise progressiv. So ist, neben der Benennung von Machtgefällen zwischen Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens, die Anerkennung der Reproduktion kolonialer Denkmuster und Strukturen bemerkenswert, wie auch ein explizit formulierter postkolonialer, machtkritischer, antirassistischer und intersektionaler Anspruch. Das Strategiepapier thematisiert die asymmetrische Beziehung zwischen den „Geber*innen“ und den „Nehmer*innen“ – und dass diese auf „institutionalisierten diskriminierenden und rassistischen Strukturen [basiere], die das Machtgefälle konsolidieren, anstatt es abzubauen“. Als Lösungsansatz wird ein systemischer Wandel angestrebt.

Die Bilanz von Schulzes Amtszeit fällt ambivalent aus. Mit der feministischen Entwicklungspolitik setzte sie neue normative Maßstäbe und öffnete den Diskurs für postkoloniale und intersektionale Perspektiven. Gleichzeitig blieb die institutionelle Transformation begrenzt. Tatsächlich ist fraglich, ob eine feministische (Entwicklungs-)Politik ohne eine Infragestellung der Grundsätze des globalen Wirtschaftssystems überhaupt möglich ist – ein Thema, das das Papier ausklammert. Schulzes Vorstoß steht so exemplarisch für eine strukturell eingebundene EZ, die zwischen kritischer Selbstreflektion und politischer Pragmatik balanciert. Dekolonisierung wird dabei zu einem wenig konfliktiven Begriff, der auf symbolische Repräsentation oder Sprachpolitik beschränkt bleibt.

Mit dem Regierungswechsel im Mai 2025 deutete sich wiederum eine Neuorientierung an. Schulzes Nachfolgerin Reem Alabali Radovan übernahm das Amt in einem herausfordernden Kontext. So war zuvor nicht nur die Eigenständigkeit des BMZ infrage gestellt und der Etat erneut gekürzt worden, sondern die USA zogen sich auch weitgehend aus der internationalen Entwicklungs- und Verteidigungspolitik zurück. Vor diesem Hintergrund kündigte Alabali Radovan eine Neuaufstellung deutscher Entwicklungspolitik an. Es gehe, so die Ministerin, darum, „Entwicklungspolitik im Dreiklang mit Außen- und Verteidigungspolitik als nachhaltige Sicherheitspolitik aus[zu]buchstabieren“. Auch der Koalitionsvertrag betont „wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen, Fluchtursachenbekämpfung sowie die Zusammenarbeit im Energiesektor“. Dies deutet auf eine klare Instrumentalisierung der Entwicklungspolitik für ökonomische Interessen und Migrationsabwehr hin.

Wie sich Alabali Radovans Programm in den nächsten Jahren in der Praxis ausgestaltet, bleibt abzuwarten, es steht allerdings zu befürchten, dass der Versuch einer explizit postkolonialen Ausrichtung möglicherweise der Vergangenheit angehört. „Entwicklung“ wird diskursiv deutlich als sicherheitspolitisches und wirtschaftsstrategisches Handlungsfeld und unmissverständlich innerhalb der Interessen des Globalen Nordens gesetzt. Die fortgesetzte Rhetorik von Partnerschaft und Nachhaltigkeit verdeckt, dass asymmetrische Abhängigkeiten fortbestehen und sich geopolitische Machtverhältnisse in neuer Form stabilisieren.

Gleichzeitig lässt sich festhalten, dass auch in den vergangenen Jahren zwischen rhetorischem Wandel und realer Umverteilung von Macht, Ressourcen und epistemischer Autorität eine deutliche Diskrepanz bestand. Beispielhaft sei hier auf die deutsche Afrikapolitik sowie auf Deutschlands Rolle in der globalen Ressourcenausbeutung verwiesen.

Tatsächlich hat wirtschaftliche Zusammenarbeit zur Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen schon länger Priorität in der deutschen EZ, insbesondere seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. „Grüner Kolonialismus“ beschreibt die Fortsetzung kolonialer Abhängigkeitsverhältnisse im Kontext der globalen Energiewende, bei der Länder des Globalen Nordens ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen auf den Zugang zu strategischen Rohstoffen fokussieren. Eine aktuelle Studie zeigt, wie Deutschland im Globalen Süden durch Investitionen in Ressourcen wie Nickel, Kupfer, Lithium und Wasserstoff seine Energie- und Industriepolitik absichert. Obwohl diese Kooperationen offiziell als partnerschaftlich gelten, führen sie häufig zu Vertreibungen, Umweltzerstörung und der Verschärfung sozialer Ungleichheiten. Bestehende Machtverhältnisse bleiben bestehen, und die lokale Bevölkerung profitiert kaum.

