Ob mit einer „Verfassungsviertelstunde“, einem „Wahlfach Mitbestimmung“ oder einem Gesamtkonzept für die „Demokratieerziehung“: Wie die Schulen auf den Aufstieg des Populismus und die vermeintliche Krise der Demokratie reagieren sollen, ist umstritten.
Im Folgenden wird die Geschichte der Regulierung demokratischen Denkens und Handelns in der Bundesrepublik Deutschland in groben Zügen nachgezeichnet. Dabei geht es weniger um die Debatten in der Weimarer Republik oder der frühen Bundesrepublik, sondern vielmehr um die Frage, wie junge Menschen nach der Chiffre „1968“ vor allem durch den sozial- und politikwissenschaftlichen Unterricht zu demokratischem Denken und Handeln erzogen werden sollten.
Die Deutung der bundesdeutschen Demokratie- und Erziehungsgeschichte nach 1968 ist unklar: Einerseits wird argumentiert, dass Schulen in den 1960er und 1970er Jahren eine wichtige Rolle dabei spielten, demokratisches Denken und Handeln bei jungen Menschen einzuüben. In diesen Arbeiten wird aufgezeigt, wie der Jugendprotest um 1968 zur Abschaffung der Zensur von Schülerzeitungen, zur Einrichtung von Schülervertretungen und zum Ausbau des Sozialkunde- und Politikunterrichts beitrug.
In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, den Deutungswiderspruch zu überwinden. Die These lautet: In der bundesdeutschen Demokratie waren nach 1968 Befreiungsansprüche untrennbar mit Kontrollimperativen verbunden. Politik und Wissenschaft waren der Ansicht, Jugendliche durch die Rezeption humanwissenschaftlicher Theorien gezielt zu demokratischem Denken und Handeln anleiten zu können. Ihre Initiativen zur Steuerung der kognitiven und habituellen Grundlagen der Demokratie blieben jedoch stets umstritten und riefen Gegenbewegungen hervor.
Zunächst wird die Debatte um die Lenkung von Emanzipation in sozialdemokratischen und linksliberalen Kreisen im Jahrzehnt nach 1968 beleuchtet. Anschließend wird aufgezeigt, wie liberalkonservative und linksliberale Kräfte in den 1970er und 1980er Jahren versuchten, ein demokratisch-moralisches Denken zu fördern. Abschließend wird die Frage diskutiert, warum im Jahrzehnt nach der deutschen Wiedervereinigung das Konzept der Selbstoptimierung demokratischer „Kompetenzen“ in die Klassenzimmer Einzug hielt. Im Mittelpunkt dieser Diskussion stehen die bundesdeutschen Entwicklungen, ergänzend kommen Entwicklungen aus den Bundesländern dazu.
Doch was bedeutet demokratische Erziehung? Aus der Perspektive der poststrukturalistischen Demokratietheorie betrachte ich einerseits die Versuche von Staat, Politik und Wissenschaft, demokratische Einstellungen und Handlungsformen planvoll bei Jugendlichen hervorzubringen. Andererseits untersuche ich die eigensinnige Aneignung dieser Maßnahmen in der Gesellschaft.
Zur Emanzipation anleiten
Die Debatte um demokratische Erziehung begann nicht erst in den 1960er Jahren. Bereits in der Weimarer Republik versuchten liberale und sozialdemokratische Politiker und Pädagogen durch die Einführung von Schülerräten und die Konzeption einer Staatsbürgerkunde, die Jugend – letztlich erfolglos – auf die fragile Demokratie auszurichten.
Als Reaktion auf den Systemwettstreit mit der DDR und die Debatte über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus setzten Politik und Wissenschaft ab den späten 1950er Jahren das Schulfach Gemeinschaftskunde durch. Einerseits sollte vor allem den Jugendlichen an Gymnasien politisches Wissen vermittelt und eine demokratische Haltung eingeprägt werden, und sie sollten die Gelegenheit erhalten, sich in Schülermitverwaltungen und Schülerzeitungsredaktionen zu engagieren. Andererseits steckte die Bildungspolitik die Grenzen des Demokratischen deutlich ab, denn es ging ihr stets darum, die fragil erscheinenden Institutionen der Bundesrepublik primär gegenüber dem Kommunismus zu verteidigen.
