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Befähigen und bändigen | Erziehung | bpb.de

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Befähigen und bändigen Schule, Jugend und die Erziehung zur Demokratie nach 1968

Phillip Wagner

/ 14 Minuten zu lesen

Erziehung spielte nach 1968 eine widersprüchliche Rolle in der bundesdeutschen Demokratie. Jugendliche sollten Kritik und Engagement lernen. Gleichzeitig versuchten unterschiedliche Gruppen, die Aneignung demokratischen Denkens und Handelns akribisch zu kontrollieren.

Ob mit einer „Verfassungsviertelstunde“, einem „Wahlfach Mitbestimmung“ oder einem Gesamtkonzept für die „Demokratieerziehung“: Wie die Schulen auf den Aufstieg des Populismus und die vermeintliche Krise der Demokratie reagieren sollen, ist umstritten. Überraschend ist jedoch, dass in weiten Teilen der Öffentlichkeit Einigkeit darüber herrscht, dass man zu demokratischen Einstellungen und Fertigkeiten anleiten müsse, um die freiheitliche Grundordnung zu bewahren. Doch wie ist dieses Paradigma historisch entstanden?

Im Folgenden wird die Geschichte der Regulierung demokratischen Denkens und Handelns in der Bundesrepublik Deutschland in groben Zügen nachgezeichnet. Dabei geht es weniger um die Debatten in der Weimarer Republik oder der frühen Bundesrepublik, sondern vielmehr um die Frage, wie junge Menschen nach der Chiffre „1968“ vor allem durch den sozial- und politikwissenschaftlichen Unterricht zu demokratischem Denken und Handeln erzogen werden sollten.

Die Deutung der bundesdeutschen Demokratie- und Erziehungsgeschichte nach 1968 ist unklar: Einerseits wird argumentiert, dass Schulen in den 1960er und 1970er Jahren eine wichtige Rolle dabei spielten, demokratisches Denken und Handeln bei jungen Menschen einzuüben. In diesen Arbeiten wird aufgezeigt, wie der Jugendprotest um 1968 zur Abschaffung der Zensur von Schülerzeitungen, zur Einrichtung von Schülervertretungen und zum Ausbau des Sozialkunde- und Politikunterrichts beitrug. Andererseits verdeutlicht die historische Forschung, dass zur selben Zeit die Humanwissenschaften, darunter Ökonomie, Soziologie, Psychologie und Pädagogik, immer neue Konzepte zur Konditionierung von Denken und Verhalten entwickelten, die breit in der Bildungspolitik debattiert wurden. Diese Debatten halfen, den Gedanken einer Formbarkeit der kognitiven Entwicklung zu stärken.

In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, den Deutungswiderspruch zu überwinden. Die These lautet: In der bundesdeutschen Demokratie waren nach 1968 Befreiungsansprüche untrennbar mit Kontrollimperativen verbunden. Politik und Wissenschaft waren der Ansicht, Jugendliche durch die Rezeption humanwissenschaftlicher Theorien gezielt zu demokratischem Denken und Handeln anleiten zu können. Ihre Initiativen zur Steuerung der kognitiven und habituellen Grundlagen der Demokratie blieben jedoch stets umstritten und riefen Gegenbewegungen hervor.

Zunächst wird die Debatte um die Lenkung von Emanzipation in sozialdemokratischen und linksliberalen Kreisen im Jahrzehnt nach 1968 beleuchtet. Anschließend wird aufgezeigt, wie liberalkonservative und linksliberale Kräfte in den 1970er und 1980er Jahren versuchten, ein demokratisch-moralisches Denken zu fördern. Abschließend wird die Frage diskutiert, warum im Jahrzehnt nach der deutschen Wiedervereinigung das Konzept der Selbstoptimierung demokratischer „Kompetenzen“ in die Klassenzimmer Einzug hielt. Im Mittelpunkt dieser Diskussion stehen die bundesdeutschen Entwicklungen, ergänzend kommen Entwicklungen aus den Bundesländern dazu.

