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Sozialer Zusammenhalt | bpb.de

Sozialer Zusammenhalt Geschichte einer Idee und ihrer Probleme

Benjamin Ziemann

/ 15 Minuten zu lesen

Das Konzept des sozialen Zusammenhalts geht auf den Soziologen Émile Durkheim zurück, nach dem nur eine positive Moral die Menschen zusammenführt. Doch zeigt die Geschichte, dass auch gespaltene und fragmentierte Gesellschaften ohne solchen Zusammenhalt auskommen können.

„Sozialer Zusammenhalt“ ist ein Krisenbegriff. Er bezeichnet eine Norm, der die soziale Wirklichkeit – so die Unterstellung – nicht entspricht. Zusammen mit seinem Gegenbegriff, der „sozialen Spaltung“, fungiert er als ein Alarmzeichen, als dringlicher Hinweis auf negative Verhaltensweisen und Entwicklungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben gefährden können. Dabei ist der Terminus nicht neu. Die Wortfolge „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ lässt sich im deutschen Sprachraum seit etwa 1850 nachweisen, dasselbe gilt für ihre englische Entsprechung „social cohesion“. Doch hat die Verwendung des Begriffs in den vergangenen zehn Jahren geradezu explosionsartig zugenommen, wie eine Auswertung der deutschen Tagespresse 2014 bis 2019 zeigt. Ein wichtiger Befund der zitierten Studie war, dass sich die Zahl der Nennungen 2015 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt hatte und sich mehr als die Hälfte der Artikel inhaltlich auf die Probleme von Migration und Integration bezogen. Erst massenhafte Zuwanderung, so lässt sich zugespitzt sagen, machte gesellschaftlichen Zusammenhalt zu einem wichtigen Thema. Insgesamt stieg die Nutzung des Begriffs in der deutschen Presse im untersuchten Zeitraum um mehr als das Sechsfache.

Wenn Medien berichten, werden Politiker oft hellhörig. Gleich in seiner ersten Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten am 12. Februar 2017 setzte Frank-Walter Steinmeier das Thema sozialer Zusammenhalt auf die politische Agenda. „Was ist eigentlich der Kitt – der Kitt, der unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält?“, fragte Steinmeier. Der nächste Schritt war ebenso konsequent wie vorhersehbar. Die Anschlussfragen, die der Bundespräsident in seiner Rede andeutete – Warum schwindet der soziale Zusammenhalt? Wie lässt sich dem entgegenwirken? –, schienen eine sozialwissenschaftliche Beobachtung und Beantwortung zu erfordern. Aus der medialen Diskussion eines Krisenbegriffs entwickelte sich so im Handumdrehen ein Forschungsprogramm, dessen Aufgabe darin liegt, der Politik in Bund und Ländern praktische Vorschläge zur Krisenlösung zu unterbreiten. Auch das ist keine neue Entwicklung. Bereits Anfang der 1990er Jahre entwarfen die Brüsseler Behörden ein Programm zur Förderung der Konvergenz zwischen den Ländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dessen wichtigstes Ziel die Stärkung des sozialen Zusammenhalts in den Gesellschaften Westeuropas war.

Sozialer Zusammenhalt ist also ein Krisenbegriff, der seit etwa zehn Jahren verstärkt als Stichwortgeber für aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten dient. Doch wie steht es um die historische Dimension des Begriffs und der Probleme, auf die er hinweisen soll? Dieser Frage will ich im Folgenden nachgehen, und zwar in zwei Schritten. Zunächst soll begriffs- und theoriegeschichtlich an einige der Konzepte erinnert werden, die zur Erklärung gesellschaftlichen Zusammenhalts entwickelt worden sind. Danach gehe ich exemplarisch auf die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs seit 1871 ein und diskutiere, warum diese hochgradig fragmentierte Gesellschaft dennoch nicht „auseinanderbrach“ – um einen Ausdruck zu verwenden, der der mechanistischen Metaphorik von „Spaltung“ und ihrer Überwindung durch einen „Kitt“ entspricht.

