Gemeinsinn ist kein Fremdwort, kein Schlagwort, kein Fachterminus. Der Begriff ist transparent und unmittelbar verständlich. Was man ihm allerdings nicht unbedingt ansieht: Er hat eine lange und ehrwürdige Tradition. Aristoteles hat ihn geprägt; er sprach von „koine aisthesis“, was wörtlich „gemeinsame Wahrnehmung“ bedeutet. Diese gemeinsame Wahrnehmung kann man sich als einen sechsten Sinn vorstellen, der unsere fünf Sinne, also die Nahsinne Riechen, Schmecken, Fühlen und die Fernsinne Sehen und Hören, zu einer gemeinsamen mentalen Wahrnehmung zusammenfügt.
Darüber hinaus kann man sich den Gemeinsinn auch als einen sozialen Sinn vorstellen, lateinisch „sensus communis“, abgeleitet davon „common sense“ oder „gesunder Menschenverstand“, der uns mit anderen Menschen verbindet. Es ist wichtig zu betonen, dass wir es hier nicht mit einem abstrakten Begriff oder einer Tugend zu tun haben, sondern mit einem Sinn, der jedem Menschen mitgegeben ist und der zur menschlichen Ausstattung gehört. Die Frage ist nur, was wir mit ihm anfangen, wie wir ihn bewerten und was wir aus ihm machen. Dieser Begriff war nie verschwunden oder vergessen. Und dennoch bot sich Jan Assmann und mir die Möglichkeit, ihn wiederzuentdecken, neu aufzubereiten und damit auch zu aktualisieren: gewissermaßen ein altes Erbstück unserer Geschichte, das wir abgestaubt und neu erschlossen haben.
Als wir im März 2020 einen Arbeitskreis zu diesem Thema an der Universität Konstanz gründeten, passierten zwei Dinge. Erstens begann die Covid-19-Pandemie mit ihren gravierenden Einschränkungen für das menschliche Zusammenleben, und zweitens wurden mit Geldern vom Bundesministerium für Bildung und Forschung elf Institute für „Gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gegründet, eines davon an der Universität Konstanz. Diese auf den prekären Zustand der Gesellschaft ausgerichtete Perspektive wollten wir mit dem Gemeinsinn-Begriff ergänzen, der vom Einzelnen ausgeht und den Menschen sowie die Kultur, in der er lebt, genauer in den Blick nimmt.
Der Begriff „Gemeinsinn“ erwies sich als ein Impuls, der uns auf einen unbekannten Weg lockte. Da wir für dieses Thema keine grundständige Kompetenz hatten, mussten wir uns ihm gemeinsam tastend annähern. Das Experiment vollzog sich in der Form eines intensiven Studiums und Dialogs. Er führte uns zu unseren eigenen kulturellen Grundlagen zurück und erlaubte uns dabei auch Blicke auf das, was in dieser Tradition unterschätzt und vernachlässigt wurde. Die folgenden Denkanstöße zum Thema Gemeinsinn haben alle einen gemeinsamen Fokus: den aktuellen Zustand der Demokratie. Denn für deren Erhalt, so unsere These, bedarf es einer politischen Kultur des Gemeinsinns, für die die Bürgerinnen und Bürger eine Mitverantwortung tragen.
Ich und Wir
Gegenwärtig haben Bücher Konjunktur, in deren Titel Worte wie „Zusammenleben“, „Zusammensein“ oder „Zusammenhalt“ stehen. Viele stützen sich dabei auf die Pronomina „Ich“ und „Wir“ und verbinden dies mit der Grundfrage, wie man „vom Ich zum Wir“ kommt. Ganz so einfach ist es aber nicht, wie wir feststellen mussten. Denn beide Begriffe sind unentbehrlich, und wir dürfen sie auf keinen Fall in einen Gegensatz zueinander bringen, sondern müssen vielmehr darüber nachdenken, wie wir sie sinnvoll miteinander verbinden können.
