In gegenwärtigen Diskussionen und Reflexionen über das von Erwachsenen begleitete Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wird der Begriff „Erziehung“ zumeist umgangen. Stattdessen werden mögliche Erziehungsziele über die Thematisierung von Partizipation, Selbstbehttpsstimmung oder Resilienz direkt inhaltlich benannt, ohne dass sie explizit mit einem Erziehungsauftrag in Verbindung gebracht werden. Oft rücken Fragen von Bildung und Teilhabe an die Stelle von Erziehungsfragen. Selbst in der erziehungswissenschaftlichen Fachdebatte lässt sich seit Jahrzehnten ein gewisses Fremdeln mit dem Kernbegriff „Erziehung“ beobachten.
Sind das Nachdenken und Sprechen über Erziehung also überholt? Nun liegt es in der Natur der Dinge, dass sie auch dann weiter existieren, wenn wir nicht über sie sprechen. Wir gehen davon aus, dass auch gegenwärtig munter weiter erzogen wird – sogar dann, wenn Erziehung dethematisiert oder negiert wird. Wir sehen jedoch die Gefahr, dass die jeweilige Erziehungspraxis durch ein solches Dethematisieren oder Negieren der Reflexion, Diskussion und Kritik entzogen wird.
Dennoch ist im öffentlichen Diskurs gleichzeitig der Ruf nach Erziehung zu hören, insbesondere dann, wenn diese als unzureichend oder gescheitert wahrgenommen wird. „Kinder brauchen dringend Grenzen“, überschrieb etwa die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ im Juli 2025 einen Artikel über die Strafmündigkeit von Minderjährigen. Ausgehend von einer alarmistischen Zuspitzung auf besonders schwere Gewaltverbrechen, die von Kindern verübt wurden, werden darin Defizite und Notwendigkeit von Erziehung betont.
Fehlende oder als defizitär wahrgenommene, scheiternde Erziehung wird also nach wie vor durchaus als problematisch markiert. Mehr noch: Neben einem Dethematisieren bzw. Negieren von Erziehung ist seit den 1990er Jahren in einer diffusen Gleichzeitigkeit ein starker Anstieg der Inanspruchnahme von staatlich verantworteten Erziehungshilfen zu beobachten.
Nicht selten reagieren die Erziehungshilfen auf die Überforderung von Eltern. Diese lässt sich wiederum als Kehrseite der gesellschaftlich problematisierten Erziehungsdefizite lesen und weist auf eine gegenwärtige Problematik hin. Ein im April 2025 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichter Beitrag mit dem Titel „Die gestressten Eltern“ macht exemplarisch darauf aufmerksam, dass Erziehung von immer mehr Eltern als stressauslösende Herausforderung beschrieben wird.
Erziehung als soziale Tatsache – Antworten auf das Aufwachsen in Gesellschaft
Den Ausgangspunkt für das Nachdenken über Erziehung bildet das Generationenverhältnis, also die Tatsache, dass eine ältere Generation gegenüber einer jüngeren Generation verantwortlich ist: „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“, fragt Friedrich Schleiermacher (1768–1834) in seiner klassischen Erziehungslehre
Notwendig wird Erziehung, so die erziehungstheoretische Argumentationslinie, durch die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. Wenn nämlich „keine Instinkte sein Verhalten regulieren, sondern Kultur, Sinn, Wissen, Bedeutung, Brauch, Normen“, bedarf es der Erziehung.
