Themen Mediathek Shop Lernen Veranstaltungen kurz&knapp Die bpb Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen Mehr Artikel im

Erziehung in der Krise? | Erziehung | bpb.de

Erziehung Editorial Bürger erziehen? Erwachsene als Adressaten von Orientierungszumutungen Erziehung zwischen Krisenhaftigkeit, Notwendigkeit und sozialer Tatsache - Essay Zwischen Mündigkeit und Disziplinierung. Bürgerliche Gesellschaft und die Erziehung der Frau Erziehung in der Krise? Über strukturelle Gewalt, pädagogische Überforderung und die Rückkehr der bürgerlichen Kälte Befähigen und bändigen. Schule, Jugend und die Erziehung zur Demokratie nach 1968 Flexible Muster der Kleinkindbetreuung. Perspektiven der evolutionären Anthropologie Digitale Bildung als Dystopie. Pädagogischer Rückzug im Spannungsfeld von Erziehung und Politik

Erziehung in der Krise? Über strukturelle Gewalt, pädagogische Überforderung und die Rückkehr der bürgerlichen Kälte

Nikolaus Meyer Elke Alsago

/ 14 Minuten zu lesen

Unter den gegenwärtigen strukturellen Defiziten der Sozialen Arbeit droht Erziehung zur Routine zu verkommen. Gewalt und verletzendes Verhalten sind Kennzeichen dieser Krise. Notwendig ist eine Repolitisierung, die Freiheit und demokratische Verantwortung sichert.

Erziehung gehört zu den Grundtatsachen des menschlichen Lebens. Sie vollzieht sich unausweichlich in jeder Generationenbeziehung, überall dort, wo Erwachsene und Kinder in Interaktion treten. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange betont, dass Erziehung kein Nebenschauplatz des Lebens ist, sondern in Pflege, Kommunikation und Alltagshandeln präsent ist. Kinder sind aufgrund ihrer Angewiesenheit immer schon in erzieherische Bezüge eingebunden. Man kann daher nicht nicht erziehen. Jede Form der Einflussnahme – sei sie fürsorglich, partizipativ, autoritär oder gewaltförmig – ist Erziehung mit unterschiedlichen Zielsetzungen, Machtformen und Konsequenzen. Auch Praktiken der „schwarzen Pädagogik“ sind Erziehung, allerdings mit anderen Zielen und Folgen. Erziehung ist somit nie neutral, sondern stets normativ gerahmt und wird durch gesellschaftliche Leitbilder sowie institutionelle Kontexte geprägt.

Vor diesem Hintergrund beschreibt der Pädagoge Michael Winkler Erziehung als Praxis, in der ältere Generationen Jüngeren Räume eröffnen, um als freie Subjekte zu handeln, wobei gleichzeitig gesellschaftliche Entwicklungsprozesse im Blick behalten werden. Dieses Verständnis verweist auf den normativen Kern: Erziehung ist nicht nur ein faktisches Geschehen, sondern verfolgt auch ein Leitziel, das in Spannung zu den sozialen, institutionellen und kulturellen Bedingungen steht. Sie vollzieht sich sowohl explizit als auch funktional als doppelte Bewegung von Individualisierung und Sozialisation in kulturellen und sozialen Kontexten – nicht selten auch gegen den Eigensinn der Heranwachsenden. In professionellen Kontexten, etwa in der Sozialen Arbeit, in Bildungseinrichtungen oder bei kulturellen Angeboten wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, genügt es daher nicht, Erziehung einfach laufen zu lassen. Implizite Orientierungen müssen explizit gemacht werden. Welche Zielvorstellungen leiten das Handeln? In welchem institutionellen Rahmen findet es statt? Mit welchen Praktiken und auf welcher fachlichen Grundlage? Der technokratische Begriff der „Erziehungsmethoden“ greift hier zu kurz. Angemessener ist es, von erzieherischen Praktiken, Haltungen und Orientierungen zu sprechen, die reflektiert, begründet und verantwortet sein müssen.