Es ist keine Frage, dass das „Ich“ in den westlichen Kulturen eine beispiellose Schlüsselrolle gespielt hat, die es in anderen Kulturen so nicht gibt. Ja, man kann die Entwicklung der gesamten westlichen Kultur geradezu in einem Satz zusammenfassen, welcher lautet: „Das befreite Ich war die treibende Kraft der Moderne.“
Dieses „befreite Ich“ der westlichen Geschichte wollen wir nicht aufgeben. Und wir wissen auch, dass das „Wir“ nicht immer die Lösung ist. Nationen können einen kollektiven Egoismus ausbilden, der auf Feindbilder gegründet ist und, wie die Geschichte zeigt, in Kriege münden kann. In sozialistischen Staaten und zum Teil auch in fernöstlichen Kulturen dominieren kollektivistische Gesellschaftsvorstellungen, in denen das Wir nicht nur über das Ich gestellt, sondern dieses Ich auch entsprechend umerzogen, angepasst und zum Verschwinden gebracht wird. Der Inbegriff eines destruktiven Wir-Phantasmas war die „deutsche Volksgemeinschaft“ im NS-Staat, die sich explizit auf den Gemeinsinn berief, um damit die Rechte und Freiheiten der Menschen als Individuen auszulöschen.
Was „Ich“, „Wir“ oder „Gemeinsinn“ jeweils bedeuten und wie sich diese Worte zueinander verhalten, steht nicht von vornherein fest, sondern muss in jedem Kontext genau geklärt und beantwortet werden. Hinzu kommen Empfindlichkeiten durch Geschichtserfahrungen, die von Generation zu Generation nachwirken. In der deutschen Nachkriegsgeneration etwa war jegliches nationale Wirgefühl verpönt. Auch in Österreich fällt das „Wir-Sagen“ in dieser Generation schwer. Der österreichische Dichter Michael Köhlmeier, der ein Buch mit dem Titel „Wenn ich wir sage“ geschrieben hat,
Gleichwohl wäre es ein Irrweg, die beiden Worte „Ich“ und „Wir“ als einen absoluten Gegensatz zu verstehen. Solche „Zwangsalternativen“ werden in politischen Debatten eingesetzt, um Emotionen zu verstärken und Gegenargumente auszuhebeln. Im Zeitalter digitaler Medien ist die Gefahr solcher Zwangsalternativen vollends sichtbar geworden. Wir erleben gerade, wie verkürztes Denken und emotional aufgeladene „Triggerbegriffe“ Polarisierung fördern und Gesellschaften spalten und zerstören können. Die Kultur der Sprache und Kommunikation hat für das Gemeinwesen deshalb eine ganz neue Bedeutung gewonnen – sowohl, was das Ethos der Wahrheit betrifft, als auch, was die Besinnung auf gemeinsame Überzeugungen angeht, die verbinden und nicht aufgekündigt werden dürfen.
Mit anderen Worten: Das „Ich“ muss im „Wir“ seinen Platz finden – und das heißt: anerkannt und bestätigt werden –, wenn das „Wir“ nicht autoritär oder totalitär werden soll. Die ich-stärkenden Grundrechte bilden mit gutem Grund den Kern unserer Verfassung, aber das schließt nicht aus, dass Menschen in kleinen und großen Gruppen leben, denen sie angehören und sich zugehörig fühlen, in die sie hineinwachsen und in die sie auch neu Hinzugekommene integrieren. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass diese Identitäten nicht abgeschlossen und ausgrenzend sind, sondern offen bleiben gegenüber anderen, die dazugehören wollen und die Wir-Gruppe damit auch verändern.
Unserer Verfassung geht ein berühmter Grundsatz voran, der ihr von den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes mitgegeben wurde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Durch diesen Satz unterscheidet sich die Verfassung der Bundesrepublik von allen vorherigen deutschen Verfassungen. Mit ihm ist die Erfahrung von Auschwitz in unser Grundgesetz eingeschrieben, denn er bedeutet konkret: Die Würde des Menschen darf nie wieder angetastet werden. Diese Würde ist aber kein Menschenrecht; sie ist nicht einklagbar. Und das wiederum bedeutet: Wir schulden sie uns gegenseitig als Menschen unter Mitmenschen. Der Satz richtet sich deshalb nicht nur an die Organe des Staates, sondern auch an die Menschen in der Gesellschaft. Es geht dabei nicht nur um Bürger, es geht darüber hinaus auch um den oder die Anderen, für deren Ergehen wir als Mitglieder der Gesellschaft mitverantwortlich sind.