Auch die deutsche und europäische Afrika-Strategie lässt sich vor diesem Hintergrund einordnen. Es dominieren, neben geopolitischen Interessen, Bestrebungen zur Migrationsminderung sowie eine Außenwirtschaftsförderung unter marktliberalen Gesichtspunkten. Trotz einer kommunizierten Win-win-Situation im Hinblick auf grüne Transformation sind die Zielkonflikte offensichtlich. Zudem benachteiligt die europäische Handelspolitik afrikanische Unternehmen. Politikwissenschaftlerin Frauke Banse analysiert Politikbestrebungen der vergangenen Jahre und resümiert, dass Initiativen Deutschlands und der EU mehrheitlich darauf abzielen, durch bessere Bedingungen für privates Kapital Investitionen, Wachstum und Beschäftigung in Afrika zu fördern. Diese Strategie, so Banse, führe zu einer Kommodifizierung von Gesellschaften sowie einer Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen (FDI), die starken Einfluss auf politische Prozesse ausübe. Banse kritisiert insbesondere die zugrundeliegende Prämisse, dass „Entwicklung“ durch die Schließung einer angenommenen Infrastrukturlücke und die stärkere Einbindung afrikanischer Volkswirtschaften in globale Wertschöpfungs- und Produktionsnetzwerke zu erreichen sei. Sie fordert stattdessen, die Abhängigkeit von ausländischen Investoren zu verringern und stärker auf lokale, eigenständige Produktion zu setzen.

Auch auf EU-Ebene ist die Unterstützung partnerschaftlicher Beziehungen zum Süden bislang bestenfalls rhetorisch. Strategien wie die Global Gateway Initiative betonen zwar Augenhöhe, verfolgen jedoch weithin geopolitische Interessen (etwa im Wettbewerb mit China). Obwohl die EU die Vorteile für alle Akteure betont, entstehen auch hier Zielkonflikte zwischen den formulierten Prinzipien der europäischen EZ (Bekämpfung von Armut, Eigenverantwortung der Partnerländer, inklusive und transparente Regierungsführung) und den tatsächlich verfolgten Interessen.

Die Annahme, dass die Interessen des Globalen Nordens deckungsgleich mit denen des Globalen Südens seien, bietet mehrere Ansatzpunkte für postkoloniale Analyse. So ist, erstens, der definierte Rahmen von erstrebenswertem Wandel klar abgegrenzt. Erinnern wir uns an Truman und Rostow, ist das Ziel der Interventionen auch hier, mit strategischen Investitionen auf dem vom Westen vorgegebenen Pfad voranzukommen, der ein marktliberales Wirtschaftsmodell voraussetzt. Gleichzeitig wird, zweitens, angenommen, dass die entsprechenden Partnerländer über keine adäquaten eigenen Wissensbestände verfügen und so eine Form von Treuhandschaft zum Schließen der identifizierten „Infrastrukturlücken“ offenbar nötig ist. Nicht zuletzt erinnert, drittens, das unverhohlene Interesse an Energie- und Rohstoffzugängen und insbesondere die Inkaufnahme der desaströsen Folgen für lokale Bevölkerung und Natur an koloniale Akkumulationen. Eine Win-win-Situation für alle Seiten steht zu bezweifeln, solange die globalen Wirtschafts- und Finanzstrukturen und -institutionen unverändert bleiben. Der Ökonom und Anthropologe Jason Hickel kritisiert etwa die Rolle von Internationalem Währungsfonds und Weltbank und bemängelt die ungleiche Verteilung von Stimmrechten und Führungspositionen. Hierdurch könne der Globale Norden die Regeln der globalen Ökonomie im eigennützigen Sinne gestalten. So sind Länder des Globalen Südens keineswegs primär Empfänger von Geldern der EZ. Vielmehr fließen über Finanz-, Handels- und Schuldenmechanismen netto enorme Vermögensflüsse vom Globalen Süden in den Norden zurück. Globale Ungleichheit wird so kontinuierlich strukturell reproduziert.