Dieser Punkt verweist auf eine grundlegende Einsicht, die bereits in Siegfried Bernfelds Klassiker „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ 1929 beschrieben wurde: Erziehung ist nie grenzenlos verfügbar, sondern unterliegt sozialen, ökonomischen und institutionellen Bedingungen. Bernfeld unterscheidet drei Dimensionen von Grenzen: die Erziehbarkeit des Kindes, die Person des Erziehers und die soziale Grenze. Letztere ist für ihn entscheidend: „Nicht die Pädagogik baut das Erziehungswesen, sondern die Politik.“ Damit verschiebt sich der Blick von individuellen Fähigkeiten hin zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die pädagogisches Handeln ermöglichen oder beschränken. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Meseth betont, dass diese Begrenztheit nicht als Defizit, sondern als Bedingung pädagogischer Reflexion zu verstehen ist. Sie verpflichtet dazu, Ziele, Mittel sowie institutionelle und politische Voraussetzungen kritisch zu hinterfragen.

Der Erziehungswissenschaftler Arnd-Michael Nohl beschreibt Erziehung als Orientierungszumutung: Kinder und Jugendliche sind aufgefordert, sich mit Haltungen, Normen und Praktiken auseinanderzusetzen, die (noch) nicht die ihren sind – und erhalten zugleich die Möglichkeit, diese anzunehmen, zu transformieren oder zurückzuweisen. Erziehung ist keine lineare Einwirkung, sondern ein dialektisches Geschehen. Die Erwachsenen verfolgen bestimmte Absichten, die Kinder haben ihren eigenen Willen. Beide treffen in einem Raum aufeinander, der von Macht geprägt ist, aber auch von Freiheit offen gehalten wird. Käte Meyer-Drawe zeigt, dass Macht in der Erziehung nicht nur in sichtbaren Maßnahmen erscheint, sondern sich in die körperlichen und praktischen Gewohnheiten der Kinder einschreibt und so ihren Blick auf die Welt und auf sich selbst mitprägt. Damit wird deutlich: Der Eigensinn von Kindern entsteht nicht in einem machtfreien Raum, sondern in der Auseinandersetzung mit Macht. Der Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnet dies als „List der pädagogischen Vernunft“: Gesellschaftliche Erwartungen setzen sich in habituellen Praktiken fest und wirken dadurch besonders nachhaltig. Zugleich eröffnen sie aber auch Spielräume, in denen Aneignung, Umdeutung oder Widerstand möglich bleiben.

Dieses Spannungsverhältnis von Macht und Freiheit wurde historisch immer wieder reflektiert. Immanuel Kants berühmte Frage „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ markiert bis heute ein grundlegendes Dilemma. In der Sozialen Arbeit, verstanden als Einheit von Sozialpädagogik und Sozialarbeit, besteht seit Langem Konsens darüber, dass Erziehung nicht auf Disziplinierung, sondern auf die Stärkung von Subjektivität abzielen muss. Der Pädagoge Hans Thiersch hat dies in seinem Konzept der Lebensweltorientierung festgehalten: Erziehung soll die Eigenlogik von Alltagswirklichkeiten anerkennen und zugleich Perspektiven für die Lebensbewältigung eröffnen. Daraus ergeben sich Struktur- und Handlungsmaximen wie Alltagsnähe, Partizipation, Prävention und Integration, die auch in der institutionellen Erziehung unverzichtbar sind – stets vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und demokratischer Kultur.

