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Erziehung zwischen Krisenhaftigkeit, Notwendigkeit und sozialer Tatsache - Essay | Erziehung | bpb.de

Erziehung Editorial Bürger erziehen? Erwachsene als Adressaten von Orientierungszumutungen Erziehung zwischen Krisenhaftigkeit, Notwendigkeit und sozialer Tatsache - Essay Zwischen Mündigkeit und Disziplinierung. Bürgerliche Gesellschaft und die Erziehung der Frau Erziehung in der Krise? Über strukturelle Gewalt, pädagogische Überforderung und die Rückkehr der bürgerlichen Kälte Befähigen und bändigen. Schule, Jugend und die Erziehung zur Demokratie nach 1968 Flexible Muster der Kleinkindbetreuung. Perspektiven der evolutionären Anthropologie Digitale Bildung als Dystopie. Pädagogischer Rückzug im Spannungsfeld von Erziehung und Politik

Erziehung zwischen Krisenhaftigkeit, Notwendigkeit und sozialer Tatsache - Essay

Dominik Farrenberg Selma Haupt

/ 14 Minuten zu lesen

In heutigen Diskussionen über das Aufwachsen von Kindern wird der Begriff „Erziehung“ häufig vermieden. Oft rücken Fragen von Bildung und Teilhabe an seine Stelle. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Erziehungspraxis der Diskussion und Kritik entzogen wird.

In gegenwärtigen Diskussionen und Reflexionen über das von Erwachsenen begleitete Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wird der Begriff „Erziehung“ zumeist umgangen. Stattdessen werden mögliche Erziehungsziele über die Thematisierung von Partizipation, Selbstbehttpsstimmung oder Resilienz direkt inhaltlich benannt, ohne dass sie explizit mit einem Erziehungsauftrag in Verbindung gebracht werden. Oft rücken Fragen von Bildung und Teilhabe an die Stelle von Erziehungsfragen. Selbst in der erziehungswissenschaftlichen Fachdebatte lässt sich seit Jahrzehnten ein gewisses Fremdeln mit dem Kernbegriff „Erziehung“ beobachten. Während in den 1970er Jahren zunächst noch der Begriff „Sozialisation“ dominierte, wurde er bis heute durch den Begriff „Bildung“ verdrängt. Dies geht zum einen damit einher, dass sich Erkenntnisse durchgesetzt haben, die eine Planbarkeit oder Steuerbarkeit von Erziehung zunehmend infrage stellen. Dabei wird die Grenze zwischen absichtsvoller Erziehung und beiläufiger Sozialisation mitunter verwischt. Zum anderen ist der Bildungsbegriff umfassend positiv aufgeladen. Spiegelbildlich hierzu kann für den Erziehungsbegriff eine negative Konnotation attestiert werden: Im Diskurs erscheint er vielfach als Überbleibsel einer sogenannten schwarzen Pädagogik, in der Gewaltanwendung, Demütigung und Machtmissbrauch gängige Erziehungsmittel waren. Im Zuge mehrerer reformpädagogischer Entwicklungen – darunter die antiautoritäre Pädagogik und die Antipädagogik – wurde der Erziehungsbegriff schließlich zunehmend obsolet.

Sind das Nachdenken und Sprechen über Erziehung also überholt? Nun liegt es in der Natur der Dinge, dass sie auch dann weiter existieren, wenn wir nicht über sie sprechen. Wir gehen davon aus, dass auch gegenwärtig munter weiter erzogen wird – sogar dann, wenn Erziehung dethematisiert oder negiert wird. Wir sehen jedoch die Gefahr, dass die jeweilige Erziehungspraxis durch ein solches Dethematisieren oder Negieren der Reflexion, Diskussion und Kritik entzogen wird.