Menschenrechte und Menschenpflichten
Diese Verschränkung von Ich und Wir kommt in der Doppelung von Menschenrechten und Menschenpflichten zum Ausdruck. Während die Menschenrechte in die Verfassung aller Demokratien eingegangen sind, wissen wir bisher wenig über die Menschenpflichten. Wer sich den ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 anschaut, findet dort eigentlich kein Menschenrecht, sondern eher eine Menschenpflicht: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Während die Menschenrechte Ansprüche formulieren, erinnern uns Menschenpflichten an unsere Aufgaben als Mitmenschen in der Gesellschaft. Es geht dabei um gegenseitige Achtung und Fürsorge sowie um Formen eines respektvollen Umgangs. Auf keinen Fall aber dürfen wir die Menschenrechte gegen die Menschenpflichten ausspielen, denn beide sind aufeinander angewiesen und ergänzen sich gegenseitig. Die 19 Artikel der „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“ wurden 1997 zum 50. Jahrestag der Menschenrechtserklärung auf Initiative des „InterAction Council“ ins Leben gerufen.
Menschenpflichten haben eine andere Herkunft als Menschenrechte. Sie gehen nicht auf westliche, männliche Philosophen der Neuzeit zurück, sondern sind ein Gemeingut der Menschheit, das bis ins 2. Jahrtausend vor Christus zurückreicht und in allen Kulturen der Welt unter dem Begriff der „Weisheit“ weitergegeben wurde. Die Menschenpflichten und ihre Regeln zielen darauf ab, den verbindenden sozialen Sinn für Gegenseitigkeit und Gerechtigkeit zu stärken. Sie achten dabei sehr genau auf problematische Handlungsfolgen, um nachhaltigere Lösungen zu finden. Denn weisheitliches Denken ist primär darauf ausgerichtet, Gewalt einzudämmen und Gier zu zähmen – und deshalb eine wichtige Ergänzung zur westlichen Kultur der Selbststeigerung und Selbstoptimierung.
Die Menschenpflichten sind ein uraltes Erbe der Menschheit, das in allen alten Kulturen hochgeschätzt wurde und auch in die hebräische und christliche Bibel eingegangen ist. Westen und Osten bildeten in der Wertschätzung der Weisheit eine jahrtausendealte Einheit. Das Ethos der Weisheit ist im Grundsatz der „goldenen Regel“ zusammengefasst, die überall auf der Welt anerkannt und geschätzt wird. Auch in unserer Welt hat sie jedes Kind schon einmal gehört, ohne zu wissen, wann und wo: „Was Du nicht willst, das man Dir tu…“ Jeder und jede weiß, wie dieser Satz weitergeht.
Das Böckenförde-Diktum
Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat 1964 – mitten in der ruhigen, katholisch regierten Adenauerzeit – ein Statement formuliert, das bis heute für produktive geistige Unruhe sorgt. Ich erinnere mich noch gut an diese Zeit, in der viel vom „christlichen Abendland“ die Rede war. Diese Formel war damals beliebt, weil mit ihr, nach der NS-Diktatur, die Europa mit einer Sklavenherrschaft überzogen hatte, der imperiale Traum ungebrochen fortgesetzt werden konnte. Zugleich gab es Mitte der 1960er Jahre aber auch neue Aufbrüche in Richtung „Modernisierung“, ein Beispiel ist etwa meine Universität Konstanz, die 1966 gegründet wurde. Zusammen mit Modernisierung stand damals das Thema „Säkularisierung“ auf der Agenda, zu dem Böckenförde wichtige Beiträge geleistet hat. Er war ein konservativer, aber nicht rückwärtsgewandter Katholik, der viel über die Fragen der Gegenwart und der Zukunft nachdachte. Böckenfördes „Diktum“ wird bis heute immer wieder zitiert. Es lautet: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
Böckenförde machte aber nicht nur auf diese Lücke im System der Demokratie aufmerksam, sondern er machte sich auch Gedanken darüber, wie die Lücke gefüllt werden könnte. In seinen Schriften und Interviews tauchen immer wieder Bezüge auf den Gemeinsinn auf: „Nicht nur religiöse, auch weltanschauliche, politische oder soziale Bewegungen können den Gemeinsinn der Bevölkerung und die Bereitschaft fördern, nicht stets rücksichtslos nur auf den eigenen Vorteil zu schauen, vielmehr gemeinschaftsorientiert und solidarisch zu handeln“, so Böckenförde.