Gerade diese Grundlagen sind heute bedroht. Strukturelle Defizite, Personalmangel und fehlende Reflexionsräume haben zur Folge, dass Erziehung ihren relationalen, orientierenden und schützenden Charakter zunehmend verliert. Sie reduziert sich auf Routinen von Aufsicht, Disziplinierung und Konfliktmanagement. Die programmatisch formulierten normativen Versprechen von Autonomie, Teilhabe und Anerkennung bleiben zwar rhetorisch bestehen, werden in der Praxis jedoch systematisch unterlaufen. Hier setzt der vom Pädagogen Andreas Gruschka in den 1980er Jahren mit Bezug auf Theodor W. Adorno geprägte Begriff der „bürgerlichen Kälte“ an: Er steht nicht für individuelle Gefühllosigkeit, sondern für eine institutionell erzeugte Indifferenz, die aus Überforderung entsteht und zur professionellen Routine wird. Gerät das einzelne Kind oder der einzelne Jugendliche aus dem Blick, verkehrt sich Erziehung – selbst wenn sie gut gemeint ist – in eine Zumutung. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden drei Leitfragen diskutiert: Wie wirken sich strukturelle Bedingungen auf verletzendes Verhalten und Gewalt in pädagogischen Institutionen aus? Wie beeinflussen normative Erwartungen, Machtpraktiken und institutionelle Routinen einander? Und was bedeutet es, wenn pädagogische Verantwortung zersplittert und Erziehung als soziale Praxis ihren ethischen Kern verliert?

Verletzendes Verhalten als Strukturphänomen

Die nachfolgenden Auswertungen basieren auf einer bundesweiten Online-Erhebung, die im Herbst 2024 unter Beschäftigten im Bereich der Sozialen Arbeit erhoben wurde. Ziel war es, verletzendes Verhalten in verschiedenen Handlungsfeldern zu erfassen und die entsprechenden strukturellen Bedingungen sichtbar zu machen. Der Fragebogen wurde über Multiplikator:innen in Fachverbänden, Gewerkschaften und Hochschulen verbreitet und richtete sich an Fachkräfte in (sozial-)pädagogischen, betreuenden und begleitenden Kontexten. Insgesamt nahmen über 6300 Personen teil. Für die Analyse wurden fünf Arbeitsfelder ausgewählt, in denen (sozial-)pädagogische Arbeit im Rahmen einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe geleistet wird: Kindertagesstätten, stationäre Jugendhilfe, offene Kinder- und Jugendarbeit, Soziale Arbeit im Kontext Schule sowie Soziale Arbeit bei Behinderung.

Die Ergebnisse zeigen: Gewalt und verletzendes Verhalten sind keine Randphänomene, sondern gehören im professionellen Feld zum Alltag. Dabei geht es nicht nur um Übergriffe zwischen Adressat:innen, sondern auch um Gewalt gegenüber Fachkräften sowie um Grenzverletzungen, die von den Fachkräften selbst ausgehen. In allen Arbeitsfeldern zeigt sich eine enge Verschränkung zwischen personaler Überforderung und struktureller Dysfunktion.

Auffällig ist: Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen wird häufig als verletzend empfunden – selbst dann, wenn es entwicklungspsychologisch erklärbar ist oder Ausdruck von Hilf- und Orientierungslosigkeit, also sozialpädagogisch einzuordnen wäre. Beschäftigte berichten etwa von Beleidigungen, Herabsetzungen oder körperlichen Übergriffen, für deren Bearbeitung sie keine Zeit finden oder für die ihnen die professionelle Begleitung oder die passende Qualifikation fehlt. In dieser Situation wird der pädagogische Auftrag zur Erziehung zur Zumutung: Die Fähigkeit zum Beobachten, Einordnen und Verstehen – die für eine Erziehung zur Freiheit zentral ist – ist oft nicht gegeben oder institutionell nicht abgesichert. Wo die Kompetenz zur Deutung fehlt, nicht gefördert wird oder der institutionelle Rahmen dem entgegensteht, kann kindliches Verhalten schnell als Provokation oder Regelverstoß interpretiert werden. Erziehung reduziert sich dann auf Kontrolle, Reaktion und Abwehr statt auf Unterstützung, Orientierung und Aushandlung.

