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Zwischen Mündigkeit und Disziplinierung | Erziehung | bpb.de

Erziehung Editorial Bürger erziehen? Erwachsene als Adressaten von Orientierungszumutungen Erziehung zwischen Krisenhaftigkeit, Notwendigkeit und sozialer Tatsache - Essay Zwischen Mündigkeit und Disziplinierung. Bürgerliche Gesellschaft und die Erziehung der Frau Erziehung in der Krise? Über strukturelle Gewalt, pädagogische Überforderung und die Rückkehr der bürgerlichen Kälte Befähigen und bändigen. Schule, Jugend und die Erziehung zur Demokratie nach 1968 Flexible Muster der Kleinkindbetreuung. Perspektiven der evolutionären Anthropologie Digitale Bildung als Dystopie. Pädagogischer Rückzug im Spannungsfeld von Erziehung und Politik

Zwischen Mündigkeit und Disziplinierung Bürgerliche Gesellschaft und die Erziehung der Frau

Vincent Streichhahn

/ 15 Minuten zu lesen

Auseinandersetzungen um die Erziehung der Frau wurden im 18. und 19. Jahrhundert zu einem politischen Schauplatz, an dem das Verhältnis der Frau zur Gesellschaft verhandelt wurde. Vertreterinnen der Frauenbewegung nutzten Bildung als Hebel der Selbstermächtigung.

Das 18. Jahrhundert gilt als „Jahrhundert der Pädagogik“. Es war geprägt von einem durch die Aufklärung inspirierten Erziehungsdiskurs, der die Formbarkeit des Menschen in den Mittelpunkt rückte. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“, postulierte der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant (1724–1804). Erziehung sollte im Sinne der Aufklärung zur Veredelung des Menschen beitragen. Im Denken vieler Aufklärer bedeutete das für Männer und Frauen nicht dasselbe. Im modernen Erziehungsdiskurs ging es daher nicht zuletzt um die Legitimation von Geschlechterungleichheit.

Eine entscheidende Grundlage dafür lieferte Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) mit seinem Erziehungsroman „Émile oder über die Erziehung“ (1762), der das moderne Nachdenken über Geschlechterverhältnisse und deren pädagogische Vermittlung nachhaltig prägte. Der Genfer Philosoph schrieb den Geschlechtern spezifische Eigenschaften zu: Frauen seien körperlich schwächer, geistig weniger aufnahmefähig und vor allem für praktische Tätigkeiten bestimmt. Ihre natürliche Bestimmung sah Rousseau in der Mutterschaft und häuslichen Fürsorge. Eine höhere Bildung für Mädchen sei daher nicht nur entbehrlich, sondern sogar hinderlich. Mit dieser Naturalisierung der Geschlechterdifferenz begründete Rousseau einen „für Deutschland folgenreichen Kult der natürlichen Frau“.

Das darauf aufbauende Erziehungsmodell wurde bereits zeitgenössisch scharf kritisiert: Die britische Historikerin Catherine Macaulay (1731–1791) stellte in den „Letters on Education“ die intellektuelle Ebenbürtigkeit von Frauen und Männern heraus. Die unzureichende Bildung der Frau sei für die gesamte Gesellschaft schädlich. Die deutsche Pädagogin Amalia Holst (1758–1829) urteilte in ihrer Schrift „Über die Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung“: „Seit kurzem ward so viel über die weibliche Bestimmung geschrieben. Männer wagten es, unserm Geiste die Linie vorzuziehen, über welche im Felde des Wissens er nicht hinüber schreiten dürfe.“ Sie stellte die Idee des dreifachen Berufs der Frau als Mutter, Ehefrau und Hausfrau zwar nicht grundsätzlich infrage, aber bestritt, dass eine höhere Bildung diese Bestimmung behindere, „sondern recht eigentlich dadurch würdigt und vollendet“.

Anhand dieser Gegenüberstellung zeigt sich die zentrale Kontroverse um Mädchenerziehung und Frauenbildung im 18. und 19. Jahrhundert: Wie sollte die Frau durch Erziehung auf ihre „Bestimmung“ bzw. soziale Stellung vorbereitet werden? Nur wenige zweifelten grundsätzlich an diesem gesellschaftlichen Zweck. Diese funktionalistische Auffassung von Erziehung ist eng mit der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher (Geschlechter-)Ordnung verbunden und damit – in den Worten Émile Durkheims (1858–1917) – eine „eminent soziale Angelegenheit“. Das Ziel der Erziehung war für die Frau nicht die Veredelung des Individuums, sondern primär ihre Integration in gesellschaftliche Reproduktionsprozesse.