„Entwicklung“ ist gescheitert?! Entwicklungspolitische Zeitenwenden

Das Ende von „Entwicklung“ haben Postdevelopment-Proponent*innen bereits seit den 1980er Jahren proklamiert. Gleichzeitig stand die EZ der vergangenen Jahrzehnte, insbesondere vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Klimakrise, unter dem Leitbild von Partnerschaft, Kooperation und gemeinsamer Verantwortlichkeit. Die Agenda 2030 formulierte den Anspruch, dass alle Länder angesichts globaler Herausforderungen als Entwicklungsländer zu verstehen seien. Zwar wurde kritisiert, dass Kooperation unter Effizienzvorzeichen nicht zwangsläufig eine Normenannäherung oder -veränderung mit sich bringt und „funktionalistische Modernisierung und mehr Gerechtigkeit kaum zugleich und zu gleichen Teilen erreichbar sind“. Dennoch sind post-/dekoloniale Argumentationen in ihrer normativen und strukturellen Kritik zumindest rhetorisch aufgegriffen worden. Diese Phase scheint nun beendet, und der Fokus liegt klar auf nationalen Interessen, Verteidigung und Sicherheit.

Während der bisherige Konsens EZ als Form aufgeklärten Eigeninteresses versteht, die durch Kooperation langfristig Sicherheit und Wohlstand auf beiden Seiten schafft, markiert Trumps Rückzug aus der EZ einen Bruch mit dieser Logik. Auch andere rechte Regierungen und Parteien (Viktor Orbán in Ungarn, Giorgia Meloni in Italien, die PiS in Polen und die AfD in Deutschland) setzen zunehmend auf nationale Abschottung und betrachten internationale Zusammenarbeit als Kosten statt (um in der Logik zu bleiben) als Investition. Damit verschiebt sich das Paradigma von global geteilter Verantwortung hin zu einer Politik, die Kooperation zugunsten innenpolitischer Machtgewinne und nationaler Exklusivinteressen zurückdrängt, in den Worten von Andy Sumner und Stephan Klingebiel von einem „liberal multilateralism“ zu einem „nationalist conditionality regime“.

Mitnichten ist dies aber nun das Ende von „Entwicklung“ im Sinne eines Postdevelopment. Die Abwicklung von „Entwicklung“ wurde hier nie ohne die Vision der Fülle von Alternativen zur Entwicklung vorgebracht, die eine gemeinsame Basis von Solidarität, Konvivialität, Demokratie und Kooperation teilen. Gleichzeitig hat das abrupte Ende der USAID-Programme gezeigt, dass EZ derzeit humanitär an vielen Orten noch gebraucht wird. Entwicklungshilfen, wie geschehen, von heute auf morgen zu streichen, ist daher keine progressive Strategie, lässt sie doch den globalen Kapitalismus und die wirtschaftlichen Strukturen, die in großem Ausmaß Reichtum und Elend erzeugen, unberührt.

Wie also nun weiter? Eine konstruktive Haltung könnte sich an der Strategie der humanitären Organisation „medico international“ orientieren, die sich zum Ziel setzt, Hilfe gleichzeitig zu verteidigen, kritisch zu analysieren und letztlich zu überwinden. Übertragen auf die Zukunft von „Entwicklung“ bedeutet dies, dass EZ so lange verteidigt werden muss, wie sie, trotz allem, zur Stärkung von Emanzipation, Demokratie und Selbstbestimmung beiträgt. Zugleich bleibt es notwendig, sie dort kritisch zu hinterfragen, wo sie koloniale Kontinuitäten und Machtasymmetrien fortschreibt oder als Instrument geopolitischer Interessen fungiert. Entscheidend ist die Gleichzeitigkeit: Es gilt, an demokratischen, sozial-ökologischen und dekolonialen Formen des Zusammenlebens zu arbeiten, die langfristig dazu beitragen können, die EZ als Institution überflüssig zu machen. Trotz aller Kritik ist es angesichts des erstarkenden Nationalismus und Autoritarismus zentral, die emanzipatorischen Elemente der EZ aktiv zu verteidigen.

