Der Ansatz der evolutionären Anthropologie besagt, dass unser Körperbau und unser Verhalten die Stammesgeschichte der Spezies Homo sapiens widerspiegeln.
Eine wachsende Zahl von Kritikern ist der Meinung, dass dieses Verständnis auf unzutreffenden Grundgedanken basiert. Die Liste der nachfolgend zu behandelnden Einwände ist lang: So sei der Begriff „Bindung“ diffus und schlecht definiert und seine Ableitung aus der biologischen Instinkttheorie und der Affenforschung evolutionstheoretisch überholt. Das Konzept der „maternalen Monotropie“ führe zu einer Re-Moralisierung von Mutterschaft und konservativer Sozialpolitik. Statt einer Mutter-Kind-Dyade, also einer Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind, seien multiple Beziehungen möglich. Das Experiment der „Fremden Situation“ als empirischer Stütze sei methodisch bedenklich. Die Behauptung universeller Gültigkeit und Normativität sei nicht haltbar. Das Bindungskonzept reflektiere lediglich individualistische, westliche Sozialisationsnormen, die auf 90 Prozent der Weltbevölkerung nicht zutreffen. Es sei nicht nur kulturell blind, sondern auch unfähig, eine zunehmend diverse Landschaft von Kindheitserfahrungen zu erfassen, wie sie aus nicht-heterosexuellen Partnerschaften entstehen. Und nicht zuletzt überfordere insbesondere in Deutschland die Forderung nach kindlicher Bindung an eine erwachsene Bezugsperson das Personal von Kindertagesstätten.
Der immanente Konservatismus der Bindungstheorie, so die evolutionäre Sicht, verkennt die biologisch gewordene Variabilität des kindlichen Aufwachsens. Das mag jene verblüffen, die gerne „biologischen Determinismus“ wittern. Die zeitgenössische Anthropologie betont jedoch das Gegenteil: Wie andere Primaten sind auch Menschen flexibel hinsichtlich der Möglichkeiten, Kinder in die Welt zu setzen und sie gesund zu betreuen und zu erziehen.
Mütter: nicht Theken, sondern Häfen
Die Bindungstheorie (attachment theory) wurde ab den 1950er Jahren vom britischen Psychiater John Bowlby (1907–1990) entwickelt.
Bowlby sah Kinder jedoch nicht durch Hunger oder unbewusste Fantasien gesteuert, sondern als aktive Sender von Signalen (Weinen, Lächeln, Anklammern) mit einem eigenständigen Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit. Die Mutter-Kind-Beziehung kommt demnach nicht über eine Art Futterdressur zustande – zumal Bowlby feststellte, dass mit der Flasche ernährte Babys zufrieden sind, wenn die Mütter sich feinfühlig verhalten, während an der Brust gestillte Säuglinge gestresst wirken, wenn die Mütter zurückweisend agieren. Dies stand im Widerspruch zum damaligen pädagogischen Rat, Kinder nicht durch zu viel Körperkontakt zu „verweichlichen“.
Für Bowlby entstand Psychopathologie mithin aus Unsicherheit, speziell aus der Trennung von der Mutter oder inkonsistenter Fürsorge. Er sah sich durch Experimente von Harry Harlow (1905–1981) an Rhesusaffen bestätigt. Der US-amerikanische Psychologe trennte Säuglinge von ihren Müttern und bot ihnen stattdessen Attrappen an. Dabei zogen die Babys eine weiche „Stoffmutter“ einer „Drahtmutter“ vor, obwohl nur Letztere Milch spendete. Auch Harlow schlussfolgerte, dass mütterlicher Kontaktkomfort wichtiger ist als Füttern – zumal isolierte Individuen später sozial inkompetent waren. Bowlby lernte Rhesusaffen alsbald aus eigener Anschauung in einer Kolonie der Universität Cambridge kennen. Dabei fiel ihm auf, dass Mütter ihre Säuglinge restriktiv in ihrer Nähe behielten und dass Babys oft panisch auf eine Trennung reagierten.
