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Erziehung Editorial Bürger erziehen? Erwachsene als Adressaten von Orientierungszumutungen Erziehung zwischen Krisenhaftigkeit, Notwendigkeit und sozialer Tatsache - Essay Zwischen Mündigkeit und Disziplinierung. Bürgerliche Gesellschaft und die Erziehung der Frau Erziehung in der Krise? Über strukturelle Gewalt, pädagogische Überforderung und die Rückkehr der bürgerlichen Kälte Befähigen und bändigen. Schule, Jugend und die Erziehung zur Demokratie nach 1968 Flexible Muster der Kleinkindbetreuung. Perspektiven der evolutionären Anthropologie Digitale Bildung als Dystopie. Pädagogischer Rückzug im Spannungsfeld von Erziehung und Politik

Bürger erziehen? Erwachsene als Adressaten von Orientierungszumutungen

Arnd-Michael Nohl

/ 15 Minuten zu lesen

In dem Moment, in dem politische Akteure nicht nur Orientierungen anbieten, indem sie beispielsweise für ihre politische Position werben, sondern diese Orientierungen sanktionsbewehrt zumuten, schlägt politische Bildung in Erziehung um.

„Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Mit diesen Worten unterstrich Angela Merkel in ihrer außergewöhnlichen Fernsehansprache am 18. März 2020, zu Beginn der Coronapandemie, nicht nur deren Bedeutung; die damalige Bundeskanzlerin mutete ihren „Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ auch eine für die Pandemiebekämpfung zentrale Orientierung zu: Niemand sollte die Pandemie auf die leichte Schulter nehmen.

Man kann eine solche Zumutung von Orientierungen, wenn sie nachhaltig und sanktionsbewehrt ist, als Erziehung begreifen. Wenn man zudem bedenkt, mit welchem Nachdruck die Bundesregierung immer wieder dazu ermahnt hat, sich an die Pandemiemaßnahmen zu halten, wird klar: Wir haben es hier mit einem besonderen Fall von „Massenerziehung“ durch politische Akteure zu tun.

Üblicherweise gehen Gesellschaft und Wissenschaft davon aus, dass nur Kinder und Jugendliche erzogen werden. Zugleich gilt Erziehung vielen als pädagogischer Prozess, der Menschen mündig machen soll. Mit diesem normativen Zuschnitt wird Erziehung jedoch darauf reduziert, Menschen dazu zu befähigen, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln. Dadurch geraten viele Erziehungsprozesse, die ganz andere Ziele haben – beispielsweise Fairness, Gehorsam oder Achtsamkeit –, aus dem Blick. Auch die Erziehung von Erwachsenen wird dann tabuisiert, sei es im wissenschaftlichen Diskurs oder in der pädagogischen Praxis, denn Erwachsene gelten per se als mündig.

Verlässt man diesen normativen Rahmen, lässt sich der Erziehungsbegriff – wie im Corona-Beispiel angedeutet – als eine Zumutung von Orientierungen verstehen. Damit sind Handlungsweisen und Haltungen gemeint, die man sich zur Gewohnheit machen soll. Solche Orientierungen reichen von der Aufforderung, bei Tisch gerade zu sitzen, bis hin zur Orientierung an Fleiß, Gerechtigkeit oder eben an verantwortungsvollem Verhalten im Rahmen der Pandemiebekämpfung. Diese Orientierungen werden zugemutet, weil man erwartet, dass die so Erzogenen entsprechende Handlungsweisen nicht von selbst an den Tag legen.

Eine Orientierung zuzumuten, impliziert aber auch, den Adressat*innen zuzutrauen, die gewünschte Haltung anzunehmen. Eine Orientierungszumutung wird nachhaltig, wenn sie wiederholt oder kontrolliert wird, ob sie Wirkung zeigt. Dabei spielt auch die Ankündigung von Belohnungen oder Bestrafungen, also Sanktionen, eine Rolle. Diese nachhaltige und sanktionsbewehrte Zumutung von Orientierungen unterscheidet Erziehung im Übrigen von Bildung. Denn bei Bildung geht es um ein Angebot von Orientierungen, anhand dessen diejenigen, die sich bilden, eigenständig Orientierungen entfalten. Legt man einen solchen nicht-normativen Erziehungsbegriff zugrunde, lässt sich zeigen: Auch erwachsenen Bürger*innen werden Orientierungen zugemutet – und das nicht nur in totalitären „Erziehungsstaaten“, sondern auch in freiheitlichen Demokratien.