Im Folgenden werden zunächst grundlegende Überlegungen zu Bildung und Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft erörtert. Darauf folgt die Unterscheidung zentraler Strömungen des Erziehungsdiskurses. Abschließend wird anhand der beschränkten Bildungsmöglichkeiten für Mädchen im 18. und 19. Jahrhundert sowie des Kampfes der Frauenbewegung um Bildungsräume aufgezeigt, welch emanzipatorisches, aber zugleich widersprüchliches Potenzial der Erziehungsdiskurs freisetzte.

Bildung und Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft

Im Zeitalter der Aufklärung wurden die Begriffe „Erziehung“ und „Bildung“ mitunter synonym verwendet. Bildung konnte schon damals als Abgrenzung zu einer von anderen aufgezwungenen Erziehung verstanden werden. Dieser Überlegung entsprechend wird Bildung im Folgenden recht allgemein als Prozess und Ziel individueller Selbstentfaltung verstanden, während Erziehung als ein auf die gesellschaftliche Formung des Einzelnen gerichtetes Mittel betrachtet wird. Darin kommt die Ambivalenz zwischen der funktionalen Integration des Einzelnen in eine bestehende soziale Ordnung und dem emanzipatorischen Streben nach individueller Selbstbestimmung und Mündigkeit zum Ausdruck, die der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt eingeschrieben ist.

Die „Entdeckung der Kindheit“ als eigenständige Lebensphase markiert einen entscheidenden Schritt, durch den ein „bürgerlicher Erziehungsdiskurs über die moralisch-disziplinäre Formbarkeit des kindlichen Subjekts“ hegemonial wurde. Dies war auch der Ausgangspunkt von Immanuel Kants Schrift „Über Pädagogik“. Darin betont er die Notwendigkeit, das Kind zur Gesellschaftsfähigkeit zu erziehen, was eine gezielte Entfremdung von der Natur zugunsten rationaler Selbstbeherrschung impliziert. Das Beispiel des Stillsitzens in der Schule verweist auf diese Transformation des „natürlichen“ in ein gesellschaftsfähiges Subjekt. In der Folge verschränkt sich Erziehung mit den Disziplinartechniken moderner Gesellschaften, wie Norbert Elias (1897–1990) sie in seiner Analyse des „Prozesses der Zivilisation“ beschreibt: Die Kontrolle des Körpers, die Regulierung von Affekten und die Internalisierung gesellschaftlicher Normen bilden demnach die Grundlage der modernen Subjektivität.

Als gesellschaftlich normiertes Handlungsfeld operiert Erziehung stets vor dem Hintergrund funktionaler Imperative, die sich geschlechtsspezifisch unterscheiden. Sie diszipliniert, vermittelt Werte und Rollenverständnisse und trägt so zur Stabilität sozialer Ordnung bei. Gesellschaftliche Machtverhältnisse strukturieren diese Prozesse: So nutzte das aufstrebende Bürgertum Erziehungspraktiken und deren schulische Institutionalisierung zur Reproduktion seiner kulturellen und ökonomischen Privilegien. Über Erziehung werden nicht nur Klassenpositionen, sondern auch Geschlechtervorstellungen vermittelt und abgesichert.

Während Erziehung darauf abzielt, Individuen auf gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen vorzubereiten, verweist Bildung auf die Möglichkeit der Überschreitung solcher Normierungen. Bildung meint – im emphatischen Sinne – den Prozess der Selbstbestimmung und reflexiven Aneignung von Welt und verkörpert dadurch die emanzipatorische Dimension der bürgerlichen Gesellschaft, das Ideal der Mündigkeit. Bildung ist insofern potenziell herrschaftskritisch und diente auch der Frauenbewegung dazu, jene (Geschlechter-)Ordnung infrage zu stellen.

Erziehungsdiskurs

Die vermeintliche weibliche Bestimmung als Hausfrau, Gattin und Mutter – alles Rollen im privaten Bereich – diente vielen Beiträgen im Erziehungsdiskurs als Fixstern. Das hängt eng mit der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Während die Öffentlichkeit als (männlicher) Bereich von Vernunft, Politik und Arbeit galt, wurde Frauen die Verantwortung für die häuslich-moralische Ordnung zugewiesen. Ein Blick auf die zeitgenössischen Strömungen des deutschen Idealismus, des Philanthropismus und der radikalen Aufklärung zeigt, wie vielstimmig die Diskussion über die Rolle der Frau in der Gesellschaft war.

Die Anhänger des deutschen Idealismus vertraten das Konzept der Geschlechterpolarität. In diesem Modell gelten Männer und Frauen als gleichwertig, aber wesensverschieden. Sie bilden die einander bedingenden Pole der Menschheit. Ein Anhänger dieser Idee war Kant, der seine täglichen Königsberger Spaziergänge einige Tage lang aussetzte, um sich voller Begeisterung mit Rousseaus „Émile“ zu beschäftigen. Kant sah die gesellschaftliche Bestimmung der Frau darin, das Haus zu verwalten und für unterhaltsame Gesellschaften zu sorgen. Damit war eine Überhöhung der Frau als reines Wesen verbunden, das Humanität im Privaten vermitteln sollte. Diesem „Ideal“ stand die gesellschaftliche Realität mit fehlenden politischen und ökonomischen Rechten der Frau gegenüber. Innerhalb der patriarchalischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft war das jedoch kein Widerspruch.

Kants Überlegungen zur Mädchenerziehung waren konsequent auf die spätere gesellschaftliche Stellung der Frau ausgerichtet. Diese zielten daher primär auf das Praktische und umfassten die Anleitung zur Haushaltsführung. Dabei kritisierte Kant durchaus die Mädchenerziehung seiner Zeit, die „nur darauf gerichtet sei, deren Verhalten einem äußeren Verhaltenskodex anzupassen und sie zu einer Art wohlerzogener ‚Puppe‘ zu machen.“ Im Gegensatz dazu sah er die Notwendigkeit, Mädchen erzieherisch zu befähigen, durch ihr Handeln zur Versittlichung der Gesellschaft beizutragen. Das führte jedoch nicht dazu, dass er sich für eine Institutionalisierung der Mädchenerziehung aussprach. Diese wollte er den Müttern überlassen, da es für eine professionelle Erziehung an Wissen über die weibliche Natur fehle.

Ähnlich rigide Geschlechtervorstellungen wurden im Philanthropismus vertreten. Zu den einflussreichen Vertretern dieser reformpädagogischen Bewegung zählen Joachim Heinrich Campe (1746–1818) und Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811). Sie nahmen die Ideen Rousseaus auf und passten sie an die Lebensverhältnisse des deutschen Bürgertums an. Das zeigt sich eindrücklich in Campes spätaufklärerischer Schrift „Väterlicher Rath für meine Tochter“, die maßgeblich zur Etablierung des bürgerlichen Familienideals im 19. Jahrhundert beitrug. Das von ihm in Briefform entwickelte Bildungsprogramm ist zwar an seine damals 15-jährige Tochter gerichtet, wendet sich jedoch an alle Töchter und Eltern aus bürgerlichem Stand. Aufbauend auf den Überlegungen Rousseaus entwickelte Campe ein Erziehungsprogramm für das deutsche Bürgertum, das der Bestimmung der Frau Rechnung tragen sollte. Als Mensch sei die Frau zu allem bestimmt, „was der allgemeine Beruf der Menschheit mit sich führt“, als Frau zu allem, „was das Weib dem Manne und der menschlichen und der bürgerlichen Gesellschaft sein soll“. Demzufolge hätten Frauen ihre Kräfte nur so weit auszubilden, wie es für ihre Aufgaben als „beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens“ notwendig sei.

Der Philanthrop Gotthilf Salzmann argumentierte in dieselbe Richtung. Demnach habe der Schöpfer die Frauen dazu bestimmt, „Freundinnen, Ratgeberinnen, Freudengeberinnen dem Manne, kluge Wirtinnen ihrem Hause, Erzieherinnen und Muster ihren Kindern zu sein.“ Anders als Campe sah er die Notwendigkeit spezieller Erziehungsanstalten, die damals noch äußerst selten waren, und die dazu dienen sollten, „das Weib zu veredeln“. Deshalb entschloss sich Salzmann, die radikal-aufklärerische Schrift „A Vindication of the Rights of Women“ (1792) von Mary Wollstonecraft (1759–1797) bereits ein Jahr nach der englischen Erstveröffentlichung auf Deutsch herauszugeben. Darin forderte die Autorin in scharfer Auseinandersetzung mit Rousseaus „Émile“ die gleiche Erziehung für beide Geschlechter, da nur diese der Menschheit zu Freiheit und Glück verhelfe.

Nicht weniger radikal war die 1792 anonym publizierte Streitschrift „Die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ von Theodor Gottlieb Hippel (1741–1796), die in der Tradition der radikalen Aufklärung steht. In diesem Werk forderte der von der Französischen Revolution enttäuschte preußische Beamte die elementaren Menschen- und Bürgerrechte für Frauen ein. Die von Hippel angestrebte „bürgerliche Verbesserung der Weiber“ basierte auf einer bürgerlichen Erziehung und Bildung, die für ihn ein Mittel war, um die Frauen aus dem „häuslichen Zwinger und bürgerlichen Verließe“ zu befreien. Er betonte dabei, dass dies für beide „Hemisphären des menschlichen Geschlechts heilsam seyn werde“. Angesichts des Widerspruchs zwischen den Idealen der Aufklärung und der faktischen Ausgrenzung von Frauen forderte Olympe de Gouges (1748–1793) in der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ 1791 die vollständige rechtliche, politische und soziale Gleichstellung der Geschlechter.

In diesem Denken galten Bildung und Erziehung als Schlüssel zur weiblichen Emanzipation. Gemeinsam mit Wollstonecraft war Hippel der Ansicht, dass die Geschlechterunterschiede und die damit verbundenen Rollenzuschreibungen vor allem das Ergebnis von Erziehung sind. In der Konsequenz setzte er sich für den gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen bis zur Pubertät ein. Die aus Deutschland stammende jüdische Schriftstellerin Ester Gad (1767–1836) ging noch einen Schritt weiter: Gegen Campe gerichtet schrieb sie: „die Seele hat kein Geschlecht“. Sie plädierte für ein allgemeines Recht auf Bildung, das nicht vom Geschlecht abhängig ist. Diese radikal-aufklärerischen Kritiken, bei denen es sich um Einzelpositionen handelte, führten Ende des 18. Jahrhunderts jedoch noch nicht zu einer praktischen Umsetzung.

Beschränkte Mädchenbildung

Mit der Einführung der allgemeinen Schul- und Unterrichtspflicht in Preußen 1717 entstanden die ersten Volksschulen bzw. preußischen Elementarschulen, die allen Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren offenstanden. Hier wurde jedoch lediglich eine elementare Bildung in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen unter teils widrigen Umständen vermittelt. Die Einschulungsquote lag am Ende des Jahrhunderts in den meisten deutschen Ländern deutlich unter 50 Prozent. Weder gab es eine flächendeckende Unterrichtsversorgung, noch konnten alle Eltern das Schulgeld aufbringen; oft waren sie auch schlicht auf die hauswirtschaftliche Mitarbeit ihrer Kinder angewiesen. Abgesehen davon war es für die oberen sozialen Schichten unvorstellbar, ihre Kinder gemeinsam mit Kindern aus den unteren Klassen zur Schule zu schicken. Der Adel und das Bürgertum hatten hingegen verschiedene Optionen für eine standesgemäße Bildung ihrer Söhne, beispielsweise Gelehrtenschulen, Gymnasien oder Kadettenanstalten. Für bürgerliche Töchter gab es lange Zeit keine entsprechenden Bildungseinrichtungen. Der Unterricht erfolgte, wenn der Geldbeutel es zuließ, zumeist privat durch Gouvernanten oder Hauslehrer.

Die Entwicklung höherer Mädchenschulen wurde im 19. Jahrhundert weitgehend dem privaten Engagement überlassen. So entstanden um 1800 zahlreiche private Schulen, die vom Bürgertum selbst ins Leben gerufen wurden. Damit reagierte es auf den Mangel an adäquater Bildung für Mädchen. In fast allen größeren deutschen Städten gab es sogenannte höhere Töchterschulen, an denen bürgerliche Mädchen bis zu einem Alter von etwa 15 Jahren vorwiegend in Sprachen und Religion unterrichtet wurden. „Zu lernen gab’s da nicht viel“, berichtete die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831–1919) rückblickend von ihrer Schulzeit. „Gemäß der Anschauung, die auch heute noch fortwirkt, dass der Zweck der weiblichen Erziehung nicht die Entwicklung der Intelligenz, sondern die des Gemüts sei, wurde uns Wissenswertes nur in den minimalsten Dosen verabreicht.“

Um die Jahrhundertwende nahmen Pädagoginnen die Gestaltung der höheren Mädchenbildung selbst in die Hand. Caroline Rudolphi (1753–1811) und Betty Gleim (1781–1827) beteiligten sich mit längeren Schriften am Erziehungsdiskurs und gründeten eigene Schulen, in denen sie ihre reformpädagogischen Bildungsideen praktisch umsetzten. Diese Einrichtungen richteten sich an bürgerliche Töchter, nicht zuletzt, weil Arbeiterfamilien das zu zahlende Schulgeld kaum aufbringen konnten. Gleichzeitig gab es eine Reihe von regionalen Industrieschulen für Mädchen aus verschiedenen Ständen. Der Fokus lag dort auf praktischen Fertigkeiten wie Nähen und Stricken, um die Schülerinnen auf eine eigenständige Erwerbstätigkeit vorzubereiten. Durch den Verkauf der dort hergestellten Produkte finanzierten Arbeiterkinder ihr Schulgeld. Um 1800 existierten somit vielfältige, überwiegend vom Bürgertum getragene Schulprojekte, die dem eklatanten Mangel an intellektueller und beruflicher Bildung für Mädchen entgegenwirken sollten. An den grundlegenden Defiziten änderte das jedoch nur wenig.

Erkämpfte Bildungsräume

In der sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts konstituierenden Frauenbewegung galt Bildung von Anfang an als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe und ökonomischen Selbstständigkeit von Frauen – und damit als Voraussetzung für ihre Emanzipation. Zwar stellte Louise Otto-Peters (1819–1895), eine der Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung, die bürgerlichen Geschlechtervorstellungen nicht grundlegend infrage, aber in ihrer „Frauen-Zeitung“ forderte sie: „Das Recht, das Rein-Menschliche in uns in freier Entwicklung aller unserer Kräfte auszubilden, und das Recht der Mündigkeit und Selbstständigkeit im Staat.“ Über Bildung sollten die Handlungsräume von Frauen erweitert werden.

Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Reformpädagogik von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und Friedrich Fröbel (1782–1852) avancierte Bildung zu einem zentralen Politikfeld der Frauenbewegung. Dabei beriefen sich deren Aktivistinnen auf das Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“. Demnach tragen Frauen aufgrund ihrer „natürlichen“ Fürsorglichkeit eine besondere Verantwortung für das Wohl der Gesellschaft. Der Bezug auf eine weibliche Natur diente den Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung als Begründung, um neue Erwerbsfelder zu erschließen. Diese Emanzipationsstrategie erwies sich im sozialen und pädagogischen Bereich langfristig als erfolgreich, zementierte allerdings zugleich traditionelle Geschlechterrollen.

Im Zentrum der bildungspolitischen Forderungen der Frauenbewegung standen spätestens seit den 1880er Jahren der Zugang zum Abitur sowie der Lehrerinnenberuf, der für bürgerliche Frauen eine der wenigen standesgemäßen Erwerbsmöglichkeiten darstellte. Nicht zufällig rekrutierten sich einige der Führungsfiguren der Frauenbewegung aus diesem Berufsfeld. Eine wissenschaftlich fundierte Lehrerinnenausbildung existierte zu dieser Zeit jedoch nicht. Nach dem Besuch einer höheren Mädchenschule konnten junge Frauen ein zwei- bis dreijähriges Lehrerinnenseminar absolvieren, das sie lediglich zum Unterricht in Volksschulen oder unteren Klassen der höheren Mädchenschulen berechtigte. Eine solche Anstalt war das Steybersche Institut mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar in Leipzig, dessen Leitung nach dem Tod Ottilie von Steybers (1804–1870) von Helene Lange (1848–1930) übernommen wurde. Lange war Lehrerin und eine prägende Figur der bürgerlichen Frauenbewegung.