Doch was bedeutet demokratische Erziehung? Aus der Perspektive der poststrukturalistischen Demokratietheorie betrachte ich einerseits die Versuche von Staat, Politik und Wissenschaft, demokratische Einstellungen und Handlungsformen planvoll bei Jugendlichen hervorzubringen. Andererseits untersuche ich die eigensinnige Aneignung dieser Maßnahmen in der Gesellschaft. Wie wollten Kultusministerien und Sozialwissenschaften die Jugend zu einem historisch veränderlichen Verständnis von Demokratie erziehen? Wie reagierten die verschiedenen Gruppen auf diese Imperative? Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen dabei gesellschaftliche Kontroversen und nicht die Aneignungen in den Klassenzimmern.

Zur Emanzipation anleiten

Die Debatte um demokratische Erziehung begann nicht erst in den 1960er Jahren. Bereits in der Weimarer Republik versuchten liberale und sozialdemokratische Politiker und Pädagogen durch die Einführung von Schülerräten und die Konzeption einer Staatsbürgerkunde, die Jugend – letztlich erfolglos – auf die fragile Demokratie auszurichten. Nach dem Ende des Nationalsozialismus strengten vor allem US-amerikanische Besatzungsoffiziere gemeinsam mit deutschen Fachleuten die sogenannte Reeducation der Heranwachsenden an. Auch wenn viele ihrer ambitionierten Pläne scheiterten, gaben sie der Debatte um Schule, Jugend und Demokratie vielfältige Impulse und trugen dazu bei, dass unter Politikern und Fachleuten die Erwartungen an die demokratische Aufgabe der Schule in den 1950er Jahren stiegen.

Als Reaktion auf den Systemwettstreit mit der DDR und die Debatte über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus setzten Politik und Wissenschaft ab den späten 1950er Jahren das Schulfach Gemeinschaftskunde durch. Einerseits sollte vor allem den Jugendlichen an Gymnasien politisches Wissen vermittelt und eine demokratische Haltung eingeprägt werden, und sie sollten die Gelegenheit erhalten, sich in Schülermitverwaltungen und Schülerzeitungsredaktionen zu engagieren. Andererseits steckte die Bildungspolitik die Grenzen des Demokratischen deutlich ab, denn es ging ihr stets darum, die fragil erscheinenden Institutionen der Bundesrepublik primär gegenüber dem Kommunismus zu verteidigen.

Widersprüchliche Entwicklungen kennzeichneten auch die 1960er und frühen 1970er Jahre: Auf der einen Seite kamen aus der Jugend, aber auch aus Wissenschaft und Politik immer mehr Stimmen, die eine konsequentere Erziehung zur Demokratie forderten. Schülerinnen und Schüler, insbesondere an Gymnasien, kommentierten zunehmend unangepasst die Politik, forderten Mitsprache und setzten sich für eine Demokratisierung der Schule ein. Aus dem Jugendprotest um 1968 entstanden schließlich antiautoritäre, kommunistische und christdemokratische Schülerbewegungen. Parallel dazu forderten Sozialwissenschaftler und Pädagogen, Jugendliche umfassender als bisher zur Teilnahme an gesellschaftlichen Konflikten und sogar zur Befreiung von Herrschaftsverhältnissen anzuleiten. So appellierte etwa der prominente Erziehungswissenschaftler Hans-Jochen Gamm für eine „kritische Schule“, die die „Emanzipation von Schülern und Lehrern“ ermöglichen solle.

Auf der anderen Seite versuchten Wissenschaft und Politik, demokratisches Denken und Handeln stärker als bisher zu kontrollieren. Während der 1960er Jahre verfielen große Teile der westdeutschen Öffentlichkeit in eine regelrechte „Planungseuphorie“, glaubten sie doch, Wirtschaft und Gesellschaft mithilfe der Sozialwissenschaften steuern zu können. In der Erziehungswissenschaft erlebten nun behavioristische Curriculum- und Lernzieltheorien eine Blütezeit, da sie versprachen, die kognitive Entwicklung effizient steuern zu können. Ebenso hatte die Gruppendynamik Konjunktur, die das Ziel verfolgte, die Mitglieder einer Gruppe zur gegenseitigen Kontrolle ihres Verhaltens und zur Aufdeckung von Herrschaftsbeziehungen anzuleiten. Lehrplanautoren, Verwaltungsbeamte und Sozialwissenschaftler griffen diese Ideen auf und versuchten, durch die Aufstellung lernzielorientierter Curricula und gruppendynamischer Lernarrangements demokratisches Denken und Handeln gezielt hervorzubringen.