In Kindertagesstätten berichten mehr als 80 Prozent der Befragten von psychischer Gewalt unter Kindern. Gleichzeitig geben die befragten Fachkräfte häufig an, selbst psychisch verletzt worden zu sein – etwa durch Kinder oder Eltern (74 Prozent) oder durch Kolleg:innen sowie Leitungspersonen (62 Prozent). Mehr als 39 Prozent wurden bereits von Adressat:innen und 15 Prozent von Kolleg:innen körperlich angegriffen. Diese Erfahrungen stehen im Kontext einer hohen Arbeitsbelastung: Zwei Drittel der Befragten geben an, regelmäßig Überstunden zu leisten, und jede fünfte Person arbeitet wöchentlich mehr als fünf Stunden unbezahlt. Für pädagogische Reflexion, Supervision oder dialogische Erziehungsarbeit bleibt kaum Zeit. Durch diese Reduzierung auf Routinen geht das verloren, was der Philosoph Martin Buber als Kern einer dialogischen Haltung bezeichnet: die Begegnung im Modus des „Ich-Du“, bei der das Gegenüber nicht als Fall oder Objekt, sondern als Person erscheint, die ernst genommen wird. Wo diese dialogische Arbeit nicht mehr möglich ist, gerät Erziehung in Gefahr, zu einem bloß administrativen Ich-Es-Verhältnis zu verflachen – und damit ihre substanzielle Orientierung an Beziehung und Gegenseitigkeit zu verlieren.

Auch in der stationären Jugendhilfe ist das Ausmaß erlebter Gewalt hoch: 94 Prozent der Befragten berichten von psychischer Gewalt unter Jugendlichen, über 60 Prozent waren selbst Opfer physischer Übergriffe. Auffällig ist zudem die Häufung sexualisierter Gewalt – sowohl unter Jugendlichen als auch gegenüber Fachkräften. Gleichzeitig sind die institutionellen Bedingungen angespannt. Viele Einrichtungen leiden unter Personalmangel, hoher Fluktuation, chronischer Überforderung sowie einer mangelnden partizipativen Kultur. Oft existieren pädagogische Konzepte nur auf dem Papier und werden im Alltag kaum umgesetzt.

In der offenen Kinder- und Jugendarbeit klagen viele Beschäftigte über einen brüchigen Arbeitsalltag: einem von ständigen Unterbrechungen, unklaren Zuständigkeiten und strukturellen Instabilitäten geprägten Setting, in dem verlässliche pädagogische Beziehungen und gemeinsam getragene Orientierungen nur schwer herzustellen sind. Gewalt geht hier nicht nur von Besucher:innen, sondern auch von Beschäftigten aus. Häufig fehlen abgestimmte Konzepte sowie gemeinsam geteilte erzieherische Orientierungen. Multiprofessionelle Teams mit unterschiedlichen Qualifikationen arbeiten ohne klare Rollenverteilung zusammen, was zu Unsicherheiten, Rollenkonflikten und Verantwortungsdiffusion führt.

Ein differenziertes Bild zeigt sich im Kontext Schule: In den Bereichen Schulsozialarbeit, Schulbegleitung und Ganztagsbetreuung berichtet jeweils eine Mehrheit von psychischer Gewalt unter Schüler:innen. Mehr als jede:r zweite Beschäftigte wurde selbst Opfer psychischer Gewalt. Auch hier berichten die Beschäftigten, dass ihnen sowohl Zeit als auch fachliche Begleitung für eine reflexive Auseinandersetzung mit den erlebten Situationen fehlen. Während Schulsozialarbeiter:innen vergleichsweise gut angebunden sind, fehlen den meist fachlich nicht vorgebildeten Schulbegleiter:innen häufig kollegiale Unterstützung, Fortbildung und Supervision – obwohl sie in hochkomplexe erzieherische Prozesse eingebunden sind.

In der Sozialen Arbeit bei Behinderung wird ein besonders hohes Maß an körperlicher Gewalt verzeichnet: Zwei Drittel der befragten Beschäftigten geben an, regelmäßig mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert zu sein, die zu Verletzungen führen können. Psychische Gewalt, beispielsweise in Form von abwertender Kommunikation oder fehlendem Respekt, wird sowohl unter Kolleg:innen als auch durch Leitungskräfte thematisiert. Die strukturellen Probleme ähneln denen anderer Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit: fehlende Qualifikation, hohe Fluktuation, geringe Bezahlung und die weitgehende Abwesenheit verbindlicher pädagogischer Standards. Besonders gravierend ist, dass selbst bei offensichtlichen Grenzverletzungen die erforderlichen institutionellen Konsequenzen, wie beispielsweise regelhafte Aufarbeitungsprozesse, oft ausbleiben.