Da der vorgeschlagene Erziehungsbegriff den expliziten Absichten der Erziehenden keine besondere Bedeutung beimisst, ist es irrelevant, ob sie erziehen wollen oder das, was sie tun, als Erziehung begreifen. Verwendet man den Begriff der Erziehung somit als Beobachtungskategorie, lassen sich drei Bereiche der Erwachsenenerziehung in der repräsentativen Demokratie empirisch herausarbeiten und ihr Für und Wider diskutieren: Demokratieerziehung, Gemeinwohlerziehung und politische Erziehung.

Demokratieerziehung

In politischen Kontexten wird in Deutschland in der Regel nicht von Erziehung, sondern von politischer Bildung gesprochen. Wenn der Staat hierfür verantwortlich ist, beispielsweise in allgemeinbildenden Schulen oder der Erwachsenenbildung, wird diese seit den 1980er Jahren vom Beutelsbacher Konsens geprägt: Demnach darf niemandem eine bestimmte politische Ansicht aufgezwungen werden (Überwältigungsverbot). In der pädagogischen Veranstaltung müssen die unterschiedlichen, auch kontroversen Perspektiven, die in der Gesellschaft existieren, von der Lehrperson zur Sprache gebracht werden (Kontroversitätsgebot). Zudem sollen die Teilnehmer*innen dazu befähigt werden, sich eine eigene Meinung zu bilden (Teilnehmerorientierung).

Doch Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot werden durch die demokratische Grundordnung selbst begrenzt. Das „pluralistische Gesellschaftsmodell“, das der politischen Bildung zugrunde liegt, ist eine „Tabuzone, die aus dem Raum, der für den Widerspruch und den Konflikt freigegeben ist, ausgeklammert“ bleibt. Dies wird schon im Schulunterricht deutlich, für den die Kultusministerkonferenz vorsieht, dass Lehrer*innen es „keinesfalls unkommentiert oder unreflektiert lassen“, wenn Schüler*innen „in einer Diskussion Standpunkte äußern, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und den Menschenrechten nicht vereinbar sind“.

Noch prägender ist eine solche Demokratieerziehung in den – nomen est omen – Orientierungskursen, an denen Neueinwander*innen und Geflüchtete teilnehmen müssen. Zwar kommt hier auch die politische Bildung zum Zuge, doch werden den Kursteilnehmer*innen ansonsten recht direktiv demokratische Orientierungen zugemutet. Denn dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geht es unter anderem um „affektive Lernziele“, zu denen „eine positive Bewertung und Unterstützung der Demokratie und der Grundrechte im Grundgesetz“ gehören. Untersucht man die einschlägigen Kursbücher, so fällt nicht nur die intensive Behandlung des Nationalsozialismus auf, sondern auch, wie viel Wert darauf gelegt wird, die Kursteilnehmer*innen mit politischer Kontroversität zu konfrontieren und ihnen zugleich die hohe Bedeutung des Kompromisses zu verdeutlichen.

In Zeiten, in denen es keineswegs mehr selbstverständlich ist, dass Bürger*innen die repräsentative Demokratie befürworten, werden allerdings nicht mehr nur diejenigen zu Adressat*innen von Demokratieerziehung, die neu in der Gesellschaft ankommen, wie Jugendliche und Einwander*innen. Auch bei alteingesessenen, erwachsenen Gesellschaftsmitgliedern vertraut der Staat nicht (mehr) ausschließlich der politischen Bildung, also der zwanglosen Überzeugungskraft, die die Praxis kontroverser Diskussionen entfalten und damit die Demokratie fördern soll. Vielmehr unterstützt die Bundesregierung mit ihrem Programm „Demokratie leben!“ die „Arbeit gegen jede Form von Menschen- und Demokratiefeindlichkeit“. Dass es hierbei auch um Erziehung zur Demokratie geht, wird insbesondere in der sogenannten Extremismusprävention sichtbar, die unter anderem auf die „Deradikalisierung“ ehemaliger Strafgefangener zielt. Die politische Bildung droht so, „in Richtung einer Erziehungslogik umcodiert“ zu werden, wenn sie – wie hier – Bürger*innen Demokratiedefizite unterstellt und sich Diskursen der Inneren Sicherheit andient. Aus pluralen Orientierungsangeboten werden dann eindeutige Orientierungszumutungen.