Widersprüchliche Entwicklungen kennzeichneten auch die 1960er und frühen 1970er Jahre: Auf der einen Seite kamen aus der Jugend, aber auch aus Wissenschaft und Politik immer mehr Stimmen, die eine konsequentere Erziehung zur Demokratie forderten. Schülerinnen und Schüler, insbesondere an Gymnasien, kommentierten zunehmend unangepasst die Politik, forderten Mitsprache und setzten sich für eine Demokratisierung der Schule ein. Aus dem Jugendprotest um 1968 entstanden schließlich antiautoritäre, kommunistische und christdemokratische Schülerbewegungen.
Auf der anderen Seite versuchten Wissenschaft und Politik, demokratisches Denken und Handeln stärker als bisher zu kontrollieren. Während der 1960er Jahre verfielen große Teile der westdeutschen Öffentlichkeit in eine regelrechte „Planungseuphorie“, glaubten sie doch, Wirtschaft und Gesellschaft mithilfe der Sozialwissenschaften steuern zu können.
Vor allem in den sozialliberal regierten Bundesländern fanden diese ambivalenten Entwicklungen Niederschlag. Die Regierungen dieser Bundesländer beabsichtigten, die Jugend zur Konflikt- und Kritikfähigkeit, ja sogar zur Emanzipation zu erziehen. Hessen und Nordrhein-Westfalen waren in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben, wo mit den SPD-Politikern Ludwig von Friedeburg und Jürgen Girgensohn zwei Exponenten des linken Parteiflügels die Kultusministerien zu Beginn der 1970er Jahre leiteten.
Einhegen und kontrollieren
Liberale und Konservative interpretierten die Umbrüche nach 1968 dagegen als einen Verfall der Werte. Ihrer Meinung nach hatten der Jugendprotest, die sozialliberale Reformpolitik und die Entstehung alternativer Bewegungen zu einer Krise verbindlicher Normen geführt. Deshalb lancierte die CDU gemeinsam mit liberalkonservativen Intellektuellen und Elternvereinen in Hessen und Nordrhein-Westfalen beispielsweise erfolgreiche Kampagnen gegen die sozialliberale Reform der politik- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer.
Liberale Konservative versuchten, die Jugendlichen auf einen demokratischen Wertekanon festzulegen. So entwarfen Sozialwissenschaftler im Auftrag der Unionskultusminister eine Programmschrift, die bald scherzhaft als die „Gelbe Bibel“ bekannt wurde. In dieser Schrift argumentierten sie, dass der Unterricht zu einem Urteilsvermögen erziehen sollte, das sich an den „Grundwerten“ der Verfassung zu orientieren habe, zu denen sie die „Menschenwürde“, die „Grundrechte“ und das zwischen „Individualität“ und „Sozialität“ changierende „Menschenbild“ des Grundgesetzes zählten.
Demgegenüber wollten Konservative vermeintlich bedrohte Werte wiederaufrichten, um einem angeblich krisenhaften Pluralismus deutlichere Grenzen zu setzen. Im Schatten der linksterroristischen Anschläge durch die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) während des „Deutschen Herbstes“ 1977 riefen die Organisatoren der „Mut zur Erziehung“-Tagung von 1978 die Bundesrepublik dazu auf, ihr eigenes Wertesystem offensiv zu verteidigen und die „Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung“ wieder zur Grundlage der demokratischen Erziehung zu machen.
Linke und Liberale versuchten gegenüber den Konservativen, die Kultivierung eines moralischen Bewusstseins in den Dienst einer Ausweitung der Demokratie zu stellen und diese gleichzeitig bis ins Detail zu lenken. So argumentierte beispielsweise der Psychologe Marinus van IJzendoorn, dass ein an allgemeinen Prinzipien orientiertes moralisches Urteilen eine „freiere und gerechtere Organisation der Gesellschaft“ antizipieren könne.
Diese Ambivalenz kennzeichnete auch das wohl ambitionierteste linksliberale Vorhaben zur Förderung des moralischen Urteilens: das 1986 von der nordrhein-westfälischen Landesregierung entwickelte Projekt „Demokratie und Erziehung in der Schule“. Im Rahmen dessen sollten Schulen gemeinsam mit der Wissenschaft Modelle erarbeiten, um einerseits die „Festigung und Weiterentwicklung der Demokratie“ durch Steigerung des Urteilsniveaus zu fördern und andererseits Kohlbergs Konzepte und Instrumente an die westdeutsche Schule anzupassen, um somit die Ausbildung der Urteilskraft zu ermöglichen.