Über alle Arbeitsfelder hinweg zeigt sich ein konsistentes Muster: Verletzendes Verhalten tritt dort gehäuft auf, wo Schutzkonzepte nicht greifen, Zuständigkeiten unklar sind und pädagogische Reflexion nicht möglich ist. Die strukturellen Bedingungen – Zeitdruck, Personalmangel, mangelnde Supervision und fehlende Qualifikation – schaffen ein Milieu, in dem institutionelle Erziehung von ihrem relationalen, orientierenden und dialogischen Anspruch abgekoppelt wird. Statt ein kooperatives Geschehen zwischen Subjekten zu sein, wird Erziehung zur verwaltenden Reaktion auf Störungen – zum administrierten Aushalten statt zum reflexiv gestalteten Aushandeln.

Verletzendes Verhalten als Ausdruck bürgerlicher Kälte

Gewalt und verletzendes Verhalten in pädagogischen Institutionen sind also keine Ausnahmeerscheinungen, sondern Ausdruck eines strukturellen Ungleichgewichts zwischen Anspruch und Praxis. Sie treten in allen untersuchten Arbeitsfeldern auf – mit unterschiedlichen Intensitäten, aber vergleichbaren Mechanismen. Entscheidend ist nicht nur die Häufung der Vorfälle, sondern die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird: Gewalt erscheint nicht als Bruch pädagogischer Ordnung, sondern als erwartbarer Bestandteil eines Alltags, in dem kaum Zeit für kritische Reflexion bleibt.

In seiner Rekonstruktion des Begriffs der „bürgerlichen Kälte“ hat Andreas Gruschka gezeigt, dass es sich dabei nicht um individuelle Gefühlskälte handelt, sondern um eine habituell gelernte und institutionell gestützte Indifferenz gegenüber den Widersprüchen pädagogischer Praxis. Pädagogische Ideale wie die Allgemeinheit der Bildung, Gerechtigkeit, Mündigkeit oder Solidarität bleiben zwar sprachlich präsent, verlieren jedoch ihren praktischen Gehalt, sobald institutionelle Routinen dominieren. Bereits 1987 beschrieben Rainer Bremer und Andreas Gruschka diese rhetorische Deckung: Ideale bestehen fort, ohne die Praxis tatsächlich zu steuern – die Sprache der Erziehung bleibt, während ihre Substanz entleert wird.

Laut Gruschka eignen sich Beschäftigte in solchen Situationen bestimmte Reaktionsweisen an: von der fraglosen Übernahme widersprüchlicher Praxis über deren Verdrängung bis hin zur reflektierten Hinnahme oder zum Protest. All diesen Modi ist gemeinsam, dass sie dabei helfen, Widerspruchserfahrungen zu ertragen, ohne das System grundsätzlich infrage zu stellen. So entsteht ein professioneller Habitus, der dabei hilft, den Alltag zu bewältigen; strukturelle Probleme werden jedoch individualisiert. Verantwortung für Missstände wird personalisiert und Überforderung moralisiert – Fachkräfte erleben sich als unzulänglich, obwohl sie strukturell alleingelassen werden.

Die statistischen Daten zu den Arbeitsbedingungen und zu verletzendem Verhalten zeigen zwei spezifische Erscheinungsformen dieser semantischen Entleerung, die an Gruschkas Konzept anschließen, aber darüber hinausgehen: Camouflage und Zynismus.