Dieses Wagnis ergibt sich nicht nur aus dem situativen Vollzugscharakter sozialer Praxis, sondern beruht auch auf einer grundlegenden Paradoxie, die bereits der theoretischen Idee von Erziehung innewohnt. Schon Immanuel Kant war sich der Widersprüchlichkeit bewusst, dass Erziehung nicht durchgängig einvernehmlich zwischen den Generationen gestaltet werden kann und somit die Selbstbestimmtheit der Heranwachsenden als Ziel von Erziehung in eine notwendigerweise unlösbare Paradoxie erzieherischer Praxis führt. „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“, fragte Kant pointiert. Denn einerseits muss Erziehung die potenzielle Einsichtsfähigkeit und Vernunftbegabung des zu erziehenden jungen Menschen voraussetzen, da Erziehung sonst nicht möglich wäre. Gleichzeitig geht Erziehung von einer mangelnden Einsichtsfähigkeit und einer noch nicht ausgebildeten Vernunft – und somit von einer fehlenden Freiheit – aus, da Erziehung sonst nicht mehr notwendig wäre. Sie schränkt demnach in ihrem Vollzug die Autonomie des Heranwachsenden potenziell ein, um seine zukünftige Autonomie zu befördern.
Gerade um das fragile Unterfangen von Erziehung in seinen potenziellen Kipppunkten – einerseits Beliebigkeit, Desinteresse und Vernachlässigung, andererseits Dressur, Manipulation und Gewalt – thematisieren zu können und somit Erziehung erst zu ermöglichen, ist es wichtig, diese paradoxe Struktur nicht unsichtbar zu machen, sondern sie in ihrer Widersprüchlichkeit zu benennen. Nur so können das Scheitern und die Krisen in der Erziehung als Möglichkeit mitgedacht werden.
Erziehung als Notwendigkeit zwischen Machtüberhang und Gewaltförmigkeit
Zentrales Merkmal des Generationenverhältnisses ist die Machtasymmetrie zwischen den Generationen, also die Differenz in Wissen, Erfahrung und Status sowie über einen langen Zeitraum hinweg auch in einer körperlichen Durchsetzungsfähigkeit. Kinder sind in diesem Verhältnis an vielen Stellen von den Erwachsenen abhängig und ihnen in vielen alltäglichen Situationen, sowohl im familiären als auch im institutionellen Kontext, ausgeliefert.
Das Zusammenspiel kindlicher Vulnerabilität einerseits und der im Kulturwesen Mensch begründeten Erziehungsnotwendigkeit andererseits bringt Erziehungsfragen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Machtasymmetrien mit ethischen Fragen zusammen. Wie und inwiefern darf und muss Erziehung stattfinden? Wie kann sichergestellt werden, dass der Machtüberhang auf Seiten der Erziehenden in ethisch vertretbarer Weise ausgestaltet wird?
Insbesondere sind pädagogische Interventionen in den Blick zu nehmen, bei denen Erwachsene gegen den erklärten oder sichtbaren Willen von Kindern handeln oder deren (Nicht-)Handeln einfordern. Dies gilt umso mehr, wenn diese mit dem Schutz des Kindes begründet oder hinsichtlich der damit verfolgten Erziehungsziele als legitim erachtet werden. Typische alltägliche Situationen sind der morgendliche Aufbruch in die Kita, das Festhalten eines Kindes, das auf die Straße läuft, das Anziehen einer Jacke im Winter, das Verlangen, häusliche Aufgaben zu erledigen, das Untersagen der Mediennutzung und vieles mehr. Selbstverständlich lässt sich darüber streiten, welche Handlungen zum Schutz der Kinder tatsächlich notwendig sind, beispielsweise ob es zu kalt ist, um ohne Jacke nach draußen zu gehen, oder ob das Aufräumen des eigenen Zimmers oder der Besuch der Kita an diesem Montag für die zukünftige Eigenständigkeit der Kinder entscheidend ist. Bedeutsam ist jedoch vor allem, dass Erziehungsverhältnisse nicht ohne Konflikte gedacht werden können, da Konflikte zwischen aktuellen Interessen und Bedürfnissen und auf die Zukunft ausgerichteten Erziehungszielen unabdingbar sind. Sie ergeben sich aus der dargestellten paradoxen Struktur: Erziehung vermittelt einerseits Möglichkeiten der Aneignung und antwortet andererseits auf das „Noch-nicht-erwachsen-Sein“ des Kindes. Erst das Noch-nicht-durchweg-vernünftig-Sein, das Noch-nicht-in-Gänze-selbstständig-Sein legitimiert Erziehung und macht sie erforderlich. Ihr Erfordernis kann nicht durch die potenzielle Gewaltförmigkeit ausgehebelt werden. Vielmehr ist eine reflektierte Sensibilität für den Machtüberhang erforderlich, der jeder Form von Erziehung – selbst der partizipativsten und kindorientiertesten – zugrunde liegt.