Vor allem in den sozialliberal regierten Bundesländern fanden diese ambivalenten Entwicklungen Niederschlag. Die Regierungen dieser Bundesländer beabsichtigten, die Jugend zur Konflikt- und Kritikfähigkeit, ja sogar zur Emanzipation zu erziehen. Hessen und Nordrhein-Westfalen waren in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben, wo mit den SPD-Politikern Ludwig von Friedeburg und Jürgen Girgensohn zwei Exponenten des linken Parteiflügels die Kultusministerien zu Beginn der 1970er Jahre leiteten. Diese Politiker glaubten, Jugendliche durch die Reform der Lehrpläne zu einer engagierten und kritischen Teilhabe an der Demokratie zu befähigen. Unter Friedeburg schuf das hessische Kultusministerium 1972 Rahmenrichtlinien für das neue Fach Gesellschaftslehre. Dieses sollte die Jugendlichen für die „Selbst- und Mitbestimmung“, die „kritische Informationsverarbeitung“ und die „Sicherung und Erweiterung demokratischer Verhältnisse“ sensibilisieren und zu einer „kritischen Loyalität“ mit der Bundesrepublik bewegen. Parallel dazu entwickelte Girgensohns Haus Richtlinien für das neue Fach Politik, die 1973 in Kraft traten. Unter dem Motto der „Emanzipation“ sollten Jugendliche demnach in die Lage versetzt werden, „Normen und Wertvorstellungen kritisch zu überprüfen“, ihre „Chancen auf Einflussnahme auf gesellschaftliche Vorgänge“ zu erweitern und sich an der demokratischen „Austragung von Konflikten“ zu beteiligen. Es greift jedoch zu kurz, diese Maßnahmen nur als Initiativen zur Befreiung der Jugendlichen zu sehen. Schließlich wollten Friedeburg und Girgensohn die Jugendlichen minutiös zu dem von ihnen gewünschten Verhalten führen. Zwar nahmen sich die beiden immer wieder rhetorisch zurück, doch rezipierten sie breit die behavioristischen Curriculumtheorien ihrer Zeit und strukturierten ihre Lehrpläne deswegen entlang von Lernzielkatalogen. Diese suggerierten, eine planmäßige „Veränderung von Bewusstseinsinhalten, Einstellungen und Verhaltensweisen“ bewirken zu können.

Einhegen und kontrollieren

Liberale und Konservative interpretierten die Umbrüche nach 1968 dagegen als einen Verfall der Werte. Ihrer Meinung nach hatten der Jugendprotest, die sozialliberale Reformpolitik und die Entstehung alternativer Bewegungen zu einer Krise verbindlicher Normen geführt. Deshalb lancierte die CDU gemeinsam mit liberalkonservativen Intellektuellen und Elternvereinen in Hessen und Nordrhein-Westfalen beispielsweise erfolgreiche Kampagnen gegen die sozialliberale Reform der politik- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer.

Liberale Konservative versuchten, die Jugendlichen auf einen demokratischen Wertekanon festzulegen. So entwarfen Sozialwissenschaftler im Auftrag der Unionskultusminister eine Programmschrift, die bald scherzhaft als die „Gelbe Bibel“ bekannt wurde. In dieser Schrift argumentierten sie, dass der Unterricht zu einem Urteilsvermögen erziehen sollte, das sich an den „Grundwerten“ der Verfassung zu orientieren habe, zu denen sie die „Menschenwürde“, die „Grundrechte“ und das zwischen „Individualität“ und „Sozialität“ changierende „Menschenbild“ des Grundgesetzes zählten. Diese Ideen blieben nicht auf dem Papier, sondern prägten die Bildungspolitik in den unionsregierten Bundesländern. So berief die rheinland-pfälzische CDU-Kultusministerin Hanna-Renate Laurien mit Bernhard Sutor einen der Autoren der „Gelben Bibel“ in ihre Lehrplankommission, der die Grundwerteorientierung in das Curriculum für das Fach Sozialkunde in der Sekundarstufe I integrierte.