Fazit

Wie steht es nun also um die EZ aus postkolonialer Sicht? Festzuhalten ist, dass Entwicklungszusammenarbeit neokoloniale Machtasymmetrien und die Abhängigkeit des Globalen Südens von externen Kapital- und Wissensstrukturen reproduziert, wenn sie primär an Wachstumslogiken, Freihandel, Investitionssicherung und geopolitischen Interessen ausgerichtet bleibt. Aktuelle Konfliktlinien, etwa der europäische Zugriff auf Rohstoffe für die sogenannte grüne Transformation, das Spannungsverhältnis zwischen Freihandel und lokaler Wertschöpfung oder die Dominanz ausländischer Investoren, verdeutlichen einmal mehr, dass Dekolonisierung nicht allein eine Frage neuer Narrative, sondern realer Machtverhältnisse ist. Eine zukünftige EZ müsste daher vor allem auf globale Umverteilung, Reparationen und die Stärkung lokaler Selbstbestimmung setzen und den Anspruch, die Welt entsprechend einer universellen Version zu „entwickeln“, durch das Ziel ersetzen, Beziehungen demokratisch, gerecht, vielfältig und reziprok zu gestalten. Vor dem Hintergrund des globalen Rechtsrucks und der politischen Fokussierung auf nationale Interessen erscheint die Utopie einer „Welt der vielen Welten“, in der unterschiedliche Lebensweisen gleichberechtigt und solidarisch koexistieren, zunehmend schwer vorstellbar. In diesem Sinne ist es aus einer postkolonialen und gerechtigkeitsorientierten Perspektive notwendig, wenn auch paradox, EZ zunächst zu verteidigen, um solidarisch für eine gerechte, antirassistische, antifaschistische, demokratische globale Gesellschaft einzutreten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Aram Ziai, The End of Development Aid?, 13.5.2025, Externer Link: https://www.developmentresearch.eu/?p=2231#more-2231.

  2. Vgl. Oxfam, Migrationsabwehr dominiert EU-Entwicklungspolitik, 30.1.2020, Externer Link: https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2020-01-30-migrationsabwehr-dominiert-eu-entwicklungspolitik.

  3. Gustavo Esteva beschreibt „Entwicklung“ als Amöbenwort: eines, das beständig die Gestalt ändert und damit bedeutungslos und kooptierbar geworden ist. Um die Konfliktivität zu verdeutlichen, schreiben wir den Begriff „Entwicklung“ in Anführungszeichen. Vgl. Gustavo Esteva, Development, in: Wolfgang Sachs (Hrsg.), The Development Dictionary, London 2000, S. 6–25.

  4. Vgl. Chimamanda Adichie, Die Gefahr einer einzigen Geschichte, 7.10.2009, Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg.

  5. Harry S. Truman, The Point Four Program, 24.6.1949, Externer Link: https://usinfo.org/PUBS/LivingDoc_e/pointfour.htm.

  6. Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth, in: The Economic History Review 1/1959, S. 1–16.

  7. Aimé Césaire, Discourse on Colonialism, New York 2000, S. 42f.

  8. Gurminder Bhambra, Postcolonial and Decolonial Dialogues, in: Postcolonial Studies 2/2014, S. 115–121, hier S. 119.

  9. Post- und dekoloniale Theorien sowie die Postdevelopmentkritik werden oftmals synonym verwendet, unterscheiden sich allerdings in Nuancen. Für eine ausführlichere Diskussion vgl. Julia Schöneberg/Aram Ziai, Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit und Postdevelopment Alternativen – Akteur*innen, Institutionen, Praxis, in: dies. (Hrsg.), Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit und Postdevelopment Alternativen. AkteurInnen, Institutionen, Praxis, Baden-Baden 2021, S. 7–20.

  10. Vgl. Juan Telleria, Diversity vs the 2030 Agenda. A Deconstructive Reading of the United Nations Agenda for Sustainable Development, in: Critical Social Policy 4/2022, S. 607–625; Julia Schöneberg/Mia Kristin Häckl, Das Transformationsversprechen der SDGs: Nachhaltigkeit, „Entwicklung“ – und Gerechtigkeit?, in: Meike Bukowski et al. (Hrsg.), Global denken, nachhaltig handeln, Frankfurt/M. 2024, S. 207–222.

  11. Vgl. Schöneberg/Ziai (Anm. 9), S. 7–9.

  12. Vgl. Esteva (Anm. 3). Vgl. John Law, What’s Wrong with a One-World World?, in: Distinktion: Journal of Social Theory 1/2025, S. 126–139.

  13. Vgl. Julia Schöneberg, Layers of Post-Development: De- and Reconstructions in a World in Which Many Worlds Exist, Department for Development and Postcolonial Studies, Universität Kassel, DPS Working Paper 9/2021.

  14. Vgl. Jorge Garcia-Arias/Julia Schöneberg, Urgencies and Imperatives for Revolutionary (Environmental) Transitions: From Degrowth and Postdevelopment Towards the Pluriverse?, in: Environmental Politics 5/2021, S. 865–871.