Gemeinwohlerziehung

Die demokratische Verfassung des Staates ist offenbar „auf entgegenkommende Überzeugungen und Lebensformen der Bürger angewiesen“. Aber auch einzelne Gesetze und Verordnungen bedürfen, soweit ihre Einhaltung nicht minutiös überwacht werden kann, der Bereitschaft der Bürger*innen, sich an sie zu halten. Dieses regelkonforme Verhalten überlässt der Staat allerdings nicht dem Zufall. Die Mülltrennung beispielsweise ist zwar bis ins kleinste Detail verrechtlicht, lässt sich aber kaum kontrollieren. Daher versuchen die Kommunen bzw. die von ihnen beauftragten Unternehmen, die Bürger*innen mit Informationen zu überzeugen, sie zu ermahnen und ihnen bisweilen auch Feedback zu geben, indem sie falsch befüllte Mülltonnen markieren.

Dieses „edukatorische Staatshandeln“ lässt sich auch im Straßenverkehr beobachten. Schon in der Fahrschule werden die Fahranfänger*innen zu ständiger Vorsicht und gegenseitiger Rücksichtnahme ermahnt (§1 StVO). Mit dem „Führerschein auf Probe“ wird ihnen anschließend eine – durchaus empirisch begründete – Anfälligkeit für diesbezügliche Defizite unterstellt. Dass bei gravierenden Regelverletzungen den Fahrer*innen eine Nachschulung auferlegt wird, in der die Zumutung von Orientierungen („defensiv fahren!“) die Vermittlung von Wissen und Können dominiert, zeigt: Diese Verkehrserziehung ist nachhaltig und sanktionsbewehrt.

Umwelt- und Verkehrserziehung können als Ausprägung der Gemeinwohlerziehung begriffen werden, da hier Orientierungen zugemutet werden, die bereits beschlossenen Gesetzen entsprechen, also dem gesellschaftlichen Konsens oder zumindest dem Willen der Mehrheit. Gemeinwohlerziehung zielt nicht nur auf diejenigen, die diese Gesetze ablehnen. Sie ist auch ein Mittel, um die unterstellte, mögliche oder tatsächlich gegebene Kluft zwischen den Überzeugungen williger Bürger*innen und ihrem alltäglichen Handeln zu verringern.

Dies gilt auch für einen Bereich der Gemeinwohlerziehung, der nicht mit einzelnen Gesetzen, sondern mit der demokratischen Verfassung des Staates zu tun hat: die rassismuskritische Erziehung. Sie richtet sich weniger an Menschen, die gefestigte rassistische Einstellungen haben und diese auch offen zeigen. Vielmehr geht es um jene, die jeglichen Rassismus von sich weisen würden, aber gleichwohl auf rassistische Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zurückgreifen, weil diese in der Gesellschaft etabliert sind und stillschweigend akzeptiert werden.

Aufschlussreich sind universitäre Lehrveranstaltungen, in denen Studierende nicht nur mit der Theorie der Rassismuskritik vertraut gemacht werden, sondern in Einzelfällen nachdrücklich dazu angehalten werden, sich diese Perspektive zu eigen zu machen. Denn dort zeigt sich in besonderer Schärfe ein Problem, das allen Formen der Erwachsenenerziehung innewohnt: Indem die Dozent*innen den Teilnehmer*innen Orientierungen zumuten, fügen sie sich in das ohnehin in solchen Settings herrschende hierarchische Verhältnis ein und nutzen dieses für erzieherische Zwecke. Auf die sich daraus ergebenden Gefahren einer Bevormundung wird noch einzugehen sein.

Ohne den erzieherischen Gestus aufzugeben, der zwar nicht explizit formuliert wird, lässt sich das rassismuskritische Anliegen auch in Sachbüchern artikulieren. Beispiele hierfür sind „Exit Racism – Rassismuskritisch denken lernen“ von Tupoka Ogette oder „Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu anti-rassistischem Denken“ von Mohamed Amjahid – beide Bücher sind mittlerweile Bestseller. Angesichts ihrer direktiven Art kann man sie kaum noch als Ratgeber im engeren Sinne bezeichnen. Hier finden sich nicht nur fünfzig als klare Aufforderungen formulierte „Lifestyle-Tipps für Süßkartoffeln“ und solche, die es – das heißt rassismuskritische Weiße – erst noch werden wollen. Auch werden die Leser*innen auf ihrem schwierigen Weg durch die Untiefen des eigenen Rassismus begleitet, zugleich aber immer wieder ermutigt, sich ihm zu stellen. Diese Orientierungszumutungen werden jedoch dadurch abgefedert, dass die Leser*innen das Buch jederzeit beiseitelegen können.