Vom Vertrag zur Solidarität: Konzepte sozialen Zusammenhalts

Die Frage, was gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht, hat eine ehrwürdige Tradition und war lange identisch mit jener nach der Möglichkeit von Vergesellschaftung überhaupt. Die wichtigste Antwort auf diese Frage war für geraume Zeit die Vertragsidee. Vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert basierte die politische Theorie auf der Vorstellung, die Bildung eines politischen Gemeinwesens beruhe darauf, dass die eintretenden Individuen einen Vertrag abschlössen. Dieser Vertragsabschluss war eine imaginierte Situation, eine modellhafte Vorstellung, letztlich eine Metapher dafür, wie gesellschaftliches Zusammenleben gelingen könne. Wenn alle Individuen sich auf die Bedingungen des Vertrages einigten, so die Idee, dann könnten sie einvernehmlich miteinander zusammenleben. Kurz nach 1800 wurde klar, dass diese Vorstellung auch als theoretische Fiktion nicht vollends plausibel war, da sie die Vertragsfähigkeit der in die Gesellschaft eintretenden Individuen voraussetzte. Denn wenn diese bereit waren, in den kollektiven Vertrag einzutreten und damit die Rechte aller anderen anzuerkennen, warum war dann überhaupt noch ein Vertrag notwendig? Und wenn sie nicht vertragsfähig waren, wie ließe sich dann ein Vertrag schließen? Diese Fragen konnte die Vertragstheorie nicht zufriedenstellend klären, und so wurde rasch deutlich, dass diese juristische Metapher nicht tauglich war, die Frage nach den Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenhalts zu beantworten.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts reklamierte die neu entstandene Fachdisziplin der Soziologie sowohl die Zuständigkeit als auch die Kompetenz für sich, über die Ursachen sozialen Zusammenhalts Auskunft zu geben. Vor allem die Theorie der Solidarität, die der französische Soziologe Émile Durkheim 1893 vorlegte, war und ist bis heute dafür ebenso einfluss- wie folgenreich. Wie andere Soziologen der Zeit sah Durkheim Arbeitsteilung als ein entscheidendes Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft. Vormoderne Gesellschaften sind segmentär organisiert: Gleichartig gebaute soziale Gebilde – Sippen oder Dorfgemeinschaften – existieren nebeneinander, die soziale Differenzierung ist in diesem Gesellschaftstyp noch gering. So garantiert in erster Linie die Gleichartigkeit der sozialen Strukturen – zusammen mit dem Zwang eines Rechts, das für Abweichungen von der sozialen Norm Strafen ausspricht – den sozialen Zusammenhalt. Durkheim verwendet dafür den Begriff der „mechanischen Solidarität“. In der modernen Gesellschaft hat sich dagegen das Prinzip der Arbeitsteilung durchgesetzt: Es führt einerseits zu einer größeren Differenzierung der Gesellschaft, stärkt aber zugleich ihren Zusammenhalt. Denn wer tagtäglich Kraftfahrzeuge repariert, ist zugleich auf einen Bäcker angewiesen, der die Brötchen für die Mittagspause herstellt. Durkheim spricht von einer „organischen Solidarität“, die aus solchen Beziehungen entsteht.

Solidarität ist bei Durkheim als Ausdruck einer positiven Moral konzipiert, und diese Moral ist für ihn der Kitt, der in der modernen, arbeitsteilig konzipierten Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt garantiert. „Dadurch, daß die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung“, so Durkheim. Für ihn war der Soziologe letztlich ein Moralist, dessen „erste Pflicht“ darin bestand, „uns eine neue Moral zu bilden“. In der neueren Diskussion zum Thema sozialer Zusammenhalt ist oft notiert worden, dass diese in vielerlei Hinsicht an die von Durkheim entwickelten Konzepte anknüpft. Denn in der aktuellen Debatte geht es nicht darum, strukturelle Faktoren für die Integration der Gesellschaft zu benennen und zu analysieren, sondern um ein kollektives Gefühl der Zusammengehörigkeit oder um das, was Durkheim „Kollektivbewusstsein“ genannt hat. So definiert etwa die Bertelsmann-Stiftung in ihrem einflussreichen „Radar“ – einer Studie zur Messung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – die „kohäsive Gesellschaft“ durch „eine positive emotionale Verbundenheit ihrer Mitglieder mit dem Gemeinwesen“ und durch „eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung“ der Individuen. Mit anderen Worten: Es geht um Wahrnehmungen, Einstellungen und auch Gefühle. Dem entspricht die dort angewandte Erhebungsmethode, die auf einer Stichprobe von Personen basiert, die zu ihren Meinungen befragt werden.