Dennoch ist im öffentlichen Diskurs gleichzeitig der Ruf nach Erziehung zu hören, insbesondere dann, wenn diese als unzureichend oder gescheitert wahrgenommen wird. „Kinder brauchen dringend Grenzen“, überschrieb etwa die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ im Juli 2025 einen Artikel über die Strafmündigkeit von Minderjährigen. Ausgehend von einer alarmistischen Zuspitzung auf besonders schwere Gewaltverbrechen, die von Kindern verübt wurden, werden darin Defizite und Notwendigkeit von Erziehung betont. Es fällt schwer, die Ausübung von Gewaltverbrechen mit dem gängigen Bild eines verletzlichen, unschuldigen oder neugierigen, spielenden und lernenden Kindes zu vereinbaren. Dabei wird insbesondere in Medien und Erziehungsratgebern regelmäßig das Bild des gefährlichen Kindes heraufbeschworen, wenn von Kindern als „Tyrannen“ gesprochen wird, die egoistisch und konsumverwöhnt ihren Willen durchsetzen. Das weitgehend verdrängte Bild des gefährlichen Kindes fordert die Notwendigkeit von Erziehung vielleicht am nachdrücklichsten ein.

Fehlende oder als defizitär wahrgenommene, scheiternde Erziehung wird also nach wie vor durchaus als problematisch markiert. Mehr noch: Neben einem Dethematisieren bzw. Negieren von Erziehung ist seit den 1990er Jahren in einer diffusen Gleichzeitigkeit ein starker Anstieg der Inanspruchnahme von staatlich verantworteten Erziehungshilfen zu beobachten. Damit sind Angebote der Kinder- und Jugendhilfe gemeint, die von der Erziehungsberatung bis hin zur Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen reichen. Von einer zumindest anteiligen Auslagerung von Erziehungsverantwortung an spezialisierte Orte ist somit auszugehen. Versuche, das gefährliche Kind zu zähmen, und der Schutz des gefährdeten Kindes gehen in Fällen, in denen die Erziehungsleistung in der Familie nicht mehr sichergestellt werden kann, dabei oftmals nahtlos ineinander über.

Nicht selten reagieren die Erziehungshilfen auf die Überforderung von Eltern. Diese lässt sich wiederum als Kehrseite der gesellschaftlich problematisierten Erziehungsdefizite lesen und weist auf eine gegenwärtige Problematik hin. Ein im April 2025 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichter Beitrag mit dem Titel „Die gestressten Eltern“ macht exemplarisch darauf aufmerksam, dass Erziehung von immer mehr Eltern als stressauslösende Herausforderung beschrieben wird. Während die zeitlichen Ressourcen von Eltern durch die Zunahme von Lohnerwerbstätigkeit in Doppelverdienerhaushalten knapper werden und zumindest in einigen Milieus die (ökonomischen) Perspektiven gleichzeitig prekärer werden, hat sich auch der Anspruch an die elterliche Erziehung verändert. Dieser wird im mehrheitlich geteilten Leitbild einer „verantworteten Elternschaft“ bestärkt und erweitert. Die zeitliche und materielle elterliche Aufgabe, sich um das Kind zu kümmern, wird durch das durchaus anspruchsvolle Fördergebot ergänzt, das Aufwachsen des Kindes intensiv und qualitativ hochwertig zu begleiten. Dieser hohe gesellschaftliche Anspruch steht allerdings nur in bestimmten Konstellationen im Einklang mit den erforderlichen Möglichkeiten und Ressourcen. Nicht nur ist die Erziehungspraxis wie jegliche soziale Praxis fragil und anfällig – ihr Misslingen wird durch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bzw. Möglichkeit bereits strukturell begünstigt.