Gemeinsam mit fünf Mitstreiterinnen aus dem liberalen Bürgertum richtete Lange 1887 eine Petition an den preußischen Unterrichtsminister und das preußische Abgeordnetenhaus, in der sie eine wissenschaftliche Ausbildung für Lehrerinnen sowie einen größeren Einfluss derselben im Schulwesen forderten. In der später als „Gelbe Broschüre“ bekannt gewordenen Begleitschrift argumentierte Lange getreu der „geistigen Mütterlichkeit“. Demnach könnten Frauen „gar nicht durch Männer allein gebildet werden, es bedarf dazu aus vielen Gründen durchaus des erziehenden Fraueneinflusses“. Diesen strategischen Rekurs auf die Geschlechterdifferenz nutzte Lange, um Frauen aus dem Bürgertum ein standesgemäßes Berufsfeld zu eröffnen.

In der Praxis realisierte Lange ihre Vorstellungen gemeinsam mit den Frauenrechtlerinnen Minna Cauer (1841–1922) und Franziska Tiburtius (1843–1927) durch die Gründung von Realkursen für Frauen, die am 10. Oktober 1889 in Berlin eröffnet wurden. Diese sollten Absolventinnen höherer Mädchenschulen eine allgemeine Bildungsgrundlage für praktische Berufe vermitteln. Als sich allmählich eine Öffnung der Universitäten abzeichnete, wandelte Lange die Realkurse 1893 in Gymnasialkurse um. Diese ermöglichten es Töchtern aus bürgerlichen Familien, als Externe die Abiturprüfungen abzulegen. In vielen deutschen Städten entstanden ähnliche Einrichtungen.

Erst gegen Ende des Jahrhunderts begann eine ernstzunehmende staatliche Institutionalisierung der Mädchenbildung. Die Diskrepanz zwischen staatlichen und privaten Bildungsinitiativen blieb jedoch erheblich: So gab es um 1900 in Preußen 656 private, aber lediglich 213 öffentliche höhere Mädchenschulen. Der Zugang zum Abitur und damit zum Universitätsstudium wurde Frauen in den deutschen Ländern erst ab 1900 schrittweise gestattet, zunächst in Baden. Zuvor war dies nur über Sondergenehmigungen möglich. Die preußische Mädchenschulreform von 1908 markierte einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung und war das Ergebnis langjähriger Bemühungen der Frauenbewegung sowie liberaler Reformkräfte. Eine grundlegende Gleichstellung war damit jedoch nicht verbunden.

Schluss

Das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Integration und Emanzipation des Individuums prägte auch den modernen Geschlechterdiskurs. Die Auseinandersetzung um die Erziehung der Frau wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu einem zentralen politischen Schauplatz, an dem das Verhältnis der Frau zur Gesellschaft verhandelt wurde. Dabei eröffnete der Erziehungsdiskurs Raum für Gegenentwürfe. Pädagoginnen und Vertreterinnen der Frauenbewegung nutzten Bildung als Hebel weiblicher Selbstermächtigung. Mit dem strategischen Einsatz der „geistigen Mütterlichkeit“ forderten sie mehr Gleichberechtigung, indem sie an tradierte Geschlechterrollen anknüpften. Dieser Widerspruch ermöglichte Fortschritte innerhalb der bestehenden Ordnung, verfestigte aber zugleich klassische Rollenbilder.

Diese historische Ambivalenz wirkt bis heute fort. Das Schul- und Erziehungswesen ist nach wie vor eine zentrale Institution zur Reproduktion sozialer Ungleichheit. So kann uns der historische Kampf um höhere Mädchenbildung daran erinnern, dass Fragen von Teilhabe, Gleichheit und Gerechtigkeit in der Bildungspolitik fortlaufend neu verhandelt werden müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Immanuel Kant, Über Pädagogik, hrsg. von Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803, S. 7.

  2. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, Stuttgart 2009 (1762).

  3. Sigrid Lange, Nachwort, in: Ob die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatten um 1800, Leipzig 1992, S. 411–431, hier S. 415.

  4. Vgl. Catherine Macaulay, Letters on Education, Dublin 1790.

  5. Amalia Holst, Über die Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung, Berlin 1802, S. 1f.

  6. Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903, Neuwied–Darmstadt 1973, S. 37.

  7. Vgl. Rudolf Vierhaus, Bildung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1: A–D, Stuttgart 1972, S. 508–551, hier S. 511.

  8. Vgl. David Kergel, Erziehung versus Bildung. Pädagogik im Kontext Bürgerlicher Gesellschaft, in: Sabrina Bacher (Hrsg.), Bildungsethik. Philosophie und Bildungswissenschaften im Dialog, Bad Heilbrunn 2025, S. 99–109, hier S. 101.