Ein weiterer Baustein der Bindungstheorie ist die Instinkttheorie, ausgearbeitet von den Gründern der vergleichenden Ethologie, dem Niederländer Nikolaas Tinbergen (1907–1988) und dem Österreicher Konrad Lorenz (1903–1989). Gemäß ihrem psychohydraulischen Modell besitzen sowohl Tiere als auch Menschen einen angeborenen Kompass, der im Laufe der Evolution entstand und optimales Agieren in verschiedenen Lebensbereichen ermöglicht – etwa bei Nahrungsaufnahme, Aggressionen, Sexualität oder Aufzucht von Nachkommen. Diese Aktivitätsfelder werden von Instinkten gesteuert, als einer Reihe ineinandergreifender Mechanismen. Zunächst baut sich spontan ein innerer Erregungszustand auf (Handlungsbereitschaft), der ein Suchverhalten in Gang setzt (Appetenz). Sinneseinflüsse aus der Umgebung (Schlüsselreize) setzen anschließend eine Reaktion in Gang (angeborene Auslösemechanismen, AAM), die in artspezifisches Verhalten mündet (triebverzehrende Endhandlung). Beispielsweise führt Hunger zur Nahrungssuche, gefolgt vom befriedigenden Verzehr, oder sexuelle Erregung führt zu Interesse an Paarungspartnern und ermöglicht so die Reproduktion. Bei frisch geschlüpften Vögeln, etwa Gänseküken, führen AAMs zu einer irreversiblen Prägung auf das erste Wesen, das ihnen begegnet – ein überlebensfördernder Prozess, da die Küken normalerweise zunächst ihre Mutter sehen und ihr dann überallhin folgen. Erblicken die frisch Geschlüpften allerdings zuerst Konrad Lorenz, führt die Verankerung zu einer „Fehlprägung“: Sie watscheln den Gummistiefeln des Verhaltensforschers hinterher.
Entsprechend ist ein Kleinkind – ohne Input individueller Erfahrung – stammesgeschichtlich programmiert, die Nähe der Mutter zu suchen. So „gestillt“ erkundet es aus diesem „sicheren Hafen“ heraus die Umwelt – im Gegensatz zur psychoanalytischen Metapher von der „Mutter als Theke“. Umgekehrt fungiert das „Kindchenschema“ – großer Kopf, große Augen, hohe gewölbte Stirn, kleine Nase, tollpatschige Bewegungen – als Schlüsselreiz für Erwachsene, der Beschützerinstinkte auslöst.
Bowlby verwarf somit die psychoanalytische Idee des „Triebs“ als einer psychischen Energie, die in der Objektwahl offen und mit unbewussten Fantasien verwoben ist, wodurch sich individuell-kulturelles Verhalten erklären lässt. Stattdessen sah Bowlby „Instinkte“ als primäre Motivation: angeborene, biologisch festgelegte Programme, die zu artübergreifendem Verhalten führen, das Überleben und Fortpflanzung sichert.
Die fremde Situation
„Bindungsqualität“ wurde schließlich empirisch gemessen – durch die US-amerikanisch-kanadische Psychologin Mary Ainsworth (1913–99), einer ehemaligen Mitarbeiterin von Bowlby an der psychotherapeutisch ausgerichteten Tavistock Clinic in London. Sie entwarf in den 1970er Jahren den sogenannten Fremde-Situations-Test. Dazu betreten Mutter und Kind ein Wartezimmer mit Spielecke. Das Kind wird zum Spielen animiert. Kurz darauf kommt eine fremde Frau herein und beginnt ein Gespräch. Die Mutter verlässt den Raum, kehrt jedoch bald zurück. Daraufhin entfernen sich beide Frauen und lassen das Kind für etwa drei Minuten allein. Zunächst kommt die Unbekannte zurück, erst danach die Mutter. Den kindlichen Reaktionen beim Verlassenwerden und bei der Rückkehr der Mutter werden drei Typen zugeordnet:
Sicher gebunden: Das Kind zeigt beim Weggang der Mutter Kummer, unterbricht das Spiel und lässt sich bei ihrer Rückkehr rasch trösten. Interpretation: Das Kind vertraut auf die Bezugsperson, was zu einem ausgewogenen Wechselspiel zwischen Nähesuchen und Erkundung führt.
Unsicher-vermeidend: Das Kind reagiert bei der Trennung mit wenig Stress, ignoriert die zurückkehrende Mutter und wendet sich stattdessen dem Spiel oder einer fremden Person zu. Interpretation: Die Bezugsperson reagiert oft zurückweisend, weshalb das Kind die solitäre Exploration bevorzugt.
Unsicher-ambivalent: Das Kind ist bei Trennung stark beunruhigt und bei Rückkehr nur schwer zu beruhigen. Es sucht Nähe, zeigt aber gleichzeitig Ärger und Widerstand. Interpretation: Die Bezugsperson reagiert oft inkonsistent, was Unsicherheit schürt und das Erkundungsverhalten lähmt.