Erziehung als soziale Tatsache – Antworten auf das Aufwachsen in Gesellschaft

Den Ausgangspunkt für das Nachdenken über Erziehung bildet das Generationenverhältnis, also die Tatsache, dass eine ältere Generation gegenüber einer jüngeren Generation verantwortlich ist: „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“, fragt Friedrich Schleiermacher (1768–1834) in seiner klassischen Erziehungslehre und macht damit auf die doppelte Zielbestimmung von Erziehung aufmerksam: Es ist die Zukunft des einzelnen Kindes oder Jugendlichen und der Gesellschaft als Ganzes, auf die Erziehung letztlich ausgerichtet ist und durch die sie sich begründet. Damit ist Erziehung zum einen an eine soziale bzw. gesellschaftliche Dimension gebunden, sie „gibt es nur dort, aber überall dort, wo Kindheit in Gesellschaft abläuft“. Zum anderen definiert sie sich als eine „auf die Zukunft gerichtete Perspektive“, das heißt über eine zeitliche Dimension. Jedoch ist diese Zukunft unbestimmt, sie ist nicht vorhersehbar, sondern nur vorstellbar. Für diese ungewisse Zukunft – so das grundlegende Anliegen erzieherischen Handelns – ist die ältere Generation bestrebt, die Kinder vorzubereiten, eben zu erziehen. Erziehung ist damit die Antwort auf das Aufwachsen in der Gesellschaft, eine „unvermeidliche soziale Tatsache“; eine Antwort auf die Entwicklung des heranwachsenden Menschen, wofür in der Moderne die Lernzeit der Lebensphase Kindheit eingerichtet wurde.

Notwendig wird Erziehung, so die erziehungstheoretische Argumentationslinie, durch die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. Wenn nämlich „keine Instinkte sein Verhalten regulieren, sondern Kultur, Sinn, Wissen, Bedeutung, Brauch, Normen“, bedarf es der Erziehung. Entsprechend wird Erziehung als die Weitergabe des kulturellen Erbes verstanden. Dieses besteht aus Fertigkeiten, Techniken und Wissen sowie aus Normen, Werten, Zielen und Moralvorstellungen. In der Erziehungsphilosophie Immanuel Kants geschieht dies in Form von Disziplinierung der Triebe und des Willens, der Kultivierung der Erziehbarkeit (Belehrbarkeit und Unterwerfung), die das Erlernen von Fertigkeiten und Kulturtechniken einschließt, der Zivilisierung des sozialen Umgangs, etwa in Bezug auf Anstand und Benehmen, sowie schließlich der Moralisierung, die das Ausbilden einer Gesinnung und einer moralischen Richtschnur umfasst. Zusammengenommen umfasst Erziehung somit „die vermittelte Aneignung von nicht-genetischen Tätigkeitsdispositionen“, im Verständnis einer sozialen Praxis zwischen den Generationen. Merkmal sozialer Praxis ist, dass das Gelingen oder Misslingen von Erziehung nicht einseitig den einzelnen Akteuren zugeschrieben werden kann – weder dem Kind noch dem mit Erziehung beauftragten Erwachsenen. Erziehung entfaltet sich vielmehr erst im Vollzug der situativen und vielfach kontextualisierten Praxis: Ob sich ein Kind beispielsweise vor dem morgendlichen Aufbruch in die Kita selbstständig anzieht oder – aus Erwachsenenperspektive betrachtet – trödelt, über das Anziehen der Wintergarderobe diskutiert oder sich dem Anziehen verweigert, ist eine situationsabhängige Frage. In diese spielen die Gemütsverfassung von Eltern und Kind ebenso hinein wie viele weitere Kontexte. Die mit Erziehung beauftragte ältere Generation trägt somit die Verantwortung für etwas, dessen Verlauf und Ergebnis sie selbst nicht überblicken oder kontrollieren kann.