Demgegenüber wollten Konservative vermeintlich bedrohte Werte wiederaufrichten, um einem angeblich krisenhaften Pluralismus deutlichere Grenzen zu setzen. Im Schatten der linksterroristischen Anschläge durch die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) während des „Deutschen Herbstes“ 1977 riefen die Organisatoren der „Mut zur Erziehung“-Tagung von 1978 die Bundesrepublik dazu auf, ihr eigenes Wertesystem offensiv zu verteidigen und die „Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung“ wieder zur Grundlage der demokratischen Erziehung zu machen. Konservative Kräfte innerhalb der Union knüpften an die Ideen dieser Tagung an. So reformierten die baden-württembergischen CDU-Kultusminister Roman Herzog und Gerhard Mayer-Vorfelder bis Mitte der 1980er Jahre ihre Lehrpläne im Sinne einer konservativen Wertepädagogik.

Linke und Liberale versuchten gegenüber den Konservativen, die Kultivierung eines moralischen Bewusstseins in den Dienst einer Ausweitung der Demokratie zu stellen und diese gleichzeitig bis ins Detail zu lenken. So argumentierte beispielsweise der Psychologe Marinus van IJzendoorn, dass ein an allgemeinen Prinzipien orientiertes moralisches Urteilen eine „freiere und gerechtere Organisation der Gesellschaft“ antizipieren könne. Gleichzeitig entwarfen IJzendoorn und andere Psychologen Modelle zur Steuerung des moralischen Argumentierens sowie Instrumente zur Messung des moralischen Urteilsniveaus. Begeistert rezipierten sie die Lehren des US-amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg, der Konzepte und Instrumente zur gezielten Steigerung des moralischen Urteilens entwickelt hatte.

Diese Ambivalenz kennzeichnete auch das wohl ambitionierteste linksliberale Vorhaben zur Förderung des moralischen Urteilens: das 1986 von der nordrhein-westfälischen Landesregierung entwickelte Projekt „Demokratie und Erziehung in der Schule“. Im Rahmen dessen sollten Schulen gemeinsam mit der Wissenschaft Modelle erarbeiten, um einerseits die „Festigung und Weiterentwicklung der Demokratie“ durch Steigerung des Urteilsniveaus zu fördern und andererseits Kohlbergs Konzepte und Instrumente an die westdeutsche Schule anzupassen, um somit die Ausbildung der Urteilskraft zu ermöglichen. Zweifellos prägte dieses Projekt die Debatte zwischen Rhein und Ruhr, entwickelte aber kaum eine Wirkung darüber hinaus.

Zur Optimierung führen

In den 1990er Jahren verschoben sich die Gewichte in der Debatte über demokratische Erziehung. Erstens forderten Politik und Wirtschaft verstärkt mehr Produktivität. Die deutsche Vereinigung hatte zu einer tiefen Krise des Wirtschafts- und Sozialsystems geführt, von der Mitte der 1990er Jahre das gesamte Bundesgebiet betroffen war. Deshalb appellierten führende Stimmen nun an die Gesellschaft, die Leistungsfähigkeit stärker als bisher zu steigern. Zweitens tat sich in dieser Zeit eine Kluft zwischen den hochgesteckten Zielen einer demokratischen Erziehung und den begrenzten Möglichkeiten der Schule auf. Zum einen produzierten Lehrplankommissionen immer ambitioniertere Curricula mit langen Lernziellisten. Zum anderen befanden sich die politik- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in einer tiefen Krise. Bereits in den 1970er Jahren waren die ersten Zweifel an den Planungskonzepten des Behaviorismus aufgekommen. Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise seit den späten 1970er Jahren hatten viele Landesregierungen auf die Einstellung ausgebildeter Lehrkräfte verzichtet. Insbesondere die Unionsregierungen reduzierten aus politischen Gründen den Umfang der politik- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Die deutsche Einheit brachte diesen Schulfächern keinen Aufwind.

In dieser Krise entdeckten die Sozialwissenschaften das Konzept der Kompetenz als neues Leitbild. Es schien, als könne es eine kontinuierliche Steigerung demokratischer Fähigkeiten anregen. Seit den frühen 1990er Jahren wurde über verschiedene Kompetenzmodelle debattiert. Das Thüringer Kultusministerium gehörte 1999 zu den ersten, die diese Ideen in einen Lehrplan umsetzten und mit neuartigen Optimierungsimperativen und Prüftechniken verbanden. In Anlehnung an ältere Kompetenzmodelle verlangte das Kultusministerium, dass der Sozialkundeunterricht die „Sachkompetenz“ des politischen Urteilens, die „Selbstkompetenz“ der Vertretung eigener Interessen, die „Sozialkompetenz“ der Kooperation mit anderen sowie die „Methodenkompetenz“ der Arbeit mit neuen Medien und anderen Wissensträgern fördern sollte. Anstatt feste Lernziele zu benennen, forderte das Ministerium, den „Kompetenzzuwachs“ mithilfe regelmäßiger Tests zu steuern, wodurch eine kontinuierliche Optimierung demokratischer Fertigkeiten suggeriert wurde.

