„Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“
Man kann eine solche Zumutung von Orientierungen, wenn sie nachhaltig und sanktionsbewehrt ist, als Erziehung begreifen. Wenn man zudem bedenkt, mit welchem Nachdruck die Bundesregierung immer wieder dazu ermahnt hat, sich an die Pandemiemaßnahmen zu halten, wird klar: Wir haben es hier mit einem besonderen Fall von „Massenerziehung“ durch politische Akteure zu tun.
Üblicherweise gehen Gesellschaft und Wissenschaft davon aus, dass nur Kinder und Jugendliche erzogen werden. Zugleich gilt Erziehung vielen als pädagogischer Prozess, der Menschen mündig machen soll.
Verlässt man diesen normativen Rahmen, lässt sich der Erziehungsbegriff – wie im Corona-Beispiel angedeutet – als eine Zumutung von Orientierungen verstehen. Damit sind Handlungsweisen und Haltungen gemeint, die man sich zur Gewohnheit machen soll. Solche Orientierungen reichen von der Aufforderung, bei Tisch gerade zu sitzen, bis hin zur Orientierung an Fleiß, Gerechtigkeit oder eben an verantwortungsvollem Verhalten im Rahmen der Pandemiebekämpfung. Diese Orientierungen werden zugemutet, weil man erwartet, dass die so Erzogenen entsprechende Handlungsweisen nicht von selbst an den Tag legen.
Eine Orientierung zuzumuten, impliziert aber auch, den Adressat*innen zuzutrauen, die gewünschte Haltung anzunehmen. Eine Orientierungszumutung wird nachhaltig, wenn sie wiederholt oder kontrolliert wird, ob sie Wirkung zeigt. Dabei spielt auch die Ankündigung von Belohnungen oder Bestrafungen, also Sanktionen, eine Rolle. Diese nachhaltige und sanktionsbewehrte Zumutung von Orientierungen unterscheidet Erziehung im Übrigen von Bildung. Denn bei Bildung geht es um ein Angebot von Orientierungen, anhand dessen diejenigen, die sich bilden, eigenständig Orientierungen entfalten.
Da der vorgeschlagene Erziehungsbegriff den expliziten Absichten der Erziehenden keine besondere Bedeutung beimisst, ist es irrelevant, ob sie erziehen wollen oder das, was sie tun, als Erziehung begreifen. Verwendet man den Begriff der Erziehung somit als Beobachtungskategorie, lassen sich drei Bereiche der Erwachsenenerziehung in der repräsentativen Demokratie empirisch herausarbeiten und ihr Für und Wider diskutieren: Demokratieerziehung, Gemeinwohlerziehung und politische Erziehung.
Demokratieerziehung
In politischen Kontexten wird in Deutschland in der Regel nicht von Erziehung, sondern von politischer Bildung gesprochen. Wenn der Staat hierfür verantwortlich ist, beispielsweise in allgemeinbildenden Schulen oder der Erwachsenenbildung, wird diese seit den 1980er Jahren vom Beutelsbacher Konsens geprägt: Demnach darf niemandem eine bestimmte politische Ansicht aufgezwungen werden (Überwältigungsverbot). In der pädagogischen Veranstaltung müssen die unterschiedlichen, auch kontroversen Perspektiven, die in der Gesellschaft existieren, von der Lehrperson zur Sprache gebracht werden (Kontroversitätsgebot). Zudem sollen die Teilnehmer*innen dazu befähigt werden, sich eine eigene Meinung zu bilden (Teilnehmerorientierung).
Doch Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot werden durch die demokratische Grundordnung selbst begrenzt. Das „pluralistische Gesellschaftsmodell“, das der politischen Bildung zugrunde liegt, ist eine „Tabuzone, die aus dem Raum, der für den Widerspruch und den Konflikt freigegeben ist, ausgeklammert“ bleibt.
Noch prägender ist eine solche Demokratieerziehung in den – nomen est omen – Orientierungskursen, an denen Neueinwander*innen und Geflüchtete teilnehmen müssen.