Zur Optimierung führen
In den 1990er Jahren verschoben sich die Gewichte in der Debatte über demokratische Erziehung. Erstens forderten Politik und Wirtschaft verstärkt mehr Produktivität. Die deutsche Vereinigung hatte zu einer tiefen Krise des Wirtschafts- und Sozialsystems geführt, von der Mitte der 1990er Jahre das gesamte Bundesgebiet betroffen war. Deshalb appellierten führende Stimmen nun an die Gesellschaft, die Leistungsfähigkeit stärker als bisher zu steigern.
In dieser Krise entdeckten die Sozialwissenschaften das Konzept der Kompetenz als neues Leitbild. Es schien, als könne es eine kontinuierliche Steigerung demokratischer Fähigkeiten anregen. Seit den frühen 1990er Jahren wurde über verschiedene Kompetenzmodelle debattiert.
Diese Steuerungslehren blieben nicht auf die östlichen Bundesländer beschränkt. Vielmehr lässt sich ebenso wie in der Sozialpolitik eine „Ko-Transformation“ von Ost und West beobachten.
Kurz nach der Einführung der nordrhein-westfälischen Rahmenvorgabe verstärkte der sogenannte PISA-Schock die Rufe nach einer konsequenteren Vermittlung demokratischer Kompetenzen. Nach dem schlechten Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler im PISA-Test beschloss die Kultusministerkonferenz im Juni 2002 die Einführung gemeinsamer Bildungsstandards und beauftragte das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung damit, einen Entwurf dieser Standards vorzulegen. Das Institut erarbeitete daraufhin erstmals im deutschsprachigen Raum ein Kompetenzmodell als test- und trainingsgestützte Optimierungstechnik, die eine bessere Anpassung an die Anforderungen in Alltag, Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen sollte. Als Reaktion darauf publizierte die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung 2004 einen Entwurf für nationale Bildungsstandards im Politikunterricht. Darin plädierte sie für die Förderung politischer, gesellschaftlicher und erstmals auch explizit wirtschaftlicher Kompetenzen.
Fazit
Es wäre zu simpel, zu behaupten, dass Schulen nach 1968 zu einem immer partizipativeren Konzept von Demokratie beitrugen. Zweifellos wollten Bildungspolitik und Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund des Jugendprotests ein erweitertes Demokratieverständnis in die Klassenräume tragen. Doch ebenso knüpften sie an behavioristische Lerntheorien an und versuchten, die Anleitung zum demokratischen Denken und Handeln akribisch zu kontrollieren. Diese Konzepte blieben in den 1970er Jahren umstritten. Vor allem Stimmen aus dem Umfeld der Unionsparteien sahen in ihnen einen Angriff auf die moralischen Pfeiler der Demokratie. Sie entwickelten teils liberale, teils konservative Konzepte zur Stärkung angeblich bedrohter „Grundwerte“ und „Tugenden“, um den demokratischen Pluralismus einzuhegen. Als Reaktion darauf entwarfen sozialdemokratische und linksliberale Kreise psychologisch fundierte Konzepte zur Stärkung der moralischen Urteilskraft. Diese sollten die Demokratisierung der Lebenswelt fortführen, jedoch den Lernweg ebenfalls minutiös anleiten. Auch die Debatte um demokratische „Kompetenzen“ im Zuge der Krise nach 1989/90 war von derselben Ambivalenz gekennzeichnet. Politik und Sozialwissenschaften schufen Konzepte, um einerseits demokratische Fähigkeiten zu stimulieren und andererseits Jugendliche zur kontinuierlichen Optimierung ihres politischen Denkens und Verhaltens anzuleiten.
Der Blick auf diese Erziehungsprogramme zeigt, dass nach 1968 stets umstrittene Befreiungsansprüche und Kontrollimperative die bundesdeutsche Demokratie prägten. Er verdeutlicht, in welchen Kontinuitätslinien aktuelle Debatten um Verfassungsviertelstunden, Mitbestimmungsfächer oder Demokratieerziehungskonzepte stehen.