Zusammenhalt durch Systembildung

Durkheim hatte Solidarität als moralisches Handeln konzipiert und daraus die Möglichkeit abgeleitet, dass sich der soziale Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft nicht nur erhält, sondern durch den Zwang zur Arbeitsteilung sogar noch steigert. Allerdings waren seine beiden Kernbegriffe, Moral und Solidarität, sozusagen einstellig angelegt. Durkheim hatte keinen Begriff von der eigenständigen Kraft des ungeselligen oder des unmoralischen Verhaltens – und davon, dass Moralität auch mit ihrem Gegenteil, der Amoralität, rechnen und diese einschließen muss. Konkret formuliert: Auch der Verbrecher lebt in der Gesellschaft, und so tragen seine verbrecherischen Handlungen ebenfalls zum sozialen Zusammenhalt bei.

Die Soziologie ist deshalb nach Durkheim andere Wege gegangen. Sie hat die Frage nach der Entstehung sozialer Ordnung von der Ebene der Moral und des Wertekonsenses auf die Ebene der Systembildung und -differenzierung verlegt. Dabei kommen in erster Linie die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft in den Blick, wie Wirtschaft, Massenmedien, Politik oder das Rechts- und das Erziehungssystem. Manche dieser Systeme sind in der Lage, besonders wirksame Mechanismen zur Stärkung sozialer Integration aufzubauen. Sie greifen dafür auf sogenannte Erfolgsmedien zurück – Medien, die die Annahme kontingenter und damit unwahrscheinlicher Kommunikationsofferten wahrscheinlich machen, und zwar jeweils in funktional bestimmten Kontexten. Die wichtigsten Beispiele für solche Medien sind Geld, Macht, Rechtsprechung und Kunst: Geld ermöglicht den Zugriff auf knappe Ressourcen, Macht die Umsetzung von Handlungen, die ein anderer von mir verlangt. Das Medium Rechtsprechung regelt – so formuliert es eine in der Bundesrepublik weitverbreitete Einführung in das Bürgerliche Recht – „die Voraussetzungen, unter denen der eine Bürger vom andern ein Tun oder ein Unterlassen verlangen darf“. Und im Medium der Kunst ist es möglich, die Hervorbringungen anderer Personen im eigenen Erleben nachzuvollziehen und ihre Schönheit zu beurteilen. Es gibt keine zentrale Instanz, die diese verschiedenen Funktionssysteme absichtsvoll koordinieren kann. Insofern ist der Zusammenhalt in dieser „Gesellschaft ohne Zentrum“ aus strukturellen Gründen nur sehr schwach ausgeprägt, was Folgeprobleme eigener Art nach sich zieht.

Diese hier nur knapp skizzierte konzeptionelle Perspektive, die sozialen Zusammenhalt in erster Linie aus den Mechanismen der Systemintegration herleitet, ist nicht unwidersprochen geblieben. Soziologen haben immer wieder argumentiert, dass „funktionale Koordination“ alleine den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht garantieren kann, sondern dass „moralische Integrität“ und „Solidarität“ hinzukommen müssen, um „Störungen des sozialen Lebensprozesses“ möglichst gering zu halten. Aber diese Thesen leiden unter demselben konzeptionellen Problem, das schon mit dem Ansatz Durkheims verbunden war: Sie können nicht erklären, auf welcher Grundlage ein „symbolisches Band“ aufruht, das in dieser Sicht zwischen den „Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft“ bestehen muss und letztendlich die „moralische Integrität“ ihrer Beziehungen garantieren soll. Mehr noch und schärfer formuliert: Diese Konzeption nimmt ein diabolisches Band, also soziale Beziehungen, die auf Amoralität basieren, nicht in ihr Kalkül auf.