  15. Beispielhaft genannt werden sollen hier etwa die BMZ-Tagung „Rethinking Development Policy: How to Confront Coloniality“ (Dezember 2024) und die Anhörung im Deutschen Bundestag zu den „Auswirkung der Kolonialvergangenheit auf die Außenpolitik“ (Oktober 2024). Siehe auch Aram Ziai, Race and Gender in Development Discourse. The German Strategy of Feminist Development Policy, Global Partnership Network, GPN Working Paper 9/2025.

  16. Vgl. u.a. Maïka Sondarjee/Nathan Andrews, Decolonizing International Relations and Development Studies: What’s in a Buzzword?, in: International Journal: Canada’s Journal of Global Policy Analysis 4/2023, S. 551–571.

  17. Siehe zur feministischen Entwicklungszusammenarbeit auch den Beitrag von Karin Gaesing und Frank Bliss in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  18. BMZ, Feministische Entwicklungspolitik, Bonn–Berlin 2023, S. 11.

  19. Vgl. Françoise Vergès, A Decolonial Feminism, London 2021, S. 80.

  20. Bundesministerin Alabali-Radovan will Entwicklungspolitik neu aufstellen, 14.5.2025, Externer Link: https://www.bundestag.de/-1064972.

  21. Verantwortung für Deutschland, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin 2025, S. 94.

  22. Vgl. Franziska Müller, Energy Colonialism, in: Grassroots – Journal of Political Ecology 1/2024, S. 701–717.

  23. Vgl. Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.), Grüne Fassade, Dreckige Geschäfte. Eine Studie zu Deutschlands Rolle in der globalen Ressourcenausbeutung, Berlin 2025.

  24. Vgl. Simone Claar, Kein Ende des grünen Kolonialismus: Der Europäische Green Deal reproduziert die Abhängigkeiten von Afrika, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 1/2021, S. 141–148.

  25. Vgl. Adrian Schlegel/Aram Ziai, Die deutsche Afrikapolitik: Erneuerung einer ungleichen Zusammenarbeit?, Études de l’Ifri, September 2021.

  26. Vgl. Frauke Banse, Deutsche Afrikapolitik in geopolitischer Neujustierung, 26.6.2024, Externer Link: https://www.bpb.de/549885.

  27. Sie analysiert z.B. den Compact for Africa, den Marshallplan for Africa und den Entwicklungsinvestitionsfonds.

  28. Vgl. Frauke Banse, Private Sector Promotion for Development? An Analysis of German and European Development Policies in Africa, Berlin 2021, S. 6–8.

  29. Vgl. Marc Furness/Niels Keijzer, Europe’s Global Gateway: A New Geostrategic Framework for Development Policy?, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Briefing Paper 1/2022.

  30. James Leigland, Public-Private Partnerships in Developing Countries: The Emerging Evidence-Based Critique, in: The World Bank Research Observer 1/2018, S. 103–134.

  31. Vgl. Jason Hickel, Apartheid in the Global Governance System, 17.10.2019, Externer Link: https://www.resilience.org/stories/2019-10-17/apartheid-in-the-global-governance-system.

  32. Vgl. Jason Hickel/Dylan Sullivan/Huzaifa Zoomkawala, Plunder in the Post-Colonial Era: Quantifying Drain from the Global South Through Unequal Exchange, in: New Political Economy 6/2021, S. 1030–1047.

  33. Uta Ruppert, Nicht visionär, aber passabel: Globale Strukturpolitik als Handlungsrahmen für Entwicklungspolitik, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Entwicklungspolitik als internationale Strukturpolitik, Berlin 2001, S. 39–46, hier S. 44. Zur weiteren Diskussion zur Globalen Strukturpolitik siehe Aram Ziai, Globale Strukturpolitik? Die Nord-Süd Politik der BRD und das Dispositiv der Entwicklung im Zeitalter von neoliberaler Globalisierung und neuer Weltordnung, Münster 2007.

  34. Andy Sumner/Stephan Klingebiel, Development Cooperation at a Tipping Point: How, Why and Through What Mechanisms Do Policy Norms Break?, IDOS Discussion Paper 29/2025, S. 17.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Julia Schöneberg, Aram Ziai für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Politikwissenschaftlerin und forscht und lehrt zu Entwicklungstheorie und
-politik, sozial-ökologischen Transformationen sowie dekolonialen Perspektiven auf Wissen(schaft) und Pädagogik.

ist Professor für das Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel.