Erziehung gehört zu den Grundtatsachen des menschlichen Lebens. Sie vollzieht sich unausweichlich in jeder Generationenbeziehung, überall dort, wo Erwachsene und Kinder in Interaktion treten. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange betont, dass Erziehung kein Nebenschauplatz des Lebens ist, sondern in Pflege, Kommunikation und Alltagshandeln präsent ist. Kinder sind aufgrund ihrer Angewiesenheit immer schon in erzieherische Bezüge eingebunden.
Vor diesem Hintergrund beschreibt der Pädagoge Michael Winkler Erziehung als Praxis, in der ältere Generationen Jüngeren Räume eröffnen, um als freie Subjekte zu handeln, wobei gleichzeitig gesellschaftliche Entwicklungsprozesse im Blick behalten werden. Dieses Verständnis verweist auf den normativen Kern: Erziehung ist nicht nur ein faktisches Geschehen, sondern verfolgt auch ein Leitziel, das in Spannung zu den sozialen, institutionellen und kulturellen Bedingungen steht. Sie vollzieht sich sowohl explizit als auch funktional als doppelte Bewegung von Individualisierung und Sozialisation in kulturellen und sozialen Kontexten – nicht selten auch gegen den Eigensinn der Heranwachsenden.
Dieser Punkt verweist auf eine grundlegende Einsicht, die bereits in Siegfried Bernfelds Klassiker „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ 1929 beschrieben wurde: Erziehung ist nie grenzenlos verfügbar, sondern unterliegt sozialen, ökonomischen und institutionellen Bedingungen.
Der Erziehungswissenschaftler Arnd-Michael Nohl beschreibt Erziehung als Orientierungszumutung: Kinder und Jugendliche sind aufgefordert, sich mit Haltungen, Normen und Praktiken auseinanderzusetzen, die (noch) nicht die ihren sind – und erhalten zugleich die Möglichkeit, diese anzunehmen, zu transformieren oder zurückzuweisen.
Dieses Spannungsverhältnis von Macht und Freiheit wurde historisch immer wieder reflektiert. Immanuel Kants berühmte Frage „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ markiert bis heute ein grundlegendes Dilemma.
Gerade diese Grundlagen sind heute bedroht. Strukturelle Defizite, Personalmangel und fehlende Reflexionsräume haben zur Folge, dass Erziehung ihren relationalen, orientierenden und schützenden Charakter zunehmend verliert.
Verletzendes Verhalten als Strukturphänomen
Die nachfolgenden Auswertungen basieren auf einer bundesweiten Online-Erhebung, die im Herbst 2024 unter Beschäftigten im Bereich der Sozialen Arbeit erhoben wurde. Ziel war es, verletzendes Verhalten in verschiedenen Handlungsfeldern zu erfassen und die entsprechenden strukturellen Bedingungen sichtbar zu machen. Der Fragebogen wurde über Multiplikator:innen in Fachverbänden, Gewerkschaften und Hochschulen verbreitet und richtete sich an Fachkräfte in (sozial-)pädagogischen, betreuenden und begleitenden Kontexten. Insgesamt nahmen über 6300 Personen teil. Für die Analyse wurden fünf Arbeitsfelder ausgewählt, in denen (sozial-)pädagogische Arbeit im Rahmen einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe geleistet wird: Kindertagesstätten, stationäre Jugendhilfe, offene Kinder- und Jugendarbeit, Soziale Arbeit im Kontext Schule sowie Soziale Arbeit bei Behinderung.
Die Ergebnisse zeigen: Gewalt und verletzendes Verhalten sind keine Randphänomene, sondern gehören im professionellen Feld zum Alltag. Dabei geht es nicht nur um Übergriffe zwischen Adressat:innen, sondern auch um Gewalt gegenüber Fachkräften sowie um Grenzverletzungen, die von den Fachkräften selbst ausgehen. In allen Arbeitsfeldern zeigt sich eine enge Verschränkung zwischen personaler Überforderung und struktureller Dysfunktion.
Auffällig ist: Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen wird häufig als verletzend empfunden – selbst dann, wenn es entwicklungspsychologisch erklärbar ist oder Ausdruck von Hilf- und Orientierungslosigkeit, also sozialpädagogisch einzuordnen wäre. Beschäftigte berichten etwa von Beleidigungen, Herabsetzungen oder körperlichen Übergriffen, für deren Bearbeitung sie keine Zeit finden oder für die ihnen die professionelle Begleitung oder die passende Qualifikation fehlt.
In Kindertagesstätten berichten mehr als 80 Prozent der Befragten von psychischer Gewalt unter Kindern. Gleichzeitig geben die befragten Fachkräfte häufig an, selbst psychisch verletzt worden zu sein – etwa durch Kinder oder Eltern (74 Prozent) oder durch Kolleg:innen sowie Leitungspersonen (62 Prozent). Mehr als 39 Prozent wurden bereits von Adressat:innen und 15 Prozent von Kolleg:innen körperlich angegriffen.
Auch in der stationären Jugendhilfe ist das Ausmaß erlebter Gewalt hoch: 94 Prozent der Befragten berichten von psychischer Gewalt unter Jugendlichen, über 60 Prozent waren selbst Opfer physischer Übergriffe. Auffällig ist zudem die Häufung sexualisierter Gewalt – sowohl unter Jugendlichen als auch gegenüber Fachkräften.
In der offenen Kinder- und Jugendarbeit klagen viele Beschäftigte über einen brüchigen Arbeitsalltag: einem von ständigen Unterbrechungen, unklaren Zuständigkeiten und strukturellen Instabilitäten geprägten Setting, in dem verlässliche pädagogische Beziehungen und gemeinsam getragene Orientierungen nur schwer herzustellen sind.
Ein differenziertes Bild zeigt sich im Kontext Schule: In den Bereichen Schulsozialarbeit, Schulbegleitung und Ganztagsbetreuung berichtet jeweils eine Mehrheit von psychischer Gewalt unter Schüler:innen. Mehr als jede:r zweite Beschäftigte wurde selbst Opfer psychischer Gewalt. Auch hier berichten die Beschäftigten, dass ihnen sowohl Zeit als auch fachliche Begleitung für eine reflexive Auseinandersetzung mit den erlebten Situationen fehlen. Während Schulsozialarbeiter:innen vergleichsweise gut angebunden sind, fehlen den meist fachlich nicht vorgebildeten Schulbegleiter:innen häufig kollegiale Unterstützung, Fortbildung und Supervision – obwohl sie in hochkomplexe erzieherische Prozesse eingebunden sind.
In der Sozialen Arbeit bei Behinderung wird ein besonders hohes Maß an körperlicher Gewalt verzeichnet: Zwei Drittel der befragten Beschäftigten geben an, regelmäßig mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert zu sein, die zu Verletzungen führen können. Psychische Gewalt, beispielsweise in Form von abwertender Kommunikation oder fehlendem Respekt, wird sowohl unter Kolleg:innen als auch durch Leitungskräfte thematisiert.
Über alle Arbeitsfelder hinweg zeigt sich ein konsistentes Muster: Verletzendes Verhalten tritt dort gehäuft auf, wo Schutzkonzepte nicht greifen, Zuständigkeiten unklar sind und pädagogische Reflexion nicht möglich ist. Die strukturellen Bedingungen – Zeitdruck, Personalmangel, mangelnde Supervision und fehlende Qualifikation – schaffen ein Milieu, in dem institutionelle Erziehung von ihrem relationalen, orientierenden und dialogischen Anspruch abgekoppelt wird. Statt ein kooperatives Geschehen zwischen Subjekten zu sein, wird Erziehung zur verwaltenden Reaktion auf Störungen – zum administrierten Aushalten statt zum reflexiv gestalteten Aushandeln.
Verletzendes Verhalten als Ausdruck bürgerlicher Kälte
Gewalt und verletzendes Verhalten in pädagogischen Institutionen sind also keine Ausnahmeerscheinungen, sondern Ausdruck eines strukturellen Ungleichgewichts zwischen Anspruch und Praxis. Sie treten in allen untersuchten Arbeitsfeldern auf – mit unterschiedlichen Intensitäten, aber vergleichbaren Mechanismen. Entscheidend ist nicht nur die Häufung der Vorfälle, sondern die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird: Gewalt erscheint nicht als Bruch pädagogischer Ordnung, sondern als erwartbarer Bestandteil eines Alltags, in dem kaum Zeit für kritische Reflexion bleibt.
In seiner Rekonstruktion des Begriffs der „bürgerlichen Kälte“ hat Andreas Gruschka gezeigt, dass es sich dabei nicht um individuelle Gefühlskälte handelt, sondern um eine habituell gelernte und institutionell gestützte Indifferenz gegenüber den Widersprüchen pädagogischer Praxis.
Laut Gruschka eignen sich Beschäftigte in solchen Situationen bestimmte Reaktionsweisen an: von der fraglosen Übernahme widersprüchlicher Praxis über deren Verdrängung bis hin zur reflektierten Hinnahme oder zum Protest. All diesen Modi ist gemeinsam, dass sie dabei helfen, Widerspruchserfahrungen zu ertragen, ohne das System grundsätzlich infrage zu stellen. So entsteht ein professioneller Habitus, der dabei hilft, den Alltag zu bewältigen; strukturelle Probleme werden jedoch individualisiert. Verantwortung für Missstände wird personalisiert und Überforderung moralisiert – Fachkräfte erleben sich als unzulänglich, obwohl sie strukturell alleingelassen werden.
Die statistischen Daten zu den Arbeitsbedingungen und zu verletzendem Verhalten zeigen zwei spezifische Erscheinungsformen dieser semantischen Entleerung, die an Gruschkas Konzept anschließen, aber darüber hinausgehen: Camouflage und Zynismus.
Camouflage: Einrichtungen präsentieren Konzepte, etwa Schutzkonzepte, Partizipationsleitlinien oder Ethikkodizes, ohne die Bedingungen für ihre Umsetzung zu schaffen. In einer Gruppendiskussion beschreibt eine Leitungskraft, dass das Schutzkonzept „in der Schublade liegt“, da es „im Alltag sowieso nicht umsetzbar“ sei. Auf Webseiten und in Leitbildern wird Partizipation hervorgehoben, im Alltag bleibt dafür jedoch weder Zeit noch Struktur. Gerade diese Diskrepanz zwischen Programmatik und Praxis stabilisiert die Kälte, denn sie erzeugt die Illusion pädagogischer Substanz, wo faktisch nur Rhetorik bleibt.
Zynismus: Wo die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit offenkundig wird, reagieren die Beschäftigten mit ironischer Brechung. So spricht eine Mitarbeiterin einer Wohngruppe in einer Gruppendiskussion von einer „demokratischen Einrichtung mit Türcode und Ausgangsverbot“. Begriffe wie „Kindeswohl“ oder „Teilhabe“ werden zwar weiterhin verwendet, jedoch nur noch als leere Chiffren und nicht mehr als pädagogische Orientierungen.
Diese Formen sind nicht nur individuelle Abwehrstrategien, sondern Ausdruck eines institutionellen Habitus. Sie zeigen, wie sich bürgerliche Kälte als stillschweigende Norm reproduziert: durch Sprache, die ihren Gehalt verliert, durch Routinen, die Widerspruchserfahrungen neutralisieren, und durch eine Kultur, die strukturelle Missstände in individuelles Scheitern übersetzt. Dadurch wird Erziehung – verstanden als dialogische, relationale und auf Eigensinn und Lebenswelt bezogene Praxis – entkernt. Was bleibt, ist eine Verwaltung des Sozialen, die verletzendes Verhalten nicht nur hinnimmt, sondern strukturell hervorbringt.
Krise der Erziehung als politische Herausforderung
Erziehung ist ein intentionaler, normativ gerahmter und somit konfliktträchtiger Prozess. Einerseits soll sie Freiheit ermöglichen, andererseits steht sie unter institutionellen Spannungen. In ihrer doppelten Bewegung zwischen Orientierung und Subjektivierung, Unterstützung und Disziplinierung wird sie zu einem machtgesättigten Geschehen, das nur unter verlässlichen Rahmenbedingungen – Zeit, Beziehung, Reflexion und Verantwortung – gelingen kann. Dabei bewegt sich Erziehung stets im Spannungsfeld von individuellem Eigensinn und gesellschaftlichen Erwartungen. Sie muss die subjektive Entwicklung ernst nehmen und zugleich solidarische Bezüge eröffnen, die das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft ermöglichen.
Genau diese Voraussetzungen entfallen im institutionellen Kontext von Erziehung zunehmend. In Kindertagesstätten, in der stationären Jugendhilfe oder in der Sozialen Arbeit bei Behinderung verformt sich Erziehung zu verwalteter Routine: Sie ist fragmentiert, von Kontrolle, Aufsicht und Reaktivität geprägt. Zurück bleibt eine Zersplitterung der Institution – für Kinder und Jugendliche ebenso wie für die Beschäftigten. Sie geraten in einen Zustand, den Gruschka als Kälte beschreibt: eine habitualisierte, moralisch codierte Indifferenz gegenüber Eigensinn und Lebenswelt der ihnen Anvertrauten. Damit ist keine Böswilligkeit gemeint, sondern eine Überlebensstrategie im Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Unter solchen Bedingungen verschiebt sich die Zielrichtung von Erziehung: An die Stelle von Autonomie, Teilhabe und Anerkennung treten Funktionieren, Anpassung und administrative Bearbeitung. Der Begriff bleibt zwar bestehen, bezeichnet jedoch keine reflektierte Praxis mehr, sondern das Ergebnis von Standardisierung und institutioneller Normierung – rhetorisch überdeckt durch Konzepte, Leitbilder und Ethikkodizes, deren Umsetzung systematisch verhindert wird.
Die pädagogischen Arbeitsfelder reproduzieren damit strukturell verletzendes Verhalten – nicht, weil die Beschäftigten versagen, sondern weil Erziehung unter Bedingungen stattfindet, die das Erreichen ihrer erklärten Ziele unmöglich machen. Doch was heißt hier „Erreichen“? Wenn sich die normativen Bezugspunkte verschieben – von Beziehung zu Steuerung, von Deutung zu Kontrolle und von Orientierung zu Resultaten – dann gerät nicht nur das Wie, sondern auch das Wozu von Erziehung aus dem Blick. Genau darin liegt die Brisanz: Die Krise der Erziehung ist nicht nur eine (sozial-)pädagogische, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung – eine Krise des Sozialen, des Öffentlichen und der demokratischen Verantwortung.
In einer Gesellschaft, die zunehmend auf Effizienz, Funktionalität und administrative Steuerung ausgerichtet ist, droht Erziehung auf ihre technische Seite reduziert zu werden – als Maßnahme, nicht als dialogisches Geschehen. Wenn Erziehung jedoch einen Beitrag zu einer demokratischen Gesellschaft leisten soll, ist eine Repolitisierung notwendig – nicht in Form weiterer Steuerungsvorgaben, sondern als Verständigungsprozess darüber, was Erziehung in einer Demokratie leisten soll. Nur wenn die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass pädagogisches Handeln wieder an normative Ziele geknüpft werden kann, trägt Erziehung zur Ermöglichung von Subjektwerdung, Teilhabe, Verantwortung und Solidarität bei. Das bedeutet: Es braucht Zeit für bewusste Erziehung und Beziehungsbildung sowie für eine kooperative Erziehungsgemeinschaft mit den Eltern. Erziehung sollte sich an den konkreten Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen orientieren und nicht an abstrakten Modellen oder standardisierten Abläufen. Es bedarf verbindlicher Schutzkonzepte, klarer Rollenverteilung und verlässlicher, professioneller Rahmenbedingungen wie Supervision und Fortbildung. Darüber hinaus sind institutionalisierte Reflexionsräume wichtig, in denen Anspruch und Alltag reflektiert werden – nicht als individuelle Schwäche, sondern als notwendige professionelle Anforderung.
Die Repolitisierung erfordert nicht nur strukturelle Investitionen, sondern auch eine gesellschaftliche Verständigung: Was soll Erziehung heute leisten und welche Bedingungen sind für ihr Gelingen unverzichtbar? Eine demokratische Gesellschaft, die ihre Zukunftsfähigkeit sichern will, muss diese Frage öffentlich diskutieren und sich entscheiden, ob sie Erziehung weiterhin funktionalisiert oder endlich ermöglicht.