Dieses Wagnis ergibt sich nicht nur aus dem situativen Vollzugscharakter sozialer Praxis, sondern beruht auch auf einer grundlegenden Paradoxie, die bereits der theoretischen Idee von Erziehung innewohnt. Schon Immanuel Kant war sich der Widersprüchlichkeit bewusst, dass Erziehung nicht durchgängig einvernehmlich zwischen den Generationen gestaltet werden kann und somit die Selbstbestimmtheit der Heranwachsenden als Ziel von Erziehung in eine notwendigerweise unlösbare Paradoxie erzieherischer Praxis führt. „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“, fragte Kant pointiert. Denn einerseits muss Erziehung die potenzielle Einsichtsfähigkeit und Vernunftbegabung des zu erziehenden jungen Menschen voraussetzen, da Erziehung sonst nicht möglich wäre. Gleichzeitig geht Erziehung von einer mangelnden Einsichtsfähigkeit und einer noch nicht ausgebildeten Vernunft – und somit von einer fehlenden Freiheit – aus, da Erziehung sonst nicht mehr notwendig wäre. Sie schränkt demnach in ihrem Vollzug die Autonomie des Heranwachsenden potenziell ein, um seine zukünftige Autonomie zu befördern. Diese Paradoxie ist nicht als Problem oder Hindernis zu deuten, sondern als konstitutiv für Erziehung ernst zu nehmen, wenn diese dem Gegenüber gerecht werden und auf dessen Entwicklungsfähigkeit und Erziehungsbedürftigkeit Antworten finden will.

Gerade um das fragile Unterfangen von Erziehung in seinen potenziellen Kipppunkten – einerseits Beliebigkeit, Desinteresse und Vernachlässigung, andererseits Dressur, Manipulation und Gewalt – thematisieren zu können und somit Erziehung erst zu ermöglichen, ist es wichtig, diese paradoxe Struktur nicht unsichtbar zu machen, sondern sie in ihrer Widersprüchlichkeit zu benennen. Nur so können das Scheitern und die Krisen in der Erziehung als Möglichkeit mitgedacht werden. Entsprechend ist das mögliche Scheitern von Erziehung eine Voraussetzung dafür, Erziehung zu legitimieren: Gerade die Möglichkeit, dass Erziehungsziele nicht erreicht werden oder Erziehung in einzelnen Handlungen oder im Ganzen als gescheitert betrachtet wird, ist die Bedingung dafür, dass Erziehung auch gelingen kann. Anders ist ein Erproben von Freiheit und ein sich Annähern an Mündigkeit und Autonomie nicht zu haben. Die Möglichkeit des Gelingens ist wiederum die Bedingung dafür, Erziehung immer wieder zu versuchen. Erziehungsziele wie Mündigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung verpflichten darüber hinaus dazu, Erziehung trotz und wegen ihrer Paradoxien zu verteidigen.

Erziehung als Notwendigkeit zwischen Machtüberhang und Gewaltförmigkeit

Zentrales Merkmal des Generationenverhältnisses ist die Machtasymmetrie zwischen den Generationen, also die Differenz in Wissen, Erfahrung und Status sowie über einen langen Zeitraum hinweg auch in einer körperlichen Durchsetzungsfähigkeit. Kinder sind in diesem Verhältnis an vielen Stellen von den Erwachsenen abhängig und ihnen in vielen alltäglichen Situationen, sowohl im familiären als auch im institutionellen Kontext, ausgeliefert. Insbesondere in Situationen, in denen sich das erzieherische Handeln gegen den artikulierten oder sichtbaren Willen des Kindes richtet, wird deutlich, dass mit Erziehung letztlich immer ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Kindes einhergeht. Hinsichtlich dieser Problematik lässt sich zunächst festhalten, dass Erziehung stets das Risiko birgt, dass der Machtüberhang der Erwachsenen in Gewalt umschlägt bzw. dass die Erziehungspraxis einer strukturellen Gewaltförmigkeit unterliegt. Auch historisch lässt sich zeigen, dass sich die Geschichte der Erziehung als eine Geschichte der Gewalt darstellen lässt, am prominentesten in Form der „schwarzen Pädagogik“. Diese Frage ist jedoch keinesfalls nur eine historische. Sie betrifft zudem nicht nur die ausgeübte Gewalt, vielmehr birgt auch die Verweigerung von Erziehung bzw. die Leugnung kindlicher Erziehungsbedürftigkeit Gewaltpotenzial gegenüber Kindern. Selbst ein Nicht-Erziehen bietet somit keine verlässliche Absicherung gegen Gewalt im Miteinander von Kindern und Erwachsenen. Abgesehen davon ist fraglich, unter welchen Voraussetzungen konsequentes Nicht-Erziehen überhaupt möglich wäre.