Das deutsche Kaiserreich – eine gespaltene Gesellschaft?

In historischer Perspektive wird erkennbar, dass auch auf den ersten Blick gespaltene Gesellschaften sozialen Zusammenhalt aufweisen (können). Dafür in aller Kürze ein Beispiel. Das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich lässt sich als eine hochgradig fragmentierte und gespaltene Gesellschaft verstehen. Ein erstes Indiz dafür ist die enorm große Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Lebenschancen, etwa im Bereich der Gesundheit oder hinsichtlich der Lebenserwartung. In Preußen hatten 1895 rund 68 Prozent der Bevölkerung ein jährliches Einkommen von weniger als 900 Mark. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung gehörten damit der Unterschicht an, neben den gewerblichen Arbeitern vor allem das Millionenheer der landwirtschaftlichen Arbeiter, Heimgewerbetreibenden und die große Zahl der Kleinbauern, die weniger als zwei Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche bearbeiteten. Am anderen Ende der sozialen Leiter standen die „Superreichen“ der damaligen Zeit, vor allem die Vermögensmillionäre. Der ehemalige Beamte Rudolf Martin listete sie in seinem seit 1911 erschienenen „Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre“ sorgfältig auf und sorgte damit für eine öffentliche – und bald kontrovers diskutierte – Sichtbarkeit des Reichtums. Die erste, nur Preußen erfassende Ausgabe zählte 8000 Millionäre. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich zwar der Lebensstandard aller sozialen Gruppen erhöht, aber der Abstand zwischen oben und unten blieb unverändert. Der Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart hat für diese extrem ausgeprägte Ungleichheit 1903 eine eindringliche Metapher gefunden. Die deutsche Gesellschaft erscheine als eine „breite Bettelsuppe armer und kümmerlicher Existenzen, auf der die paar Reichen wie Fettaugen schwimmen“.

Doch die Gesellschaft des Kaiserreichs war nicht nur im Hinblick auf Einkommen und Lebenschancen gespalten. Sie war auch hochgradig fragmentiert und segmentiert. Katholiken und Sozialdemokraten bildeten eigene, in sich geschlossene Sozialmilieus aus. Der Soziologe Rainer Lepsius hat die Segmentierung dieser Sozialmilieus in einer einflussreichen Deutung als ein wichtiges, bis 1933 nachwirkendes Hindernis der Demokratisierung in Deutschland geschildert. Die gegenseitige Abschließung der Milieus habe, so Lepsius, verhindert, dass deren politische Repräsentanten Kompromisse schließen konnten. Damit habe die entscheidende Voraussetzung für eine demokratische politische Kultur gefehlt. Diese Deutung kann heute nicht mehr überzeugen. Denn der Unwille der konservativen und liberalen Parteien sowie der katholischen Zentrumspartei, Kompromisse zu schließen und damit auch Reformen des politischen Systems in Angriff zu nehmen, war nicht in der gegenseitigen Abkapselung der jeweiligen Sozialmilieus begründet, in denen ihre Anhänger lebten. Die entscheidende Ursache war vielmehr der unaufhaltsame Aufstieg der SPD von 1890 bis zur Reichstagswahl 1912, aus der sie als stärkste Partei nach Stimmen und Sitzen hervorging. Jede demokratische Reform hätte immer nur eine Gewinnerin gehabt: die Sozialdemokratie – weshalb sich alle anderen Parteien Kompromissen verweigerten.