Camouflage: Einrichtungen präsentieren Konzepte, etwa Schutzkonzepte, Partizipationsleitlinien oder Ethikkodizes, ohne die Bedingungen für ihre Umsetzung zu schaffen. In einer Gruppendiskussion beschreibt eine Leitungskraft, dass das Schutzkonzept „in der Schublade liegt“, da es „im Alltag sowieso nicht umsetzbar“ sei. Auf Webseiten und in Leitbildern wird Partizipation hervorgehoben, im Alltag bleibt dafür jedoch weder Zeit noch Struktur. Gerade diese Diskrepanz zwischen Programmatik und Praxis stabilisiert die Kälte, denn sie erzeugt die Illusion pädagogischer Substanz, wo faktisch nur Rhetorik bleibt.

Zynismus: Wo die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit offenkundig wird, reagieren die Beschäftigten mit ironischer Brechung. So spricht eine Mitarbeiterin einer Wohngruppe in einer Gruppendiskussion von einer „demokratischen Einrichtung mit Türcode und Ausgangsverbot“. Begriffe wie „Kindeswohl“ oder „Teilhabe“ werden zwar weiterhin verwendet, jedoch nur noch als leere Chiffren und nicht mehr als pädagogische Orientierungen.

Diese Formen sind nicht nur individuelle Abwehrstrategien, sondern Ausdruck eines institutionellen Habitus. Sie zeigen, wie sich bürgerliche Kälte als stillschweigende Norm reproduziert: durch Sprache, die ihren Gehalt verliert, durch Routinen, die Widerspruchserfahrungen neutralisieren, und durch eine Kultur, die strukturelle Missstände in individuelles Scheitern übersetzt. Dadurch wird Erziehung – verstanden als dialogische, relationale und auf Eigensinn und Lebenswelt bezogene Praxis – entkernt. Was bleibt, ist eine Verwaltung des Sozialen, die verletzendes Verhalten nicht nur hinnimmt, sondern strukturell hervorbringt.

Krise der Erziehung als politische Herausforderung

Erziehung ist ein intentionaler, normativ gerahmter und somit konfliktträchtiger Prozess. Einerseits soll sie Freiheit ermöglichen, andererseits steht sie unter institutionellen Spannungen. In ihrer doppelten Bewegung zwischen Orientierung und Subjektivierung, Unterstützung und Disziplinierung wird sie zu einem machtgesättigten Geschehen, das nur unter verlässlichen Rahmenbedingungen – Zeit, Beziehung, Reflexion und Verantwortung – gelingen kann. Dabei bewegt sich Erziehung stets im Spannungsfeld von individuellem Eigensinn und gesellschaftlichen Erwartungen. Sie muss die subjektive Entwicklung ernst nehmen und zugleich solidarische Bezüge eröffnen, die das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft ermöglichen.

Genau diese Voraussetzungen entfallen im institutionellen Kontext von Erziehung zunehmend. In Kindertagesstätten, in der stationären Jugendhilfe oder in der Sozialen Arbeit bei Behinderung verformt sich Erziehung zu verwalteter Routine: Sie ist fragmentiert, von Kontrolle, Aufsicht und Reaktivität geprägt. Zurück bleibt eine Zersplitterung der Institution – für Kinder und Jugendliche ebenso wie für die Beschäftigten. Sie geraten in einen Zustand, den Gruschka als Kälte beschreibt: eine habitualisierte, moralisch codierte Indifferenz gegenüber Eigensinn und Lebenswelt der ihnen Anvertrauten. Damit ist keine Böswilligkeit gemeint, sondern eine Überlebensstrategie im Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Unter solchen Bedingungen verschiebt sich die Zielrichtung von Erziehung: An die Stelle von Autonomie, Teilhabe und Anerkennung treten Funktionieren, Anpassung und administrative Bearbeitung. Der Begriff bleibt zwar bestehen, bezeichnet jedoch keine reflektierte Praxis mehr, sondern das Ergebnis von Standardisierung und institutioneller Normierung – rhetorisch überdeckt durch Konzepte, Leitbilder und Ethikkodizes, deren Umsetzung systematisch verhindert wird.