Obwohl sie nur auf Versuchen mit gut zwei Dutzend US-amerikanischen Mutter-Kind-Paaren beruhen, avancierten diese Kategorien zu einem globalen Standard.
Bindung – ein Wirrwarr
Spätestens seit den 1980er Jahren erwiesen sich die akademischen Fundamente der Bindungstheorie als wackelig.
Bezüglich der Bindung gibt es somit vielfältige und dehnbare Interpretationen. Trotzdem – oder gerade deswegen? – hat dies der Popularität der Bindungstheorie kaum geschadet. Anders verhält es sich mit der Instinkttheorie, die sich als unhaltbar zeigte und heute in der Verhaltensbiologie keine Rolle mehr spielt. Insbesondere erwiesen sich ihre Mechanismen (Handlungsbereitschaft, Appetenz, Schlüsselreize, AAM) als Postulate ohne physiologische Entsprechung und „Arterhaltung“ als falsche Prämisse für evolutive Auslese.
Die Instinkttheorie benötigt zudem die Annahme eines „Environment of Evolved Adaptedness“, also einer stabilen Umwelt mit gleichbleibendem Selektionsdruck, in der sich nützliche Anpassungen entwickeln können. Dies ist zumindest für Menschen unwahrscheinlich, da uniforme Blaupausen den verschiedenen Lebensräumen (Wüsten, Arktis, Regenwald, Meeresküsten, Hochgebirge) nicht gerecht werden können.
Der Affe – den gibt’s nicht
Auch Harlows Experimente, bei denen Affenbabys eine weiche „Stoffmutter“ einer milchspendenden „Drahtmutter“ vorzogen, gerieten in die Kritik. Einerseits gibt es kaum Gründe, warum Äffchen sich nach Abschluss der Milchaufnahme weiterhin an Drähte klammern sollten. Andererseits ist es kaum verwunderlich, wenn extrem deprivierte Primatenkinder später quasi-pathologisches Verhalten zeigen. Dies allein auf die Abwesenheit der Mutter zurückzuführen, ist versimpelnd – zumal weitere Forschungen zeigten, dass Beziehungen zu Gleichaltrigen die negativen Folgen abpuffern können.
Weitaus wichtiger ist die Erkenntnis, dass „der Affe“, also der oft in Labors gehaltene Rhesusmakake, kein geeignetes Modell für die Evolution des menschlichen Sozialverhaltens ist.
Bei den gemeinsam mit Rhesusaffen im gleichen Habitat lebenden Languren ist die Situation ganz anders. Diese Schlankaffen sind keine auf „geklumpte“ Nahrung spezialisierten Omnivoren, sondern blätteressende Folivoren. Da es sich nicht lohnt, relativ energiearme Blätter gegenüber Artgenossen zu verteidigen – sie wachsen sprichwörtlich „in den Mund“ –, ist die Dominanzhierarchie flach, und es bilden sich keine Clans. Entsprechend verbringen Säuglinge ab der Geburt etwa ein Drittel des Tages bei verschiedenen „Babysittern“, die sie herumtragen, pflegen und behüten. Sowohl Mütter als auch Neugeborene stimmen den Transfers offenbar freudig und jedenfalls ohne Protest zu.
Noch extremer ist „Baby-Sharing“ bei Krallenaffen, die Bowlby leider nicht rezipierte, da sie erst ab Anfang der 1990er Jahre in Cambridge gehalten wurden. Diese kleinwüchsigen südamerikanischen Primaten verkörpern ironischerweise die Metapher von der „Mutter als Theke“. Denn Säuglinge sind fast nur zum Stillen bei ihr und werden ansonsten von älteren Geschwistern, Vätern und weiteren Sexualpartnern der Mutter transportiert, gepflegt, geschützt und später auch gefüttert.
Hätte Bowlby Languren oder Krallenaffen beobachtet, wäre es nie zu seinem Monotropie-Modell gekommen. Es gibt jedenfalls nicht „den Affen“, der als Modell für Menschen tauglich wäre, da die Kinderbetreuung je nach sozioökologischen Umständen gänzlich anders geregelt ist. Auch diese Dimension der zwischenartlichen Varianz hat die Bindungstheorie nicht berücksichtigt.