  9. Heinz Hengst, Kindheit, in: Herbert Willems (Hrsg.), Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge, Bd. 2, Wiesbaden 2008, S. 551–582, hier S. 551.

  10. Vgl. Kant (Anm. 1), S. 3f.

  11. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt/M. 1976 (1939).

  12. Vgl. Gundula Ludwig, Geschlecht, Macht, Staat. Feministische staatstheoretische Interventionen, Opladen 2015.

  13. Vgl. Sabine Doff, Weiblichkeit und Bildung, in: Katharina Rennhak/Virginia Richter (Hrsg.), Zwischen Revolution und Emanzipation. Geschlechterordnungen in Europa um 1800, Köln–Weimar–Wien 2004, S. 67–81, hier S. 74.

  14. Fulvia Leone, Immanuel Kant über Erziehung. Begründung und Aspekte der Pädagogik in Kants philosophischen Schriften, Tübingen 2018, S. 136.

  15. Vgl. ebd., S. 134–138.

  16. Vgl. Juliane Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2013, S. 139f.

  17. Joachim Heinrich Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, Frankfurt/M.–Leipzig 1790, S. 5 und S. 14f.

  18. Christian Gotthilf Salzmann, Vorrede, in: Mary Wollstonecraft, Rettung der Rechte des Weibes mit Bemerkungen über politische und moralische Gegenstände, Bd. 1, Schnepfenthal 1793, S. XIX, S. XI.

  19. Vgl. Mary Wollstonecraft, Rettung der Rechte des Weibes mit Bemerkungen über politische und moralische Gegenstände, 2 Bde., Schnepfenthal 1793/94.

  20. Vgl. Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber und Nachlaß über weibliche Bildung, Berlin 1792.

  21. Ebd., S. 19f.

  22. Vgl. Olympe de Gouges, Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin [1791], in: Sigrid Lange (Hrsg.), Ob die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatten um 1800, Leipzig 1992, S. 112–124.

  23. Esther Gad, Einige Aeußerungen über Hrn. Kampe’ns Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend [1798], in: Elke Kleinau/Christine Mayer (Hrsg.), Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts. Eine kommentierte Quellensammlung zur Bildungs- und Berufsbildungsgeschichte von Mädchen und Frauen, Bd. 1, Weinheim 1996, S. 53–63, hier S. 61.

  24. Vgl. Benjamin Edelstein/Hermann Veith, Schulgeschichte bis 1945: Von Preußen bis zum Dritten Reich, Externer Link: https://www.bpb.de/229629.

  25. Vgl. Martina Käthner/Elke Kleinau, Höhere Töchterschulen um 1800, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1, Frankfurt/M. 1996, S. 393–408.

  26. Hedwig Dohm, Selbsterzählte Jugenderinnerungen, Berlin 1912, S. 48.

  27. Vgl. Käthner/Kleinau (Anm. 25); Betty Gleim, Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts. Ein Buch für Eltern und Erzieher, Leipzig 1810; Caroline Rudolphi, Gemälde weiblicher Erziehung, Lage 1998 (1807).

  28. Vgl. Christine Mayer, Die Anfänge einer institutionalisierten Mädchenerziehung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Kleinau/Opitz (Anm. 25), S. 373–392.

  29. Louise Otto-Peters, Programm, in: Frauen-Zeitung, Nr 1. vom 21.4.1849, S. 1.

  30. Vgl. Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Opladen 1986.

  31. Vgl. Angelika Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, Darmstadt 2020², S. 39ff.

  32. Helene Lange, Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung. Begleitschrift zu einer Petition an das preußische Unterrichtsministerium und das preußische Abgeordnetenhaus, Berlin 1887, S. 25.

  33. Vgl. Schaser (Anm. 31), S. 44f.

  34. Vgl. Hans-Jürgen Apel, Sonderwege der Mädchen zum Abitur im Deutschen Kaiserreich. Bildung zur Studierfähigkeit und Durchsetzung der Abiturberechtigung am Ausgang des Kaiserreichs (1908), in: Zeitschrift für Pädagogik 2/1988, S. 171–189.

  35. Vgl. Schaser (Anm. 31), S. 39.

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ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitet als pädagogischer Leiter an der Kreisvolkshochschule Saalekreis in Merseburg.