Die pädagogischen Arbeitsfelder reproduzieren damit strukturell verletzendes Verhalten – nicht, weil die Beschäftigten versagen, sondern weil Erziehung unter Bedingungen stattfindet, die das Erreichen ihrer erklärten Ziele unmöglich machen. Doch was heißt hier „Erreichen“? Wenn sich die normativen Bezugspunkte verschieben – von Beziehung zu Steuerung, von Deutung zu Kontrolle und von Orientierung zu Resultaten – dann gerät nicht nur das Wie, sondern auch das Wozu von Erziehung aus dem Blick. Genau darin liegt die Brisanz: Die Krise der Erziehung ist nicht nur eine (sozial-)pädagogische, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung – eine Krise des Sozialen, des Öffentlichen und der demokratischen Verantwortung.

In einer Gesellschaft, die zunehmend auf Effizienz, Funktionalität und administrative Steuerung ausgerichtet ist, droht Erziehung auf ihre technische Seite reduziert zu werden – als Maßnahme, nicht als dialogisches Geschehen. Wenn Erziehung jedoch einen Beitrag zu einer demokratischen Gesellschaft leisten soll, ist eine Repolitisierung notwendig – nicht in Form weiterer Steuerungsvorgaben, sondern als Verständigungsprozess darüber, was Erziehung in einer Demokratie leisten soll. Nur wenn die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass pädagogisches Handeln wieder an normative Ziele geknüpft werden kann, trägt Erziehung zur Ermöglichung von Subjektwerdung, Teilhabe, Verantwortung und Solidarität bei. Das bedeutet: Es braucht Zeit für bewusste Erziehung und Beziehungsbildung sowie für eine kooperative Erziehungsgemeinschaft mit den Eltern. Erziehung sollte sich an den konkreten Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen orientieren und nicht an abstrakten Modellen oder standardisierten Abläufen. Es bedarf verbindlicher Schutzkonzepte, klarer Rollenverteilung und verlässlicher, professioneller Rahmenbedingungen wie Supervision und Fortbildung. Darüber hinaus sind institutionalisierte Reflexionsräume wichtig, in denen Anspruch und Alltag reflektiert werden – nicht als individuelle Schwäche, sondern als notwendige professionelle Anforderung.

Die Repolitisierung erfordert nicht nur strukturelle Investitionen, sondern auch eine gesellschaftliche Verständigung: Was soll Erziehung heute leisten und welche Bedingungen sind für ihr Gelingen unverzichtbar? Eine demokratische Gesellschaft, die ihre Zukunftsfähigkeit sichern will, muss diese Frage öffentlich diskutieren und sich entscheiden, ob sie Erziehung weiterhin funktionalisiert oder endlich ermöglicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Klaus Prange, Erziehung, 8.6.2022, Externer Link: https://www.herder.de/staatslexikon/artikel/erziehung.

  2. Vgl. Katharina Rutschky (Hrsg.), Schwarze Pädagogik, Frankfurt/M. 1993.

  3. Vgl. Michael Winkler, Erziehung, in: Matthias Huber/Marion Döll (Hrsg.), Bildungswissenschaft in Begriffen, Theorien und Diskursen, Wiesbaden 2023, S. 163–172.

  4. Vgl. Elke Steinbacher, Didaktik, in: Hans-Uwe Otto/Hans Thiersch (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit, München 2011, S. 251–257.

  5. Vgl. Nikolas Luhmann/Karl-Eberhard Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: dies. (Hrsg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz, Frankfurt/M. 1982, S. 11–41.

  6. Vgl. Wolfgang Meseth, Siegfried Bernfelds „Grenzen der Erziehung“ revisited, in: Daniel Goldmann/Sophia Richter/Thomas Wenzl (Hrsg.), Die Grenzen der Erziehung revisited, Opladen 2024, S. 105–120; Dieter Nittel/Nikolaus Meyer/Jenny Kipper, Ordnungsdimensionen pädagogischer Situationen: Technologien und Kernaktivitäten, in: Zeitschrift für Pädagogik 3/2020, S. 382–400.

  7. Vgl. Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Praxis der Erziehung – Pädagogik und Psychoanalyse, Gießen 2013, S. 11–130.