Diesen Gedanken haben wir in unserem Buch zum Anlass genommen, weiter über diese Leerstelle nachzudenken. Tut man dies, gewinnt man schnell die Einsicht, dass die Demokratie nicht nur auf einer Säule ruht, sondern mindestens auf zweien. Die eine Säule ist der Rechtsstaat mit seiner Verfassung, die andere ist die Gesellschaft mit dem Ethos des Gemeinsinns. Böckenförde sprach seinerzeit von einem Nationalgefühl, das Zugehörigkeit und Teilhabe ermöglichen könne, aber auch Raum bieten müsse für Veränderungen. Dabei hatte er die Anzeichen einer Transformation der Gesellschaft in Richtung zunehmender Vielfalt durch Migration bereits deutlich im Blick. Gefragt nach der Rolle des Islam im säkularisierten Staat, antwortete er: „Integration setzt ein Lebenkönnen aus den eigenen Wurzeln voraus. Von generellen Kopftuchverboten im öffentlichen Dienst halte ich deshalb nichts.“
Kürzlich ist ein Buch erschienen, das, völlig unabhängig von Böckenförde, diesen Gedanken der Lücke in der Demokratie und wie sie zu füllen sei weitergedacht hat. Es stammt ebenfalls von einer Verfassungsrechtlerin, diesmal aus den USA. Cindy Skach war Professorin an den Universitäten Oxford, Harvard und Bologna; heute berät sie Regierungen auf der ganzen Welt. In ihrem Buch „Demokratie ohne Gesetze“ zeigt sie, dass formale Gesetze allein die Demokratie nicht stützen können.
Diese Doppelstruktur der Demokratie, die einerseits auf dem Rechtsstaat und andererseits auf einer aktiven Bürger- beziehungsweise Zivilgesellschaft aufruht, zeigte sich auch in unseren historischen Recherchen, sehr konkret etwa am Beispiel der Fahne der Französischen Revolution, der Trikolore. Den drei Farben dieser Nationalfahne entsprechen die Werte der Revolution. Während „Liberté“ und „Égalité“, Freiheit und Gleichheit, von Anfang an feststanden, war der dritte Begriff zunächst umstritten. Eine Fraktion votierte für „Propriété“ (Eigentum), doch setzte sich als dritter Begriff schließlich die „Fraternité“ durch. Die ersten beiden Begriffe beziehen sich auf Rechte, die Bürger einklagen können. Der dritte Wert ist nicht einklagbar. Er bezieht sich auf den Beitrag der Gesellschaft – und bestätigt damit einmal mehr die Zwei-Säulen-Struktur der Demokratie. Diesen dritten Wert können wir mit verschiedenen Begriffen übersetzen: Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit, Solidarität, Mitmenschlichkeit. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Klimas der Feindschaft und des Hasses, das sich in der Politik und der Gesellschaft ausgebreitet hat, gewinnen diese Begriffe gerade eine ganz neue Strahlkraft.
Ich selbst habe diesen neuen Ton zum ersten Mal nach der Bundestagswahl 2017 bewusst vernommen, als AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland nach dem Einzug der AfD in den Bundestag ankündigte: „Wir werden Frau Merkel jagen!“ Weitere Formulierungen sind inzwischen hinzugekommen, die den politischen Alltag prägen, wie zum Beispiel jene vom „vor sich hertreiben“. Dieser neue Politikstil hat zu einer anderen Form von Protest geführt, bei dem es den Protestierenden offenkundig nicht mehr um den Erhalt, sondern um den Sturz der Demokratie geht. Er hat das gesellschaftliche Klima nachhaltig vergiftet; Polarisierung und negative Emotionen bestimmen auch im Bundestag das Debattenklima. Sie führen zu einem Niedergang des Ansehens der Demokratie und vermindern die Bereitschaft zu gesellschaftlichem Engagement.