Diese Steuerungslehren blieben nicht auf die östlichen Bundesländer beschränkt. Vielmehr lässt sich ebenso wie in der Sozialpolitik eine „Ko-Transformation“ von Ost und West beobachten. Denn auch die westlichen Bundesländer adaptierten die neuen Kontrolltechniken. So rekrutierte das nordrhein-westfälische Kultusministerium den Politikdidaktiker Wolfgang Sander, der zuvor in Thüringen die Kompetenzorientierung in das Curriculum integriert hatte. Gemeinsam entwarfen Sander und das NRW-Kultusministerium 2001 eine Rahmenvorgabe für den Politikunterricht, die auf die Förderung von Kompetenzen zielte, die sowohl für die politische Teilhabe als auch für die Bewältigung des Alltags und den Erfolg im Beruf wichtig sind und in einem kontinuierlich überwachten Selbstoptimierungsprozess erworben, trainiert und verbessert werden sollten.

Kurz nach der Einführung der nordrhein-westfälischen Rahmenvorgabe verstärkte der sogenannte PISA-Schock die Rufe nach einer konsequenteren Vermittlung demokratischer Kompetenzen. Nach dem schlechten Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler im PISA-Test beschloss die Kultusministerkonferenz im Juni 2002 die Einführung gemeinsamer Bildungsstandards und beauftragte das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung damit, einen Entwurf dieser Standards vorzulegen. Das Institut erarbeitete daraufhin erstmals im deutschsprachigen Raum ein Kompetenzmodell als test- und trainingsgestützte Optimierungstechnik, die eine bessere Anpassung an die Anforderungen in Alltag, Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen sollte. Als Reaktion darauf publizierte die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung 2004 einen Entwurf für nationale Bildungsstandards im Politikunterricht. Darin plädierte sie für die Förderung politischer, gesellschaftlicher und erstmals auch explizit wirtschaftlicher Kompetenzen. Trotz kontroverser Diskussionen stiftete dieser Entwurf einen Konsens in der Fachwelt, der weit über die 2000er Jahre hinaus Bestand hatte.

Fazit

Es wäre zu simpel, zu behaupten, dass Schulen nach 1968 zu einem immer partizipativeren Konzept von Demokratie beitrugen. Zweifellos wollten Bildungspolitik und Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund des Jugendprotests ein erweitertes Demokratieverständnis in die Klassenräume tragen. Doch ebenso knüpften sie an behavioristische Lerntheorien an und versuchten, die Anleitung zum demokratischen Denken und Handeln akribisch zu kontrollieren. Diese Konzepte blieben in den 1970er Jahren umstritten. Vor allem Stimmen aus dem Umfeld der Unionsparteien sahen in ihnen einen Angriff auf die moralischen Pfeiler der Demokratie. Sie entwickelten teils liberale, teils konservative Konzepte zur Stärkung angeblich bedrohter „Grundwerte“ und „Tugenden“, um den demokratischen Pluralismus einzuhegen. Als Reaktion darauf entwarfen sozialdemokratische und linksliberale Kreise psychologisch fundierte Konzepte zur Stärkung der moralischen Urteilskraft. Diese sollten die Demokratisierung der Lebenswelt fortführen, jedoch den Lernweg ebenfalls minutiös anleiten. Auch die Debatte um demokratische „Kompetenzen“ im Zuge der Krise nach 1989/90 war von derselben Ambivalenz gekennzeichnet. Politik und Sozialwissenschaften schufen Konzepte, um einerseits demokratische Fähigkeiten zu stimulieren und andererseits Jugendliche zur kontinuierlichen Optimierung ihres politischen Denkens und Verhaltens anzuleiten.