Das Zusammenspiel kindlicher Vulnerabilität einerseits und der im Kulturwesen Mensch begründeten Erziehungsnotwendigkeit andererseits bringt Erziehungsfragen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Machtasymmetrien mit ethischen Fragen zusammen. Wie und inwiefern darf und muss Erziehung stattfinden? Wie kann sichergestellt werden, dass der Machtüberhang auf Seiten der Erziehenden in ethisch vertretbarer Weise ausgestaltet wird?

Insbesondere sind pädagogische Interventionen in den Blick zu nehmen, bei denen Erwachsene gegen den erklärten oder sichtbaren Willen von Kindern handeln oder deren (Nicht-)Handeln einfordern. Dies gilt umso mehr, wenn diese mit dem Schutz des Kindes begründet oder hinsichtlich der damit verfolgten Erziehungsziele als legitim erachtet werden. Typische alltägliche Situationen sind der morgendliche Aufbruch in die Kita, das Festhalten eines Kindes, das auf die Straße läuft, das Anziehen einer Jacke im Winter, das Verlangen, häusliche Aufgaben zu erledigen, das Untersagen der Mediennutzung und vieles mehr. Selbstverständlich lässt sich darüber streiten, welche Handlungen zum Schutz der Kinder tatsächlich notwendig sind, beispielsweise ob es zu kalt ist, um ohne Jacke nach draußen zu gehen, oder ob das Aufräumen des eigenen Zimmers oder der Besuch der Kita an diesem Montag für die zukünftige Eigenständigkeit der Kinder entscheidend ist. Bedeutsam ist jedoch vor allem, dass Erziehungsverhältnisse nicht ohne Konflikte gedacht werden können, da Konflikte zwischen aktuellen Interessen und Bedürfnissen und auf die Zukunft ausgerichteten Erziehungszielen unabdingbar sind. Sie ergeben sich aus der dargestellten paradoxen Struktur: Erziehung vermittelt einerseits Möglichkeiten der Aneignung und antwortet andererseits auf das „Noch-nicht-erwachsen-Sein“ des Kindes. Erst das Noch-nicht-durchweg-vernünftig-Sein, das Noch-nicht-in-Gänze-selbstständig-Sein legitimiert Erziehung und macht sie erforderlich. Ihr Erfordernis kann nicht durch die potenzielle Gewaltförmigkeit ausgehebelt werden. Vielmehr ist eine reflektierte Sensibilität für den Machtüberhang erforderlich, der jeder Form von Erziehung – selbst der partizipativsten und kindorientiertesten – zugrunde liegt.

Krisenhaftigkeit von Erziehung – Gegenwärtige Herausforderungen

Erziehung soll also sein, ist mehr noch eine soziale Tatsache, die sich aus dem Generationenverhältnis ergibt, und wird dennoch entweder negiert oder aber als defizitär problematisiert. Wie passt dies zusammen?

Spätestens seit den 1990er Jahren ist Erziehung als Antwort auf das Aufwachsen in Gesellschaft prekär geworden: Erstens reformieren technische und gesellschaftliche Entwicklungen das kulturelle Erbe in immer kürzeren Abständen. So erfordern Neuerungen, die im Zuge einer voranschreitenden Mediatisierung und Digitalisierung zuletzt in Gestalt KI-gestützter Prozesse auftreten, generationsübergreifend Aneignung, ohne dass dieser die Vermittlung einer hierin erfahrenen älteren Generation vorausgeht. Gleichzeitig kann im Zuge dieser Neuerungen die Frage aufkommen, inwiefern das Erlernen einer Fremdsprache oder der klassischen Kulturtechniken überhaupt noch erforderlich ist, wenn zunehmend getippt oder gewischt statt geschrieben wird und sich fast alles über eine Sprachsteuerung, die sogar Übersetzungen ermöglicht, regeln lässt.