Krisenhaftigkeit von Erziehung – Gegenwärtige Herausforderungen
Erziehung soll also sein, ist mehr noch eine soziale Tatsache, die sich aus dem Generationenverhältnis ergibt, und wird dennoch entweder negiert oder aber als defizitär problematisiert. Wie passt dies zusammen?
Spätestens seit den 1990er Jahren ist Erziehung als Antwort auf das Aufwachsen in Gesellschaft prekär geworden: Erstens reformieren technische und gesellschaftliche Entwicklungen das kulturelle Erbe in immer kürzeren Abständen. So erfordern Neuerungen, die im Zuge einer voranschreitenden Mediatisierung und Digitalisierung zuletzt in Gestalt KI-gestützter Prozesse auftreten, generationsübergreifend Aneignung, ohne dass dieser die Vermittlung einer hierin erfahrenen älteren Generation vorausgeht.
Zweitens zeigt sich „Gesellschaft“, sozialwissenschaftlich betrachtet, seit einiger Zeit als fragmentiert in heterogene Milieus und Lebensformen, sodass gemeinsam geteilte Orientierungen und Normen nicht mehr als selbstverständlich angenommen werden können. Der Umstand, dass wiederkehrende Debatten um eine „Leitkultur“ geführt oder Kulturkämpfe in der politischen Öffentlichkeit ausgetragen werden, zeigt, dass das kulturelle Erbe umkämpft wird und fragil geworden ist.
Das Aufbrechen von Gewissheiten bzw. vermeintlichen Selbstverständlichkeiten – beispielsweise was die Rolle der USA als wohlwollender „großer Bruder“ oder den Frieden in Europa angeht – ist zudem drittens Teil einer seltsam anmutenden gesellschaftlichen Gleichzeitigkeit. Sie besteht darin, dass sich durch das Erstarken von Autoritarismus, die Klimakatastrophe, die anhaltende wirtschaftliche Rezession sowie die Rückkehr von Eroberungskriegen bis an die Grenzen der EU eine Perspektivlosigkeit ausbreitet, die sich auf ambivalente Weise mit einer selbstgenügsamen Sattheit im Hier und Jetzt verschränkt. Nach Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung scheint es an Utopien und Erzählungen zu mangeln. Wohlfahrtsversprechen und Generationenvertrag sind brüchig geworden. Das auf ein Morgen ausgerichtete Projekt der Erziehung der Moderne ist auch deshalb prekär, weil dieses Morgen vielfach verdrängt wird durch eine eskapistische, konsumorientierte Ausrichtung auf die Gegenwart.
Viertens lässt sich in einigen Milieus eine Veränderung des Erziehungsverhältnisses „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ verzeichnen, bei der autoritäre Erziehungsformen zurückgedrängt werden zugunsten partizipativerer Formen.
Somit bildet fünftens der Zusammenhang von demografischen, demokratischen und sozialstaatlichen Schieflagen einen weiteren entscheidenden Kontext im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten der sich in Autonomie und Freiheit einübenden bzw. ausprobierenden jüngeren Generation.
Angesichts des Zusammenspiels der hier angeführten, sich wechselseitig verstärkenden Aspekte lässt sich fragen, ob die Erwachsenen dieser Zeit noch ihrer Rolle innerhalb des Erziehungs- und Generationenverhältnisses insofern gerecht werden, als sie Heranwachsenden Orientierung und Identifikationsmöglichkeiten sowie die ebenfalls erforderliche Abgrenzung ermöglichen.