Negative Emotionen stellen den Gemeinsinn schon immer vor große Herausforderungen, wie die Geschichte zeigt. Zwei große Erfinder des Hasses in der Politik waren etwa der Staatsrechtler Carl Schmitt und der PR-Berater Arthur J. Finkelstein. Der eine hat in der Weimarer Republik mit seiner Unterscheidung von Freund und Feind die NS-Diktatur vorbereitet, der andere hat seit den 1990er Jahren als Politikberater mit der von ihm erfundenen Form der Polarisierung („negative campaigning“) militante Autokraten wie Benjamin Netanjahu, Viktor Orbán oder Donald Trump groß gemacht – und den Finanzinvestor und Philanthropen George Soros mit einer großangelegten antisemitischen Kampagne auf perfide Art und Weise zu desavouieren versucht.
Westliches Grundgesetz und östlicher Gemeinsinn
Es ist allgemein bekannt, dass der östliche Teil des wiedervereinigten Deutschlands keinen aktiven Anteil am Zusammenschluss der beiden Teilstaaten hatte, weshalb dieser unter dem knappen und wenig glamourösen Stichwort „Beitritt“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Diese Asymmetrie, die in vielen Dimensionen des Zusammenlebens zu Buche schlägt, hat Dirk Oschmann 2023 in seinem Buch „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ offengelegt.
Der 75. Jahrestag der deutschen Verfassung 2024 gab auch anderen Kritikern Anlass, über diese Asymmetrie nochmals nachzudenken. „Bis heute stammt kein Satz im Grundgesetz aus Ostdeutschland“, konstatierte etwa die „Süddeutsche Zeitung“. Unter der Überschrift „Da fehlt doch noch was“ erinnerte sie an eine kleine Anekdote aus dem Jahr 1991:
Die beiden Theologen Constantin Plaul und Karl Tetzlaff, die diese Anekdote aus der Rückschau von 34 Jahren wieder in Erinnerung gebracht haben, kommentieren: „So sollte der aus dem Osten beigebrachte Satz im Grundgesetz die Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit endlich komplett machen.“ Sie glauben aber nicht daran, „dass Elmers kleine ostdeutsche Zutat zum bundesrepublikanischen Grundgesetz die seit 1990 immer wieder aufflammende Verfassungsdiskussion ein für alle Mal beendet hätte“. Denn die Liste der Argumente, die damals gegen diesen Aufruf zur Mitmenschlichkeit vorgetragen wurden, war lang. Man sah darin „die Gefahr eines freiheitsfeindlichen staatlichen Paternalismus, der moralische Haltungen vorschreiben“ wolle, es war von einem „Terror der Mitmenschlichkeit“ die Rede sowie von „zwangsweise verordneter Mitmenschlichkeit“.
Einmal mehr zeigt sich hier, wie stark die Bedeutung der Worte von ihrem jeweiligen Kontext determiniert ist. Ganz offensichtlich hatten wir es mit einer stereotypen Ost-West-Debatte zu tun: Während der Westen für die Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit stand, war der Gemeinsinn des Ostens ein Zeichen für sozialistischen Kollektivismus. Hier die Freiheit und Zukunft des Individuums, dort die Unterwerfung des Einzelnen in der Masse. Die Leerstelle zwischen der Freiheit des westlichen Ich und dem Gemeinsinn des östlichen Wir konnte nicht überbrückt werden – weshalb dieses bescheidene Angebot einer Annäherung der beiden politischen Systeme ausgeschlagen wurde.
Aus heutiger Distanz können wir feststellen, dass hier eine Chance vertan und ein historischer Moment verspielt wurde. Dabei hätte der schlichte und unprätentiöse Satz „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen“ im Eilverfahren der Wiedervereinigung durchaus einen Unterschied markieren und einen wichtigen symbolischen Akzent setzen können. Deshalb lohnt es sich, noch einmal an diesen kurzen Moment zu erinnern, in dem die beiden Teilstaaten hätten etwas enger miteinander verkoppelt und ein Schritt in Richtung eines gemeinsamen Demokratieverständnisses getan werden können.