Zweitens zeigt sich „Gesellschaft“, sozialwissenschaftlich betrachtet, seit einiger Zeit als fragmentiert in heterogene Milieus und Lebensformen, sodass gemeinsam geteilte Orientierungen und Normen nicht mehr als selbstverständlich angenommen werden können. Der Umstand, dass wiederkehrende Debatten um eine „Leitkultur“ geführt oder Kulturkämpfe in der politischen Öffentlichkeit ausgetragen werden, zeigt, dass das kulturelle Erbe umkämpft wird und fragil geworden ist. Gewiss gab es auch vorher schon, beispielsweise zur Zeit der 68er-Bewegung, widerstreitende Orientierungen und Lager, doch war dies in eine stabilere und berechenbarere politische Gesamtlage eingebettet. Demgegenüber sortieren sich die politischen Kräfteverhältnisse derzeit mit hoher Dynamik und ungewissem Ausgang neu.

Das Aufbrechen von Gewissheiten bzw. vermeintlichen Selbstverständlichkeiten – beispielsweise was die Rolle der USA als wohlwollender „großer Bruder“ oder den Frieden in Europa angeht – ist zudem drittens Teil einer seltsam anmutenden gesellschaftlichen Gleichzeitigkeit. Sie besteht darin, dass sich durch das Erstarken von Autoritarismus, die Klimakatastrophe, die anhaltende wirtschaftliche Rezession sowie die Rückkehr von Eroberungskriegen bis an die Grenzen der EU eine Perspektivlosigkeit ausbreitet, die sich auf ambivalente Weise mit einer selbstgenügsamen Sattheit im Hier und Jetzt verschränkt. Nach Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung scheint es an Utopien und Erzählungen zu mangeln. Wohlfahrtsversprechen und Generationenvertrag sind brüchig geworden. Das auf ein Morgen ausgerichtete Projekt der Erziehung der Moderne ist auch deshalb prekär, weil dieses Morgen vielfach verdrängt wird durch eine eskapistische, konsumorientierte Ausrichtung auf die Gegenwart.

Viertens lässt sich in einigen Milieus eine Veränderung des Erziehungsverhältnisses „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ verzeichnen, bei der autoritäre Erziehungsformen zurückgedrängt werden zugunsten partizipativerer Formen. In Teilen zu Leerformeln verkommene Prinzipien wie Dialogorientierung und Partizipation führen einerseits dazu, dass Erziehung negiert und als überwundene Form der sozialen Praxis zwischen den Generationen missverstanden wird. Andererseits verdecken sie, dass unter der Hand dennoch Erziehung stattfindet, zum Preis, dass diese jedoch nicht als solche thematisiert und reflektiert werden kann. Des Weiteren sind Heranwachsende heute eine quantitative Minderheit, die gleichzeitig auch qualitativ benachteiligt ist, da ihr die politische Teilhabe vorenthalten wird. Weder sind Heranwachsende in demokratischen Prozessen stimmberechtigt, noch finden sich in angemessener Weise kinderpolitische Interessen in der Vergabe sozialstaatlicher Leistungen wieder.

Somit bildet fünftens der Zusammenhang von demografischen, demokratischen und sozialstaatlichen Schieflagen einen weiteren entscheidenden Kontext im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten der sich in Autonomie und Freiheit einübenden bzw. ausprobierenden jüngeren Generation. Zusammengefasst lässt sich Schleiermachers Frage in der gegenwärtigen Situation umdrehen: „Was will die jüngere mit der älteren Generation?“ Die Generationenungerechtigkeit, bei der die junge Generation trotz geringer politischer und sozialer Rechte sowie unsicherer Zukunftsperspektiven einen hohen Anteil an Pflichten schultern muss, spiegelt sich ebenfalls in den gegenwärtigen Herausforderungen und in der Frage nach der Möglichkeit von Erziehung.