In Zeiten, in denen es keineswegs mehr selbstverständlich ist, dass Bürger*innen die repräsentative Demokratie befürworten, werden allerdings nicht mehr nur diejenigen zu Adressat*innen von Demokratieerziehung, die neu in der Gesellschaft ankommen, wie Jugendliche und Einwander*innen. Auch bei alteingesessenen, erwachsenen Gesellschaftsmitgliedern vertraut der Staat nicht (mehr) ausschließlich der politischen Bildung, also der zwanglosen Überzeugungskraft, die die Praxis kontroverser Diskussionen entfalten und damit die Demokratie fördern soll. Vielmehr unterstützt die Bundesregierung mit ihrem Programm „Demokratie leben!“ die „Arbeit gegen jede Form von Menschen- und Demokratiefeindlichkeit“.
Gemeinwohlerziehung
Die demokratische Verfassung des Staates ist offenbar „auf entgegenkommende Überzeugungen und Lebensformen der Bürger angewiesen“.
Dieses „edukatorische Staatshandeln“
Umwelt- und Verkehrserziehung können als Ausprägung der Gemeinwohlerziehung begriffen werden, da hier Orientierungen zugemutet werden, die bereits beschlossenen Gesetzen entsprechen, also dem gesellschaftlichen Konsens oder zumindest dem Willen der Mehrheit. Gemeinwohlerziehung zielt nicht nur auf diejenigen, die diese Gesetze ablehnen. Sie ist auch ein Mittel, um die unterstellte, mögliche oder tatsächlich gegebene Kluft zwischen den Überzeugungen williger Bürger*innen und ihrem alltäglichen Handeln zu verringern.
Dies gilt auch für einen Bereich der Gemeinwohlerziehung, der nicht mit einzelnen Gesetzen, sondern mit der demokratischen Verfassung des Staates zu tun hat: die rassismuskritische Erziehung. Sie richtet sich weniger an Menschen, die gefestigte rassistische Einstellungen haben und diese auch offen zeigen. Vielmehr geht es um jene, die jeglichen Rassismus von sich weisen würden, aber gleichwohl auf rassistische Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zurückgreifen, weil diese in der Gesellschaft etabliert sind und stillschweigend akzeptiert werden.
Aufschlussreich sind universitäre Lehrveranstaltungen, in denen Studierende nicht nur mit der Theorie der Rassismuskritik vertraut gemacht werden, sondern in Einzelfällen nachdrücklich dazu angehalten werden, sich diese Perspektive zu eigen zu machen.
Ohne den erzieherischen Gestus aufzugeben, der zwar nicht explizit formuliert wird, lässt sich das rassismuskritische Anliegen auch in Sachbüchern artikulieren. Beispiele hierfür sind „Exit Racism – Rassismuskritisch denken lernen“ von Tupoka Ogette oder „Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu anti-rassistischem Denken“ von Mohamed Amjahid – beide Bücher sind mittlerweile Bestseller. Angesichts ihrer direktiven Art kann man sie kaum noch als Ratgeber im engeren Sinne bezeichnen. Hier finden sich nicht nur fünfzig als klare Aufforderungen formulierte „Lifestyle-Tipps für Süßkartoffeln“
Politische Erziehung
Dass hierarchische Beziehungen für die Erziehung von Erwachsenen nicht nur genutzt, sondern auch gefestigt werden, gilt ebenso für den dritten Bereich, die politische Erziehung. Während die Gemeinwohlerziehung dort greift, wo bereits kollektiv bindende Entscheidungen – als Kernelement von Politik – und damit entsprechende Regeln vorliegen, kann es bei der Vorbereitung solcher Entscheidungen, die in einem Kollektiv (etwa in Deutschland) gelten sollen, zur politischen Erziehung kommen.
Die eingangs zitierte Fernsehansprache der Bundeskanzlerin lässt sich als Beispiel für politische Erziehung interpretieren, schließlich zielte Merkel darauf ab, dass die Bevölkerung Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen etc. befürwortet. Nachdem die entsprechenden Gesetze und Verordnungen in den Parlamenten verabschiedet worden waren, übten sich die politisch Verantwortlichen dann aber in Gemeinwohlerziehung.
Die politische Erziehung zu Beginn der Pandemie war auf ein sehr spezifisches Thema beschränkt, dessen Bedeutung zudem vorübergehend zu sein versprach. In der Geschichte der Bundesrepublik gab es jedoch Versuche politischer Erziehung, die von langfristigerem Einfluss waren: Politische Parteien änderten in Politikbereichen, die für die Weltanschauung ihrer Anhänger*innen von zentraler Bedeutung erschienen, ihre Richtung. Um diese Kehrtwenden zu ermöglichen, mutete das Führungspersonal der Parteien ihren Mitgliedern und Anhänger*innen neue politische Orientierungen nachhaltig und sanktionsbewehrt zu.