Politische Erziehung

Dass hierarchische Beziehungen für die Erziehung von Erwachsenen nicht nur genutzt, sondern auch gefestigt werden, gilt ebenso für den dritten Bereich, die politische Erziehung. Während die Gemeinwohlerziehung dort greift, wo bereits kollektiv bindende Entscheidungen – als Kernelement von Politik – und damit entsprechende Regeln vorliegen, kann es bei der Vorbereitung solcher Entscheidungen, die in einem Kollektiv (etwa in Deutschland) gelten sollen, zur politischen Erziehung kommen.

Die eingangs zitierte Fernsehansprache der Bundeskanzlerin lässt sich als Beispiel für politische Erziehung interpretieren, schließlich zielte Merkel darauf ab, dass die Bevölkerung Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen etc. befürwortet. Nachdem die entsprechenden Gesetze und Verordnungen in den Parlamenten verabschiedet worden waren, übten sich die politisch Verantwortlichen dann aber in Gemeinwohlerziehung.

Die politische Erziehung zu Beginn der Pandemie war auf ein sehr spezifisches Thema beschränkt, dessen Bedeutung zudem vorübergehend zu sein versprach. In der Geschichte der Bundesrepublik gab es jedoch Versuche politischer Erziehung, die von langfristigerem Einfluss waren: Politische Parteien änderten in Politikbereichen, die für die Weltanschauung ihrer Anhänger*innen von zentraler Bedeutung erschienen, ihre Richtung. Um diese Kehrtwenden zu ermöglichen, mutete das Führungspersonal der Parteien ihren Mitgliedern und Anhänger*innen neue politische Orientierungen nachhaltig und sanktionsbewehrt zu.

Neben der Wende zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat, die die SPD mit „Hartz IV“ vollzog, finden sich herausgehobene Beispiele politischer Erziehung auch bei Bündnis 90/Die Grünen und der CDU. Angesichts des Genozids von Srebrenica 1995 forderte Joschka Fischer, die damalige Führungsfigur der Grünen, seine Partei dazu auf, den pazifistischen Kurs (der bis zu Forderungen nach der Demilitarisierung der Bundeswehr reichte) zu verlassen. Stattdessen sollten die Grünen künftig friedensschaffende, mithin kriegerische Einsätze der Bundeswehr befürworten.

Hier ging es nicht um irgendeine politische Frage, sondern um einen „Identitäts- und Orientierungswandel“, stammten doch viele Grüne aus der Friedensbewegung. Diese neue Orientierung, die Bundeswehr als legitimes Mittel friedensschaffender Außenpolitik zu nutzen, mutete Fischer den Grünen bis hin zum Bielefelder Sonderparteitag 1999 nicht nur nachhaltig, sondern auch sanktionsbewehrt zu: Neben dem ideellen Lohn, wirkungsvoll gegen Völkermord zu agieren, stand auch der Verlust der Regierungsfähigkeit im Raum. Wie erfolgreich dieser politische Erziehungsprozess war, lässt sich nicht nur an der Haltung von Bündnis 90/Die Grünen im späteren Afghanistankrieg, sondern auch zur militärischen Hilfe für die Ukraine ablesen.

Kaum weniger radikal war der Kurswechsel, den Angela Merkel mit der Öffnung der Grenzen in der Nacht auf den 5. September 2015 einschlug. Dies geschah nach vielen Jahren, in denen Zufluchtsuchende aufgrund der maßgeblich von der CDU betriebenen Grundgesetzänderung von 1993 kaum noch Asyl in Deutschland erhalten konnten. Nicht nur den CDU-Anhänger*innen, sondern der ganzen Bevölkerung stellte die Bundeskanzlerin es hinfort anheim, Geflüchtete willkommen zu heißen, anstatt sie als Illegale zu diffamieren. Ähnlich wie zuvor Joschka Fischer setzte sie für diese Orientierungszumutung all ihr symbolisches Kapital ein, ermutigte die Bürger*innen („Wir schaffen das.“), drohte aber auch („Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“). Erleichtert wurde ihr dies durch die bürgerlich-konservative Presse wie „Bild“, „Welt“ und „FAZ“, die in diesem Jahr auf subtile Weise ihren Leser*innen asylfreundliche Orientierungen zumutete, empathiegeladene Fluchtgeschichten veröffentlichte und rassistische Proteste als Ausdruck von „Dunkeldeutschland“ (so der damalige Bundespräsident Joachim Gauck) verurteilte.