Der Blick auf diese Erziehungsprogramme zeigt, dass nach 1968 stets umstrittene Befreiungsansprüche und Kontrollimperative die bundesdeutsche Demokratie prägten. Er verdeutlicht, in welchen Kontinuitätslinien aktuelle Debatten um Verfassungsviertelstunden, Mitbestimmungsfächer oder Demokratieerziehungskonzepte stehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine „Verfassungsviertelstunde“ für die Schüler, in: Münchner Merkur, 27.10.2023, S. 3; Lea Schörnborn, Wahlfach Mitbestimmung, in: Die Tageszeitung, 19.1.2024, S. 4f.; Dorothee Schmidt-Elmendorff, Wie Schule und Demokratie zusammenpassen, in: Rheinische Post, 7.8.2025, S. D4.

  2. Vgl. Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005; Brian Puaca, Learning Democracy. Education Reform in West Germany, 1945–1965, New York 2009; Sonja Levsen, Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich, 1945–1975, Göttingen 2019.

  3. Vgl. Rüdiger Graf, Vorhersagen und Kontrollieren. Verhaltenswissen und Verhaltenspolitik in der Zeitgeschichte, Göttingen 2024; Lukas Held, Angst und Antrieb. Verwissenschaftlichung des Willens und Politik der Selbststeuerung in Deutschland und den USA, 1874–1974, Konstanz 2024.

  4. Jede Initiative oszilliert dabei zwischen der Förderung von Autonomie und der Beschränkung von Freiheit, vgl. Barbara Cruikshank, The Will to Empower. Democratic Citizens and Other Subjects, Ithaca 1999.

  5. Vgl. dazu ausführlich Phillip Wagner, Befreien und bändigen. Eine Geschichte der Schule, Jugend und Gouvernementalität der bundesdeutschen Demokratie, 1945–2000, Habilitationsschrift, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2025.

  6. Vgl. Andrew Donson, The Teenagers’ Revolution. „Schülerräte“ in the Democratization and Right-Wing Radicalization of Germany, 1918–1923, in: Central European History 3/2011, S. 420–446; Wolfgang Geiger, Staatsbürgerliche Erziehung und Bildung in der Endphase der Weimarer Republik, in: Reinhard Dithmar (Hrsg.), Schule und Unterricht in der Weimarer Republik, Ludwigsfelde 1993, S. 155–177.

  7. Vgl. Puaca (Anm. 2); Levsen (Anm. 2).

  8. Vgl. dazu nur Sandra Funck, Klassenkämpfe. Schule, Jugend und Politik um „1968“, Göttingen 2025.

  9. Hans-Jochen Gamm, Kritische Schule. Eine Streitschrift für die Emanzipation von Lehrern und Schülern, München 1970.

  10. Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 18.

  11. Vgl. Gass-Bolm (Anm. 2), S. 292–297; Maik Tändler, Therapeutische Vergemeinschaftung. Demokratisierung, Emanzipation und Emotionalisierung in der „Gruppe“ 1963–1976, in: ders./Uffa Jensen (Hrsg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 141–167; Oliver König, Experimente in Demokratie. Re-Education, angewandte Sozialpsychologie und Gruppendynamik in der frühen Bundesrepublik, Gießen 2025.

  12. Vgl. Johannes Knewitz, Bildung! Aber welche? Bundesdeutsche Bildungskonzeptionen im Zeitalter der Bildungseuphorie (1963–1973) und ihr politischer Niederschlag am Beispiel von Bayern und Hessen, Göttingen 2019, S. 369–389; Phillip Wagner, Ambivalente Demokratisierung. Politische Bildung und der Streit um die kulturellen Grundlagen der westdeutschen Demokratie in den 1960er- und 1970er-Jahren, in: Sara-Marie Demiriz/Jan Kellershohn/Anne Otto (Hrsg.), Geschichte eines Transformationsversprechens. Aushandlungen von Bildung und Wissen in Montanregionen, Essen 2021, S. 111–142.

  13. Der hessische Kultusminister, Rahmenrichtlinien. Sekundarstufe I Gesellschaftslehre, o.O. 1972, S. 7f., S. 15.

  14. Kultusminister Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Richtlinien für den politischen Unterricht, Düsseldorf 1973, S. 25.

  15. Ebd., S. 7. Vgl. auch Der hessische Kultusminister (Anm. 13), S. 17.

  16. Vgl. Axel Schildt, „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten.“ Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44/2004, S. 449–478; Nikolai Wehrs, Protest der Professoren. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ in den 1970er Jahren, Göttingen 2014, S. 371–383; Wagner (Anm. 12).

  17. Dieter Grosser et al., Politische Bildung. Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen, Stuttgart 1976, S. 9–12.