Diese Revision der These von Lepsius ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die sozialmoralischen Milieus im Kaiserreich hochgradig segmentiert waren. Katholische Bauern, Handwerker und Arbeiter lebten ebenso wie die sozialdemokratische Arbeiterschaft und die protestantische Landbevölkerung in den ostelbischen Provinzen Preußens in ihrer jeweils eigenen, gegeneinander weitgehend abgeschlossenen Lebenswelt. Die Konzentration der Katholiken in überwiegend geschlossenen Siedlungsgebieten mit nur geringer konfessioneller Durchmischung war eine wichtige Voraussetzung dafür. Die regionale Konzentration der Industrialisierung vor allem in Sachsen, Berlin und der Provinz Brandenburg sowie einigen Großstädten in Norddeutschland und dem protestantischen Franken war eine andere. So entstanden in sich relativ homogene und gegeneinander abgeschottete Sozialmilieus, also etwas, was man im heutigen Sprachgebrauch segregierte „Parallelgesellschaften“ nennen würde.

Doch die Spaltung der Gesellschaft im Kaiserreich ging noch weiter. Denn die mit militärischen Mitteln „von oben“ durchgesetzte Schaffung eines deutschen Nationalstaates, für die Otto von Bismarck von 1864 bis 1870/71 drei Kriege anzettelte, hatte ebenso enttäuschte wie wütende Verlierer hinterlassen. Das waren all jene, die als Befürworter regionaler Interessen oder Anhänger dynastischer Häuser in strikter Opposition gegen die unter preußischer Hegemonie vollzogene Reichseinigung standen. Zu ihnen zählten die Welfen – die Anhänger der welfischen Dynastie, die das Königreich Hannover bis zu seiner Annexion durch Preußen 1866 regiert hatten –, aber auch die Unterstützer der Bayerischen Patriotenpartei, die eine kleindeutsche Lösung der deutschen Frage unter Ausschluss der Habsburgermonarchie ablehnten.

Warum aber brach – um nochmals diese arg mechanistische Metapher zu verwenden – die so hochgradig fragmentierte und gespaltene Gesellschaft des Kaiserreichs dann nicht auseinander? Warum entluden sich die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen nicht in gewalttätigen Konflikten? Die erste Antwort liegt in der integrativen Kraft, die die politischen Institutionen des Kaiserreichs entfalteten. Dazu gehörte die Hohenzollernmonarchie, die als symbolische Verkörperung nationaler Einheit und dynastischen Glanzes in den Jahrzehnten ab 1871 auch unter den einstigen „Reichsfeinden“ eine gewisse nostalgische Zustimmung erlebte. Aber der mit großem Abstand wichtigste Faktor lag in dem Angebot zur politischen Teilhabe, welches das Reichstagswahlrecht entfaltete. Alle Männer über 25 Jahre genossen das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, also ohne den Umweg über Wahlmänner. Nur Frankreich und Griechenland hatten zu dieser Zeit ein ähnlich inklusives Wahlrecht. Damit lud die politische Ordnung des Kaiserreichs ab 1871 auch jene Gruppen zur politischen Teilhabe ein, die eben noch die deutsche Einigung vehement abgelehnt hatten. Welfen, bayerische Patrioten, die Angehörigen der polnischen Minderheit und die Sozialdemokraten konnten eigene Parteien gründen und durch die Teilnahme an den Reichstagswahlen zeigen, dass sie die Spielregeln der Gesellschaft im Kern akzeptierten. Durch die Teilnahme an diesen Wahlen bildeten sie abstrakte politische Identitäten aus, welche die andauernde soziale Spaltung der Gesellschaft begrenzten und ihre Folgen milderten.