Angesichts des Zusammenspiels der hier angeführten, sich wechselseitig verstärkenden Aspekte lässt sich fragen, ob die Erwachsenen dieser Zeit noch ihrer Rolle innerhalb des Erziehungs- und Generationenverhältnisses insofern gerecht werden, als sie Heranwachsenden Orientierung und Identifikationsmöglichkeiten sowie die ebenfalls erforderliche Abgrenzung ermöglichen. Damit ist infrage gestellt, inwiefern sie nach wie vor eine „respektable und zukunftsorientierte Kultur“ (re)präsentieren können oder ob nicht längst Hedonismus, Eskapismus und Fatalismus ihren Platz eingenommen haben. Zugespitzt und selbstkritisch gegenüber der jüngeren Generation ließe sich die von Immanuel Kant aufgeworfene Frage vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose auch umkehren: Wie kultiviere ich den Zwang bei der Freiheit? Oder, vielleicht etwas zeitgemäßer formuliert: Was braucht es, um Erziehung trotz der beschriebenen gegenwärtigen Krisenhaftigkeit und gleichzeitig in einem machtreflexiven Ernstnehmen ihrer paradoxalen Struktur verwirklichen zu können? Diese Frage adressiert die mit Erziehung beauftragte ältere Generation in ihrem Handeln und ihrer Haltung ebenso wie die gesellschaftlichen Strukturen, die ein Antworten im Modus der Erziehung in vielerlei Hinsicht zu wenig ermöglichen und unterstützen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dominik Krinninger, Kritische Anmerkungen zur Vermeidung des Erziehungsbegriffs, in: Wolfgang Meseth/Rita Casale/Anja Tervooren (Hrsg.), Normativität in der Erziehungswissenschaft 2019, S. 247–263.

  2. Vgl. Arnd-Michael Nohl, Erziehung, in: Milena Feldmann et al. (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Pädagogisches Vokabular in Bewegung, Weinheim–Basel 2022, S. 151–159, hier S. 152.

  3. Vgl. Katharina Rutschky (Hrsg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Frankfurt/M.–Berlin–Wien 1977.

  4. Vgl. Krinninger (Anm. 1), S. 257; Michael Winkler, Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung, Stuttgart 2006, S. 37.

  5. Vgl. Karin Truscheit, „Kinder brauchen dringend Grenzen“, 26.6.2025, Externer Link: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/strafmuendigkeit-sollten-kinder-vor-gericht-gestellt-werden-110557161.html.

  6. Vgl. exemplarisch Marlies Johanna Heckner, Erziehe ich mein Kind zum Tyrannen?, 10.8.2025, Externer Link: https://www.zeit.de/familie/2025-08/permissive-erziehung-kinder-eltern-emotionen; Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009.

  7. Vgl. zu Kindbildern exemplarisch Karen Smith, Producing Governable Subjects: Images of Childhood Old and New, in: Childhood 1/2011, S. 24–37.

  8. Im Zuge der Covid-19-Pandemie stagnierte die Anzahl der Inanspruchnahmen zuletzt allerdings auf einem hohen Niveau. Vgl. zu der statistischen Entwicklung insgesamt Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik, Kinder- und Jugendhilfereport 2024. Eine kennzahlenbasierte Analyse mit einem Schwerpunkt zum Fachkräftemangel, Opladen 2024, S. 91f.

  9. Vgl. Johanna Kuroczik, Die gestressten Eltern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.4.2025.

  10. Vgl. Kerstin Ruckdeschel, Verantwortete Elternschaft: „Für die Kinder nur das Beste“, in: Norbert F. Schneider/Sabine Diabaté/Kerstin Ruckdeschel (Hrsg.), Familienleitbilder in Deutschland: Kulturelle Vorstellungen zu Partnerschaft, Elternschaft und Familienleben, Opladen 2015, S. 191–205.

  11. Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, Düsseldorf–München 1957, S. 9.