  18. Vgl. Bernhard Sutor, Rheinland-Pfalz, in: Wolfgang Northemann (Hrsg.), Politisch-gesellschaftlicher Unterricht in der Bundesrepublik. Curricularer Stand und Entwicklungstendenzen, Opladen 1978, S. 213–223.

  19. Erklärung des vorbereitenden Kreises, in: Wilhelm Hahn (Hrsg.), Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Forum am 9./10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg, Stuttgart 1979, S. 163–165, hier S. 163.

  20. Vgl. Wolfgang Mickel, Unterricht und Lehrerausbildung im Fach Gemeinschaftskunde in Baden-Württemberg, in: Klaus Rothe (Hrsg.), Unterricht und Didaktik der politischen Bildung in der Bundesrepublik. Aktueller Stand und Perspektiven, Opladen 1989, S. 21–46.

  21. Marinus H.v. IJzendoorn, Moralität, Kognition und politisches Interesse. Eine theoretische und empirische Untersuchung über einige kognitiv-entwicklungstheoretische Korrelate des politischen Bewusstseins von Adoleszenten als Prolegomenon einer psychologischen Didaktik der politischen Bildung, Berlin 1978, S. 19.

  22. Vgl. Georg Lind/Roland Wakenhut, Tests zur Erfassung der moralischen Urteilskompetenz, in: Georg Lind/Hans A. Hartmann/Roland Wakenhut (Hrsg.), Moralisches Urteilen und soziale Umwelt. Theoretische, methodologische und empirische Untersuchungen, Weinheim 1983, S. 59–80; Tilman Grammes, Kohlberg revisited I. Motive und Funktionen der kognitiven Moralentwicklungstheorie in der deutschsprachigen politischen Bildung (1974–1986), in: Sebastian Ihle/Ingo Juchler (Hrsg.), Ethische Grundlagen politischer Bildung, Frankfurt/M. 2025, S. 193–203.

  23. Vorschlag für ein Projekt zur Förderung der moralisch-demokratischen Urteilskompetenz in der Schule, in: Georg Lind/Jürgen Raschert (Hrsg.), Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg über Moral, Erziehung und Demokratie, Weinheim 1987, S. 111–115, hier S. 114; Peter Dobbelstein-Osthoff (Hrsg.), Schule und Werteerziehung: ein Werkstattbericht. Erfahrungen und Materialien aus dem Modellversuch des Landes Nordrhein-Westfalen „Demokratie und Erziehung in der Schule – Förderung moralisch-demokratischer Urteilsfähigkeit“, Soest 1991; Phillip Wagner, Umkämpfte Werte. Politische Bildung und die bedrohte Demokratie im Westdeutschland der 1970er- und 1980er-Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9–10/2020, S. 537–554.

  24. Vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 277–290.

  25. Vgl. dazu nur aus kritischer Perspektive: „Darmstädter Appell“. Aufruf zur Reform der politischen Bildung in der Schule, in: APuZ 47/1996, S. 34–38.

  26. Vgl. Wolfgang Sander, Kompetenzorientierung als Forschungs- und Konfliktfeld der Didaktik der politischen Bildung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch politische Bildung, Bonn 2014, S. 122–132.

  27. Zit. nach Henning Schluß, Lehrplanentwicklung in den neuen Ländern. Nachholende Modernisierung oder reflexive Transformation?, Schwalbach/Ts. 2003, S. 106, S. 112. Vgl. auch Sigrid Biskupek, Transformationsprozesse in der politischen Bildung. Von der Staatsbürgerkunde in der DDR zum Politikunterricht in den neuen Ländern, Schwalbach/Ts. 2003, S. 188–193. Zur Kompetenztheorie als Optimierungslehre vgl. Andreas Gelhard, Kritik der Kompetenz, Zürich 2012.

  28. Vgl. Ther (Anm. 24), S. 277.

  29. Vgl. Wolfgang Sander, 1. Entwurf zu „Kompetenzen“, 23.7.2000, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Duisburg, NW 1486, Nr. 193; Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Rahmenvorgabe Politische Bildung, Düsseldorf 2001, S. 16–18, S. 24, S. 36.

  30. Vgl. Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (Hrsg.), Anforderungen an nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf, Schwalbach/Ts. 2004, S. 9.

  31. Vgl. Sander (Anm. 26), S. 126–130.

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ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.