Letztlich zeigte sich darin die sozialintegrative Kraft einer gleichberechtigten Teilhabe am politischen System, auch wenn das Wahlrecht in den Einzelstaaten des Reiches bis zum Kriegsende 1918 noch höchst ungleich strukturiert war. Dabei war das politische System nicht das einzige Funktionssystem, das sich seit den 1880er Jahren in der deutschen Gesellschaft ausdifferenzierte. Das Erziehungssystem, das System der Krankenversorgung – das von den mit dem Ausbau der Krankenversicherung fließenden Geldzahlungen profitierte – und der moderne Sport sind andere Beispiele für diesen Prozess. Der Zugang zu all diesen Funktionssystemen blieb bis 1918 sozial höchst ungleich verteilt, und ihre Funktionsorientierung erzeugte alsbald Folgeprobleme, die bis heute spürbar sind – im Gesundheitssystem etwa die Reduzierung des Patienten zum „Träger einer Krankheit“, die Klagen über die Kälte und Anonymität der Behandlung von Kranken nach sich zieht. Aber zugleich entwickelten diese Systeme eine sozialintegrative Kraft, die ohne Appelle an die Moral und Solidarität oder andere Konsensfiktionen auskam, indem sie das Bezugsproblem bearbeiteten, für das sie Kompetenz beanspruchen konnten.

Risiken und Nebenwirkungen

Anfang 1941, als der Zweite Weltkrieg seinem Höhepunkt entgegenstrebte, veröffentlichte George Orwell als Teil einer Aufsatzsammlung den Essay „England Your England“. Im Vergleich mit den totalitären Gesellschaften des „Dritten Reiches“ und der Sowjetunion zeichnete er das harmonische Bild eines noch traditionellen Gemeinwesens, das von einer „emotionalen Einheit“ („emotional unity“) geprägt sei und in der „fast all seine Mitglieder“ („nearly all its inhabitants“) in einem Moment der Krise „ähnlich fühlen und gemeinsam handeln“ („feel alike and act together“). England, so sein Fazit, sei einer „Familie“ ähnlich, einer „etwas piefigen viktorianischen Familie, in der es zwar nicht viele schwarze Schafe gibt, bei der sich jedoch in jedem Keller eine Leiche findet“ („a rather stuffy Victorian family with not many black sheep in it but with all its cupboards bursting with skeletons“). Orwell war sich der schroffen Klassengegensätze, welche die britische Gesellschaft prägten, durchaus bewusst. Aber um den moralischen Zusammenhalt der Engländer zu beschwören, griff er auf die Familienmetapher zurück.

Ich habe hier argumentiert, dass der Begriff des sozialen Zusammenhalts über die Form und die Stärke der sozialen Integration in einer gegebenen Gesellschaft nichts aussagt. Stattdessen transportiert er die Aufforderung, in einer als krisenhaft erfahrenen Situation die positiven moralischen Grundlagen des Zusammenlebens zu stärken und damit den „Kitt“ zu produzieren, der die Gesellschaft angeblich zusammenhält. Diese Vorstellung knüpft an Émile Durkheim an. Aber eine entscheidende Komponente seiner Theorie übernimmt sie nicht: die Unterstellung eines „wechselseitigen Steigerungsverhältnisses von individueller Autonomie und sozialer Solidarität“. Für Durkheim führte die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft gerade zur Steigerung des Zusammenhalts, da sie die Individuen voneinander abhängig machte. Die heutige Diskussion über soziale Spaltung liest Individualisierung hingegen einseitig als eine Verfallsgeschichte.

In den aktuellen Debatten verbindet sich mit der Suche nach Zusammenhalt auch die Hoffnung, dass die bundesdeutsche Gesellschaft eine stärker harmonische und optimistische Selbstbeschreibung über sich produzieren kann, so wie das George Orwell 1941 in Bezug auf England gelungen war. Nun spricht nichts dagegen, die Bürger immer wieder zu moralischem und solidarischem Verhalten aufzurufen. Doch wer dies fordert und dafür den „Zusammenhalt“ der Gesellschaft als Leitbegriff ausflaggt, muss sich der Probleme und Risiken seines Handelns bewusst sein. Denn dieser Begriff lässt sich auch als Begründung für den gezielten Ausschluss von Minderheiten benutzen, denen die Schuld am angeblich mangelnden Zusammenhalt zugeschoben wird. Die nationalsozialistische Ideologie der Volksgemeinschaft ist dafür nur ein Beispiel. Der Politikwissenschaftler Steffen Kailitz hat in diesem Kontext eine These formuliert, die gerade in historischer Perspektive berechtigt ist: „Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist (…) bei näherer Betrachtung kein Wert an sich, da auch Diktaturen wie die faschistischen und kommunistischen nach ihm strebten und von ihm zehrten.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. als kritischen Problemaufriss Jürgen Kaube/André Kieserling, Die gespaltene Gesellschaft, Berlin 2022.