Und doch war Merkel weniger erfolgreich als Fischer. Viele Wähler*innen wandten sich der AfD zu. Auch innerhalb der CDU setzten sich letztlich die Asylgegner*innen durch. Merkel erging es damit ähnlich wie zuvor Bundeskanzler Gerhard Schröder: Seine Kehrtwende zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat hatte zu Abspaltungen von der SPD geführt und, viele Jahre später, zu einer Abkehr von „Hartz IV“.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob solche Versuche politischer Erziehung, die sich auf zentrale Komponenten der Weltanschauung von Parteianhänger*innen richten, nicht gerade in Regierungszeiten besonders riskant sind. Während Joschka Fischer und seine Mitstreiter*innen in der Opposition genügend Zeit und Raum hatten, ihre Orientierungszumutungen zu untermauern, vollzogen sich die Kehrtwenden der SPD und CDU innerhalb weniger Tage bis Wochen. Zudem macht es einen Unterschied, ob ein informeller Parteiführer wie Fischer oder ein Regierungsoberhaupt, das von vornherein aus einer hierarchischen Position heraus mit den Bürger*innen kommuniziert, politisch erzieht.

Bevormundungsverdacht

Erziehung stiftet immer ein hierarchisches, asymmetrisches Verhältnis zwischen Erziehenden und Erzogenen oder macht sich dieses zunutze. Orientierungszumutungen setzen sich daher über die Mündigkeit hinweg, die Erwachsenen zugeschrieben wird. Dies mag in hierarchischen Kontexten – beispielsweise in einem Betrieb oder in der Armee – noch als Ausnahme toleriert werden. Die Erziehung von Erwachsenen im demokratischen Staat erscheint hingegen als grundsätzlich illegitim. Denn die Demokratie lebt unter anderem von der Auseinandersetzung um das bessere Argument. Diese Auseinandersetzung sollte idealerweise auf Augenhöhe geführt werden. In dem Moment aber, in dem politische Akteure nicht nur Orientierungen anbieten (etwa für ihre politische Position werben), sondern diese Orientierungen zumuten, schlägt politische Bildung in Erziehung um, und das Verhältnis zu den Bürger*innen wird asymmetrisch. Dann bleiben den so erzogenen Bürger*innen „letztlich eine mehr oder minder unfreiwillige Unterwerfung (…) unter externe, vorab definierte Normen, Regeln und Zielsetzungen, über die nicht mehr offen diskutiert wird, oder der Ausschluss aus dem Konsens-Kollektiv.“

Orientierungszumutungen für erwachsene Bürger*innen stehen also per se unter dem Verdacht der Bevormundung. Der Eindruck, durch Erziehung bevormundet zu werden, verstärkt sich noch, wenn die erzieherischen Anstrengungen politischer Akteure – von der politischen Erziehung über die Gemeinwohl- bis zur Demokratieerziehung – über das hinausgehen, was von den Bürger*innen legitimerweise erwartet werden darf: sich, soweit sie keinen zivilen Ungehorsam ausüben wollen, an die demokratisch geschaffene Rechtsordnung und die Gesetze zu halten – unabhängig von ihren Einstellungen und Haltungen zu einzelnen Regeln (von Steuern bis zum Straßenverkehr). Die diskutierten Beispiele für Erziehung gehen denn auch weit über das hinaus, was man tun und lassen soll. Denn oftmals geht es nicht nur darum, sich die Mülltrennung oder demokratische Verfahren zur Gewohnheit zu machen. Vielmehr drängt der erzieherische Gestus darauf, dass sich die Bürger*innen aus innerer Überzeugung an den gewünschten Handlungspraktiken beteiligen. Sie sollen also auch wollen, wozu sie eigentlich nur von Rechts wegen verpflichtet sind. Damit wird die für den säkularisierten Staat eigentlich charakteristische „Trennung von Moral(-ität) und Recht (…) durch das Bindeglied ‚Erziehung‘ (…) aufgehoben“.