Neben der Wende zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat, die die SPD mit „Hartz IV“ vollzog, finden sich herausgehobene Beispiele politischer Erziehung auch bei Bündnis 90/Die Grünen und der CDU.
Hier ging es nicht um irgendeine politische Frage, sondern um einen „Identitäts- und Orientierungswandel“, stammten doch viele Grüne aus der Friedensbewegung.
Kaum weniger radikal war der Kurswechsel, den Angela Merkel mit der Öffnung der Grenzen in der Nacht auf den 5. September 2015 einschlug. Dies geschah nach vielen Jahren, in denen Zufluchtsuchende aufgrund der maßgeblich von der CDU betriebenen Grundgesetzänderung von 1993 kaum noch Asyl in Deutschland erhalten konnten. Nicht nur den CDU-Anhänger*innen, sondern der ganzen Bevölkerung stellte die Bundeskanzlerin es hinfort anheim, Geflüchtete willkommen zu heißen, anstatt sie als Illegale zu diffamieren. Ähnlich wie zuvor Joschka Fischer setzte sie für diese Orientierungszumutung all ihr symbolisches Kapital ein, ermutigte die Bürger*innen („Wir schaffen das.“), drohte aber auch („Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“).
Und doch war Merkel weniger erfolgreich als Fischer. Viele Wähler*innen wandten sich der AfD zu. Auch innerhalb der CDU setzten sich letztlich die Asylgegner*innen durch. Merkel erging es damit ähnlich wie zuvor Bundeskanzler Gerhard Schröder: Seine Kehrtwende zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat hatte zu Abspaltungen von der SPD geführt und, viele Jahre später, zu einer Abkehr von „Hartz IV“.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob solche Versuche politischer Erziehung, die sich auf zentrale Komponenten der Weltanschauung von Parteianhänger*innen richten, nicht gerade in Regierungszeiten besonders riskant sind. Während Joschka Fischer und seine Mitstreiter*innen in der Opposition genügend Zeit und Raum hatten, ihre Orientierungszumutungen zu untermauern, vollzogen sich die Kehrtwenden der SPD und CDU innerhalb weniger Tage bis Wochen. Zudem macht es einen Unterschied, ob ein informeller Parteiführer wie Fischer oder ein Regierungsoberhaupt, das von vornherein aus einer hierarchischen Position heraus mit den Bürger*innen kommuniziert, politisch erzieht.
Bevormundungsverdacht
Erziehung stiftet immer ein hierarchisches, asymmetrisches Verhältnis zwischen Erziehenden und Erzogenen oder macht sich dieses zunutze. Orientierungszumutungen setzen sich daher über die Mündigkeit hinweg, die Erwachsenen zugeschrieben wird. Dies mag in hierarchischen Kontexten – beispielsweise in einem Betrieb oder in der Armee – noch als Ausnahme toleriert werden. Die Erziehung von Erwachsenen im demokratischen Staat erscheint hingegen als grundsätzlich illegitim. Denn die Demokratie lebt unter anderem von der Auseinandersetzung um das bessere Argument. Diese Auseinandersetzung sollte idealerweise auf Augenhöhe geführt werden. In dem Moment aber, in dem politische Akteure nicht nur Orientierungen anbieten (etwa für ihre politische Position werben), sondern diese Orientierungen zumuten, schlägt politische Bildung in Erziehung um, und das Verhältnis zu den Bürger*innen wird asymmetrisch. Dann bleiben den so erzogenen Bürger*innen „letztlich eine mehr oder minder unfreiwillige Unterwerfung (…) unter externe, vorab definierte Normen, Regeln und Zielsetzungen, über die nicht mehr offen diskutiert wird, oder der Ausschluss aus dem Konsens-Kollektiv.“
Orientierungszumutungen für erwachsene Bürger*innen stehen also per se unter dem Verdacht der Bevormundung. Der Eindruck, durch Erziehung bevormundet zu werden, verstärkt sich noch, wenn die erzieherischen Anstrengungen politischer Akteure – von der politischen Erziehung über die Gemeinwohl- bis zur Demokratieerziehung – über das hinausgehen, was von den Bürger*innen legitimerweise erwartet werden darf: sich, soweit sie keinen zivilen Ungehorsam ausüben wollen, an die demokratisch geschaffene Rechtsordnung und die Gesetze zu halten – unabhängig von ihren Einstellungen und Haltungen zu einzelnen Regeln (von Steuern bis zum Straßenverkehr). Die diskutierten Beispiele für Erziehung gehen denn auch weit über das hinaus, was man tun und lassen soll. Denn oftmals geht es nicht nur darum, sich die Mülltrennung oder demokratische Verfahren zur Gewohnheit zu machen. Vielmehr drängt der erzieherische Gestus darauf, dass sich die Bürger*innen aus innerer Überzeugung an den gewünschten Handlungspraktiken beteiligen. Sie sollen also auch wollen, wozu sie eigentlich nur von Rechts wegen verpflichtet sind. Damit wird die für den säkularisierten Staat eigentlich charakteristische „Trennung von Moral(-ität) und Recht (…) durch das Bindeglied ‚Erziehung‘ (…) aufgehoben“.