  8. Ebd., S. 12.

  9. Vgl. Meseth (Anm. 6).

  10. Vgl. Arnd-Michael Nohl, Erziehung, in: EEO Enzyklopädie Erziehungswissenschaften Online, Weinheim 2023, S. 1–10; siehe auch den Beitrag von Nohl in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  11. Vgl. Käte Meyer-Drawe, Erziehung und Macht, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 4/2001, S. 446–457.

  12. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 200.

  13. Vgl. Meyer-Drawe (Anm. 11).

  14. Zit. nach Winkler (Anm. 3), S. 166.

  15. Vgl. Hans Thiersch, Lebensweltorientierte Soziale Arbeit – revisited, Weinheim 2020.

  16. Vgl. Nikolaus Meyer/Elke Alsago, Zwischen Professionalität, strukturellen Defiziten und neuer Kälte: Verletzendes Verhalten und Gewalt in der Sozialen Arbeit, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 7/2025, S. 310–316.

  17. Vgl. Andreas Gruschka, Bürgerliche Kälte – eine Zentralkategorie einer kritischen Pädagogik im Anschluss an Th. W. Adorno, in: ders./Marion Pollmanns/Christoph Leser (Hrsg.), Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Opladen 2021, S. 19–33.

  18. Vgl. Meyer/Alsago (Anm. 16).

  19. Vgl. Dieter Nittel/Nikolaus Meyer, Pädagogische Begleitung: Handlungsform und Systemmerkmal, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 5/2018, S. 1063–1082.

  20. Vgl. Nikolaus Meyer/Elke Alsago, Verletzendes Verhalten in der Kindertagesbetreuung: Anspruch und Realität, Ver.di-Schriften zur Sozialen Arbeit 2/2025.

  21. Vgl. dies., Strukturell überfordert, fachlich autonom: Arbeitsbedingungen in zentralen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, in: Elke Alsago/Rita Braches-Chyrek/Nikolaus Meyer (Hrsg.), Personalmangel in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2025, S. 9–27.

  22. Vgl. Martin Buber, Ich und Du, in: ders. (Hrsg.), Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1965.

  23. Vgl. Nikolaus Meyer/Elke Alsago, Stationäre Kinder- und Jugendhilfe unter Druck: Strukturmängel und verletzendes Verhalten, in: Forum Jugendhilfe 2/2025, S. 48–55.

  24. Vgl. dies. (Anm. 16).

  25. Vgl. dies., Gewalt, Fachkräftemangel und institutionelle Transformation, in: Forum für Kinder- und Jugendarbeit 2/2025, S. 43–47.

  26. Vgl. dies., Gewalt im Schulalltag, in: Pädagogik 11/2025 (i.E.).

  27. Vgl. dies., Hilfe mit Nebenwirkungen: Wie schlechte Arbeitsbedingungen Gewalt verstärken, in: Heilpaedagogik.de. Fachzeitschrift des Berufs- und Fachverbandes Heilpädagogik 3/2025, S. 16–20.

  28. Vgl. dies. (Anm. 21).

  29. Vgl. dies. (Anm. 27).

  30. Vgl. dies. (Anm. 16).

  31. Vgl. ebd.

  32. Vgl. Gruschka (Anm. 17).

  33. Vgl. Rainer Bremer/Andreas Gruschka, Bürgerliche Kälte und Pädagogik, in: Pädagogische Korrespondenz 1/1987, S. 19–33.

  34. Vgl. Gruschka (Anm. 17).

  35. Vgl. Nikolaus Meyer/Elke Alsago, Soziale Arbeit nach der Coronapandemie: Versuch einer Bilanz, in: Sozial Extra 3/2025, S. 225–228.

  36. Vgl. dies., So verlieren wir den Kitt, der uns zusammenhält, in: Die Zeit, 11.9.2025, S. 36.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Nikolaus Meyer, Elke Alsago für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Professor für Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit an der Hochschule Fulda.

leitet die Bundesfachgruppe Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei Verdi.