Moralisierung der Mutterrolle
Flankiert von Instinktkonzepten und dem Fremde-Situations-Test rückte die Bindungstheorie eine einzelne Bezugsperson in den Mittelpunkt der frühkindlichen Entwicklung: die Mutter. Der Aufbau einer engen Beziehung zu ihr in der „kritischen Periode“ der ersten Lebensjahre ist laut dieser Theorie notwendig, da ansonsten emotionale Stabilität, Umwelterkundung und soziale Kompetenz beeinträchtigt werden können. Anhaltende Trennung, Vernachlässigung oder fehlende Feinfühligkeit summieren sich zu „mütterlicher Deprivation“. In der Folge sei die Entwicklung hinsichtlich Emotionen (Gefühlskälte, Angst, Aggression), kognitiver und sprachlicher Fähigkeiten gestört, was bis hin zu erhöhter Kriminalität führen könne, wie Bowlby in seiner Studie mit „44 jugendlichen Dieben“ zu zeigen glaubte.
Die Zentralthese der maternalen Monotropie wirkte sich auf soziopolitische Entscheidungen aus, die Frauen gemäß dem westlichen Familienbild der Nachkriegszeit eine Rolle im Haushalt zuwiesen.
Vor allem aber stärkte der Bericht vielerorts eine konservative Familienpolitik. Nicht nur in Bowlbys Heimat Großbritannien, sondern auch in Westdeutschland dominierte bis in die 1980er Jahre das Leitbild der „Hausfrauenehe“. Bis 1977 im Bürgerlichen Gesetzbuch gesetzlich verankert, durfte eine Ehefrau nur mit ausdrücklicher Erlaubnis ihres Mannes arbeiten, sofern dies „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war. Berufstätige Frauen wurden oftmals als „Rabenmütter“ kritisiert und ihr Nachwuchs als „gefährdet“ angesehen. Entsprechend sollten Kinder unter drei Jahren möglichst nicht fremdbetreut werden. Der Krippenausbau wurde gebremst, um eine Deprivation durch außerfamiliäre Pflege zu verhindern. Die Präferenz für „mütterliche Fürsorge“ wirkte sich auch familienpolitisch bezüglich Kindergeld oder Erziehungsurlaub aus.
Die maternale Monotropie-Doktrin wurde indes ab den 1970er Jahren dahingehend revidiert, dass auch andere Personen eine zentrale Rolle einnehmen können, beispielsweise Väter, Großeltern, Geschwister, Pflege- oder Adoptiveltern. In Skandinavien wurden Mütter ohnehin nicht aus der Arbeitswelt gedrängt, stattdessen wurden eine hohe Betreuungsqualität und Elternurlaub gefördert. In der DDR galt die Erwerbstätigkeit von Müttern als selbstverständlich, und es gab eine flächendeckende Kinderbetreuung ab dem dritten Lebensmonat. In der Bundesrepublik galt Arbeitsfreistellung zur Kindererziehung zunächst allein für Mütter. Erst 1986 wurde „Erziehungsurlaub” auch für Väter ermöglicht.
Dass die Bindungstheorie trotz substanzieller Defizite gleichwohl kaum an Popularität eingebüßt hat und zumindest implizit eine „Kernfamilie“ aus Mutter, Vater und Kind protegiert wird, zeigt sich unter anderem in umstrittenen Maßnahmen wie dem staatlichen Betreuungsgeld, das zwischen 2013 und 2015 einen finanziellen Anreiz für die Nicht-Inanspruchnahme institutioneller Betreuung bot („Herdprämie“). So erscheint „die Abkehr von der Monotropieannahme nicht mehr zu sein als ein Lippenbekenntnis“.
Kulturelle Blindheit
Eine weitere Dekonstruktion der attachment theory rückt die fehlende Dimension der angesprochenen intraspezifischen Varianz in den Fokus. Denn wie die Instinkttheorie fälschlicherweise behauptet, die Evolution würde eine eng umrissene „beste Lösung“ hervorbringen, die allen Mitgliedern einer Art als angeborenes Programm zur Verfügung steht, postuliert die Bindungstheorie einen optimalen Modus der Kinderaufzucht.
Diese Universalitätsannahme ist geprägt von Menschenbildern der Mittelschicht westlicher Nachkriegsgesellschaften, und sie verkennt, dass 90 Prozent der Weltbevölkerung nicht in WEIRD-Gesellschaften leben (Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic).