Das Gefühl, als erwachsene Bürger*innen durch erzieherische Interventionen bevormundet zu werden, kann sich, so ist zu vermuten, so stark in den Vordergrund drängen, dass die Sache, um derentwillen erzogen wird, zweitrangig erscheint. Die Abwehr gegen Bevormundung wandelt sich dann in eine Widerstandsreaktion, die ungeachtet der Frage, ob die zugemuteten Orientierungen und die mit ihnen verknüpften staatlichen Regeln nicht doch sinnvoll sind, zu deren Ablehnung führt. Aus der Auseinandersetzung um die Sache wird so ein Kampf um den Umgang miteinander. Dieses Gefühl, bevormundet zu werden, ist sicherlich nicht der einzige Faktor für die Hinwendung von Teilen der Bevölkerung zu populistischen oder rechtsextremen Parteien, könnte aber durchaus zu ihr beitragen.
Wer sollte wo erziehen?
Trotz dieses Bevormundungsverdachts sind sich viele Klassiker der politischen Theorie einig, „ein freiheitlich-demokratischer Staat habe die Bürger, die er braucht, zu erziehen“.
Falls man trotz der angeführten Bedenken der Ansicht ist, dass auch erwachsene Bürger*innen erzogen werden müssen, lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie dies vonstattengehen sollte. Wie kann verhindert werden, dass sich Bürger*innen angesichts von Orientierungszumutungen nur zwischen der Skylla der Bevormundung und der Charybdis der Selbstexklusion aus dem „Konsens-Kollektiv“ entscheiden müssen?
Zuallererst müsste es der Staat vermeiden, selbst zur „Erziehungsagentur“ zu werden.
Daher sind alle Formate von Vorteil, in denen Bürger*innen sich aus freien Stücken darauf einlassen, erzogen zu werden. Dies beginnt bei politischen Parteien: Man kann jederzeit austreten oder die politische Konkurrenz wählen, wenn das Führungspersonal angesichts von Kehrtwenden (aber vielleicht nicht nur dann) politisch erzieht. Dies setzt sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen fort, die Bürger*innen dazu anhalten, klimafreundlich zu leben, solidarisch zu handeln oder die Demokratie zu verteidigen – niemand ist gezwungen, an ihren Aktivitäten teilzunehmen. Und es endet bei einzelnen Medienakteur*innen – von Buchautor*innen bis zu Influencer*innen –, die zu rassismuskritischem Handeln oder sparsamem Ressourcenverbrauch erziehen. Man kann jederzeit das Buch aus der Hand legen oder das Video abschalten.
Wenn in diesen Formaten Orientierungszumutungen offen kommuniziert werden, verlieren politische Erziehung, Demokratie- oder Gemeinwohlerziehung tendenziell ihren entmündigenden Charakter. Denn die Bürger*innen können sich, während und obwohl sie erzogen werden, stets fragen, ob sie sich dem weiter aussetzen und Orientierungen zumuten lassen wollen. Soweit diese souveräne Einwilligung in Erziehung gewährleistet ist, haben wir es mit einer nicht entmündigenden Orientierungszumutung zu tun. Es erscheint akzeptabler, Bürger*innen zu erziehen, wenn diese sich problemlos ihrer Erziehung entziehen können.