Das Gefühl, als erwachsene Bürger*innen durch erzieherische Interventionen bevormundet zu werden, kann sich, so ist zu vermuten, so stark in den Vordergrund drängen, dass die Sache, um derentwillen erzogen wird, zweitrangig erscheint. Die Abwehr gegen Bevormundung wandelt sich dann in eine Widerstandsreaktion, die ungeachtet der Frage, ob die zugemuteten Orientierungen und die mit ihnen verknüpften staatlichen Regeln nicht doch sinnvoll sind, zu deren Ablehnung führt. Aus der Auseinandersetzung um die Sache wird so ein Kampf um den Umgang miteinander. Dieses Gefühl, bevormundet zu werden, ist sicherlich nicht der einzige Faktor für die Hinwendung von Teilen der Bevölkerung zu populistischen oder rechtsextremen Parteien, könnte aber durchaus zu ihr beitragen.

Wer sollte wo erziehen?

Trotz dieses Bevormundungsverdachts sind sich viele Klassiker der politischen Theorie einig, „ein freiheitlich-demokratischer Staat habe die Bürger, die er braucht, zu erziehen“. Manche politischen Akteur*innen mögen ihnen darin folgen. Erziehung erscheint dann gleichsam als probate Antwort auf das Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Denn was sich durch Rechtssetzung nicht erzwingen lässt, könne augenscheinlich durch Erziehung bewerkstelligt werden, die in der Kindheit beginnt, im Erwachsenenalter aber nicht aufhört.

Falls man trotz der angeführten Bedenken der Ansicht ist, dass auch erwachsene Bürger*innen erzogen werden müssen, lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie dies vonstattengehen sollte. Wie kann verhindert werden, dass sich Bürger*innen angesichts von Orientierungszumutungen nur zwischen der Skylla der Bevormundung und der Charybdis der Selbstexklusion aus dem „Konsens-Kollektiv“ entscheiden müssen?

Zuallererst müsste es der Staat vermeiden, selbst zur „Erziehungsagentur“ zu werden. Denn wenn der Staat erzieht, steht hinter ihm ein großer Sanktionsapparat, der jegliche pädagogische Bemühung um Erwachsene zur Vorstufe behördlicher Maßnahmen degradiert. Dies hat sicherlich auch den Unwillen von Teilen der Bevölkerung, sich auf die Coronamaßnahmen einzulassen, begründet – so wichtig es auch gewesen sein mag, diese erzieherisch zu begleiten. Ein grundlegendes Element von Erziehung – dass man die zugemutete Orientierung auch ablehnen kann – droht durch staatlich forcierte Erwachsenenerziehung ausgehebelt zu werden. Die Möglichkeit, sich gegenüber der Orientierungszumutung positionieren zu können und sie nicht einfach hinnehmen zu müssen, sichert aber nicht nur einen Kernbestand an Mündigkeit. Es gewährleistet auch die Möglichkeit von eigenständiger Zustimmung, sei es durch Einsicht oder praktisches Handeln. Diese eigenständige Zustimmung zu den zugemuteten Orientierungen unterscheidet Erziehung von Indoktrination.

Daher sind alle Formate von Vorteil, in denen Bürger*innen sich aus freien Stücken darauf einlassen, erzogen zu werden. Dies beginnt bei politischen Parteien: Man kann jederzeit austreten oder die politische Konkurrenz wählen, wenn das Führungspersonal angesichts von Kehrtwenden (aber vielleicht nicht nur dann) politisch erzieht. Dies setzt sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen fort, die Bürger*innen dazu anhalten, klimafreundlich zu leben, solidarisch zu handeln oder die Demokratie zu verteidigen – niemand ist gezwungen, an ihren Aktivitäten teilzunehmen. Und es endet bei einzelnen Medienakteur*innen – von Buchautor*innen bis zu Influencer*innen –, die zu rassismuskritischem Handeln oder sparsamem Ressourcenverbrauch erziehen. Man kann jederzeit das Buch aus der Hand legen oder das Video abschalten.

Wenn in diesen Formaten Orientierungszumutungen offen kommuniziert werden, verlieren politische Erziehung, Demokratie- oder Gemeinwohlerziehung tendenziell ihren entmündigenden Charakter. Denn die Bürger*innen können sich, während und obwohl sie erzogen werden, stets fragen, ob sie sich dem weiter aussetzen und Orientierungen zumuten lassen wollen. Soweit diese souveräne Einwilligung in Erziehung gewährleistet ist, haben wir es mit einer nicht entmündigenden Orientierungszumutung zu tun. Es erscheint akzeptabler, Bürger*innen zu erziehen, wenn diese sich problemlos ihrer Erziehung entziehen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Pressemitteilung vom 18. März 2020, Externer Link: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/rede-kanzlerin.pdf?__blob=publicationFile&v=6.

