Viele Menschen sorgen sich angesichts multipler Krisen und Herausforderungen um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Während die Demokratie als Staatsform nach wie vor hohe Zustimmung erfährt, ist nur jeder und jede Dritte mit dem derzeitigen Zustand von Demokratie und Gesellschaft zufrieden. In einer repräsentativen Studie von ARD, ZDF und Deutschlandradio stimmten jüngst rund drei Viertel der Befragten der Aussage zu, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet sei. Fast ebenso viele teilen die Sorge, dass die Gesellschaft "immer mehr auseinanderfällt", und finden, dass soziale Ungleichheiten in Deutschland so groß sind, dass sie den Zusammenhalt gefährden. Dass kulturelle Unterschiede dem Zusammenhalt schaden, meinen 40 Prozent.
Dabei ist gar nicht so eindeutig, was genau unter "gesellschaftlichem Zusammenhalt" zu verstehen ist. Der Begriff als solcher ist relativ unbestimmt – und nicht zuletzt deshalb Gegenstand politischer Auseinandersetzungen, gesellschaftlicher Debatten und wissenschaftlicher Forschung. Seine Unbestimmtheit macht ihn nicht nur für Demokratien, sondern auch für autoritäre Herrschaftsformen interessant: Wer den Zusammenhalt beschwört, bekämpft damit mitunter auch Abweichungen von der Norm, andere Ideen eines guten Lebens oder alternative Gesellschaftsvorstellungen. Wie genau man gesellschaftlichen Zusammenhalt fasst und auf welchen Ideen, Normen und Verfahren er beruht, ist also keineswegs irrelevant.
Für plurale Gesellschaften scheint klar zu sein, dass sich Zusammenhalt nicht mehr auf traditionelle, vorpolitische Quellen gemeinsamer Identität wie geteilte kulturelle oder religiöse Prägungen stützen kann. Stattdessen verspricht die moderne Demokratie, Zusammenhalt über ein simples, aber ebenso voraussetzungsvolles wie folgenreiches Prinzip herzustellen: die freie Selbstregierung gleicher Bürgerinnen und Bürger. Voraussetzungsvoll ist es, weil es die Anerkennung der Gleichheit aller Mitbürgerinnen und Mitbürger verlangt und darauf vertrauen muss, dass die Leistungen des demokratischen Systems, die Fairness seiner Verfahren und die Erfahrung von gleicher Partizipation genügen, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Folgenreich ist es, weil es uns allen die Verantwortung für das Gelingen der Demokratie auferlegt.