  12. Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt/M. 201212 (1925), S. 50.

  13. Andreas Kempka/Katharina Künstle-Schenk, Erziehung. Eine empirische Abgrenzung des Begriffs in der Lehrgestalt der Erziehungswissenschaft, in: Anja Schierbaum/Ronnie Oliveras/Jan Frederik Bossek (Hrsg.), Erziehung, quo vadis? Entwicklungen und Kontroversen in der Erziehungsforschung, Weinheim–Basel 2023, S. 17–32, hier S. 25.

  14. Vgl. Michael Wimmer, Erziehung und Dekonstruktion. Pädagogik als eine Wissenschaft des Unmöglichen, in: Schierbaum/Oliveras/Bossek (Anm. 13), S. 79–94, hier S. 82.

  15. Bernfeld (Anm. 12), S. 49.

  16. Vgl. Jürgen Zinnecker, Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im 20. Jahrhundert, in: Dietrich Benner/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext, Weinheim–Basel 2000, S. 36–68.

  17. Peter Vogel, Grundbegriffe der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Opladen–Toronto 2019, S. 15.

  18. Vgl. Immanuel Kant, Über Pädagogik, London 2018 (1803), S. 22–23.

  19. Wolfgang Sünkel, Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Allgemeine Theorie der Erziehung, Weinheim–Basel 20132, S. 46.

  20. Vgl. Alfred Schäfer, Einführung in die Erziehungsphilosophie, Weinheim–Basel 20172, S. 124–127.

  21. Vgl. Wimmer (Anm. 14), S. 89.

  22. Vgl. Michael Winkler, Warum Erziehung ohne Krise eine kritische Angelegenheit wäre. Überlegungen zum Begriff der Erziehung, in: Schierbaum/Oliveras/Bossek (Anm. 13), S. 95–111.

  23. Vgl. Wimmer (Anm. 14), S. 89.

  24. Vgl. Vogel (Anm. 17), S. 69.

  25. Vgl. Rutschky (Anm. 3).

  26. Vgl. Sabine Andresen, Gewalt in der Erziehung als Unrecht thematisieren. Perspektiven aus der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, in: Zeitschrift für Pädagogik 1/2018, S. 6–14, hier S. 6.

  27. Vgl. Michael Winkler, Friedrich Schleiermacher revisited. Gelegentliche Gedanken über Generationenverhältnisse in pädagogischer Hinsicht, in: Jutta Ecarius (Hrsg.), Was will die jüngere mit der älteren Generation? Generationsbeziehungen in der Erziehungswissenschaft, Opladen 1998, S. 115–138, hier S. 133.

  28. Vgl. ebd.

  29. Vgl. Ralf Koerrenz/Michael Winkler, Pädagogik. Eine Einführung in Stichworten, Paderborn 2013, S. 84f.

  30. Jutta Ecarius, Generation – ein Grundbegriff, in: dies. (Anm. 27), S. 7–11, hier S. 7.

  31. Vgl. Aladin El-Mafaalani/Sebastian Kurtenbach/Klaus Peter Strohmeier, Schieflagen in der alternden Gesellschaft, in: dies. (Hrsg.), Kinder. Minderheit ohne Schutz. Aufwachsen in der alternden Gesellschaft, Köln 2025, S. 11–28, hier S. 12–22.

  32. Ecarius (Anm. 27).

  33. Vgl. Jutta Ecarius, Generationsbeziehungen und Generationsverhältnisse. Analyse zur Entwicklung des Generationenbegriffs, in: dies. (Anm. 27), S. 41–66, hier 47f.; Michael Winkler, Klaus Mollenhauer: Über Schwierigkeiten einer Kritischen Pädagogik mit dem Generationenverhältnis, in: Soziale Passagen 1/2025, S. 291–307, hier S. 302.

  34. Ecarius (Anm. 33), 47f.

Lizenz

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ist Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen.

ist promovierte Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Erziehungswissenschaft der RWTH Aachen University.