Dies erscheint wie die Fortsetzung jener 99 Prozent unserer Stammesgeschichte, in denen Menschen in kleinen Verwandtschaftsgruppen lebten. Dies belegen Studien an anhaltend existierenden Sammler-Jäger-Gemeinschaften – beispielsweise den Aka in Zentralafrika, den Agta auf den Philippinen, den Trobriander im südlichen Pazifik und den Ache in Paraguay. In diesen Gemeinschaften werden Säuglinge mitunter sogar von anderen Frauen als der Mutter gestillt. Solche Systeme kooperativer Brutpflege finden sich auch bei Tieren, beispielsweise bei Erdmännchen, Wildhunden, Floridahähern oder den bereits erwähnten Krallenaffen. Die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy hat diese parallelen Ausbildungen unter dem Motto „Mothers and Others“ vergleichend beschrieben – eine traditionelle Vielfalt, die heute ergänzt wird durch eine zunehmend diverse Landschaft von Betreuungsmustern gleichgeschlechtlicher Paare oder nicht-binärer Reproduktionsgemeinschaften.
Die Bindungstheorie versteht Säuglinge darüber hinaus als „intentionale Wesen“ – eine Sichtweise, die dem westlichen Individualismus geschuldet ist. In anderen Kulturkreisen wird hingegen Kollektivismus gefördert, bei dem Pflicht, Solidarität und Harmonie Vorrang vor individuellen Wünschen haben. Dass Kinder über ihre Zugehörigkeit definiert werden, kann zu Konflikten mit westlichen Werten wie Autonomie, Wettbewerb und persönlicher Leistung führen. Gleichwohl ist dieser Multikulturalismus Realität, auch in Deutschland, wo fast ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat, weil mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzt oder besaß.
Vor dem Hintergrund des Fremde-Situations-Tests werden gleichwohl viele dieser nicht auf ihre Mutter fixierten Kinder als „unsicher gebunden“ klassifiziert – oder schlicht, weil sie kein Interesse am erkundenden Objektspiel haben, was für kollektivistisch geprägte Sozialisationen nebensächlich ist.
Praktische Konsequenzen
In Deutschland besteht seit 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab dem ersten Lebensjahr. Die Quoten sind seither beständig gestiegen. Heute besuchen etwa 40 Prozent der Unter-Dreijährigen eine solche Einrichtung. Der Anteil steigt bei Drei- bis Sechsjährigen auf fast 95 Prozent. Rund 61000 Kitas betreuen somit nahezu vier Millionen Kinder – etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung.
Während zunächst Mütter für kindliche Entwicklungsergebnisse verantwortlich gemacht wurden, rückt nun das Personal von Kitas in den Blickwinkel – zumal es zu 92 Prozent aus Frauen besteht. Gemäß der maternalen Doktrin der Bindungstheorie wird diesem Klientel wenig unterschwellig eine Quasi-Mutterrolle aufgedrängt. Daran ändern auch „neutrale“ Formulierungen nichts. So stehen Betreuer(innen) unter Druck, permanent präsent zu sein, speziell in der Phase der Eingewöhnung – was die Maxime „ohne Bindung keine Bildung“ weiter verschärft.
„Gute“ Kitas wollen eine allmähliche Eingewöhnung ermöglichen, wobei fast immer eine Erzieherin als neue Hauptbindungsperson fungiert. Gemäß den Kategorien des Fremde-Situations-Tests müssten „sicher gebundene“ Kinder eine längere Akklimatisierungszeit benötigen, während „unsicher gebundene“ Kinder eher gleichgültig hinsichtlich ihres Aufenthaltsortes sind. Paradoxerweise soll im Fremde-Situations-Test allerdings durch experimentellen Stress die Bindungsqualität gemessen werden, wohingegen eine Trennung während der Eingewöhnung das Kind mit der Kita sanft und „stressfrei“ vertraut machen soll – ein offenbarer Widerspruch.
Viel zu wenig wird hingegen berücksichtigt, dass die Kindergruppen selbst wesentliche Sozialisationsagenten sind. Von dieser Möglichkeit könnte vor allem das Viertel aller Kinder in Deutschland profitieren, das keine Geschwister hat. Zwar gelten derlei Konstellationen gemäß dem Fremde-Situations-Test als Vernachlässigung des Kindeswohls. Gleichwohl bestünde die Chance, dass Pädagogen Gruppensituationen moderieren, statt sich auf einzelne Kinder zu konzentrieren. Das paternalistische Konzept des „Schutzraums Kindheit“ mit seinen Rechten würde so um einen Erfahrungsraum ergänzt, in dem Kinder selbst – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – Aufgaben und Verantwortlichkeiten entdecken können.
John Bowlby erkannte die Bedeutung frühkindlicher Beziehungen für eine intakte Lebensführung.