  2. Klaus Prange/Gabriele Strobel-Eisele, Die Formen des pädagogischen Handelns, Stuttgart 2015, S. 207.

  3. Vgl. Nicole Welter/Heinz-Elmar Tenorth, Entgrenzung des Erziehungsbegriffs, in: Zeitschrift für Pädagogik 1/2022, S. 15–23.

  4. Vgl. Arnd-Michael Nohl, Erziehende Demokratie, Wiesbaden 2022, S. 5f.

  5. Dietrich Benner/Jürgen Schriewer/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Erziehungsstaaten, Weinheim 1998.

  6. Vgl. Nohl (Anm. 4).

  7. Vgl. Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach?, in: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?, Bonn 2016, S. 19–27.

  8. Tilman Grammes, Kommunikative Fachdidaktik, Opladen 1998, S. 244f.

  9. Kultusministerkonferenz, Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 6.3.2009 i.d.F. vom 11.10.2018, S. 5.

  10. Vgl. Johannes Drerup/Douglas Yacek, Demokratische Bildung und die Grenzen des politischen Streits, in: Journal für politische Bildung 3/2020, S. 18–23, hier S. 19.

  11. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Curriculum für einen bundesweiten Orientierungskurs, Nürnberg 2017.

  12. Vgl. Nohl (Anm. 4), S. 145–148.

  13. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ Anlage zur Förderrichtlinie zur Gewährung von Zuwendungen für Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie, in: Gemeinsames Ministerialblatt 53/2024, S. 1170.

  14. Ebd., S. 1176.

  15. Thomas Höhne, Resiliente Demokratie durch Bildung oder Erziehung?, in: Caroline Bossong et al. (Hrsg.), Islamismusprävention in pädagogischen Handlungsfeldern, Bonn 2022, S. 69–94, hier S. 79.

  16. Stefan Huster, Grundfragen staatlicher Erziehungsambitionen, in: Eva Schumann (Hrsg.), Das erziehende Gesetz, Berlin–New York, S. 193–225, hier S. 193.

  17. Jörn Lüdemann, Edukatorisches Staatshandeln, Baden-Baden 2004.

  18. Vgl. Nohl (Anm. 4), S. 159–164.

  19. Vgl. Arnd-Michael Nohl, Dekolonisierung zwischen politischer Erziehung und praxeologischer Bildung, in: Tertium Comparationis 2/2024, S. 124–140.

  20. Vgl. Mohamed Amjahid, Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken, München 2021.

  21. Vgl. Tupoka Ogette, Exit Racism – Rassismuskritisch denken lernen, Münster 2023.

  22. Vgl. Armin Nassehi, Der Begriff des Politischen und die doppelte Normativität der „soziologischen“ Moderne, in: ders./Markus Schroer (Hrsg.), Der Begriff des Politischen, Baden-Baden 2003, S. 133–169, hier S. 165.

  23. Denise Klinge/Arnd-Michael Nohl/Burkhard Schäffer (Hrsg.), Pädagogik des gesellschaftlichen Ausnahmezustandes – Erziehung Erwachsener in der Corona-Pandemie, Wiesbaden 2023.

  24. Vgl. Nohl (Anm. 4), S. 19–96.

  25. Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse, Opladen 2002, S. 178.

  26. Vgl. Arnd-Michael Nohl/Barbara Pusch, „Wir schaffen das“: Politische Erziehung im Zuge der CDU-Flüchtlingswende 2015, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 3/2017, S. 324–344.

  27. Höhne (Anm. 15), S. 81.

  28. Ulrich Binder, Die Pädagogisierung des Rechts, in: Zeitschrift für Pädagogik 3/2014, S. 409–427, hier S. 413.

  29. Ebd., S. 410.

  30. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, S. 42–64, hier S. 61.

  31. Höhne (Anm. 15), S. 81.

  32. Stephan Lessenich, Der Sozialstaat als Erziehungsagentur, in: APuZ 49–50/2012, S. 55–61, hier S. 56.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Arnd-Michael Nohl für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Pädagogik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.