  2. Hierzu wurde eine Stichprobe aus einer Datenbank mit Zeitungsartikeln gezogen, die von 2014 bis 2019 jeweils an einem bestimmten Wochentag erschienen sind und den Ausdruck „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ enthielten; zugleich wurden die Themen erfasst, auf die sich der Begriff bezog. Vgl. Matthias Quent/Axel Salheiser/Dagmar Weber, Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Blätterwald. Auswertung und kritische Einordnung der Begriffsverwendung in Zeitungsartikeln (2014–2019), in: Nicole Deitelhoff/Olaf Groh-Samberg/Matthias Middell (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein interdisziplinärer Dialog, Frankfurt/M.–New York 2020, S. 73–88, insb. S. 74f.

  3. Rede von Frank-Walter Steinmeier, 12.2.2017, Externer Link: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/02/170212-Bundesversammlung.html.

  4. Vgl. u.a. Barbara Ratzenböck et al. (Hrsg.), Sozialer Zusammenhalt in der Krise. Interdisziplinäre Perspektiven auf Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften, Bielefeld 2023; Matthias Middell (Hrsg.), Varianzen des Zusammenhalts. Historisch und transregional vergleichende Perspektiven, Frankfurt/M.–New York 2024.

  5. Vgl. R.E. Pahl, The Search for Social Cohesion: From Durkheim to the European Commission, in: European Journal of Sociology 2/1991, S. 345–360, hier S. 357f.

  6. Vgl. Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893), Frankfurt/M. 1992, insb. S. 118ff., S. 162ff. Zum Hintergrund und Aufbau der Theorie ausführlich das Nachwort von Hans-Peter Müller/Michael Schmid, S. 481–521.

  7. Ebd., S. 471, S. 480.

  8. Vgl. z.B. Katharina Scherke, Sozialer Zusammenhalt in der Krise. Überlegungen zu Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften im Lichte des Solidaritätskonzeptes Émile Durkheims, in: Ratzenböck et al. (Anm. 4), S. 17–40.

  9. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023. Perspektiven auf das Miteinander in herausfordernden Zeiten, Gütersloh 2024, S. 12.

  10. Vgl. hier und im Folgenden Niklas Luhmann, Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie, in: Durkheim (Anm. 6), S. 19–38, insb. S. 24–27.

  11. Dieses Beispiel bei Kaube/Kieserling (Anm. 1), S. 32.

  12. Vgl. grundlegend Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 312–396. Historische Beispiele für das Wirken der „Erfolgsmedien“ bei Benjamin Ziemann, Gesellschaft ohne Zentrum. Deutschland in der differenzierten Moderne, Ditzingen 2024, S. 102–105, S. 121–135, Zitat S. 83.

  13. Vgl. die Beispiele in Ziemann (Anm. 12), S. 265–280.

  14. Vgl. etwa Bernhard Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 92–132, Zitate S. 94ff., S. 100f.

  15. Vgl. Eva Maria Gajek, Sichtbarmachung von Reichtum. Das Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen, in: Archiv für Sozialgeschichte 54/2014, S. 79–108, Zahl S. 87.

  16. Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert (1903), zit. nach Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 138.

  17. Vgl. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (1966), in: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 25–50.

  18. Vgl. Mark Hewitson, The Kaiserreich in Question: Constitutional Crisis in Germany Before the First World War, in: Journal of Modern History 4/2001, S. 725–780.

  19. Vgl. Siegfried Weichlein, Nation State, Conflict Resolution, and Culture War, 1850–1878, in: Helmut Walser Smith (Hrsg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 281–306, insb. S. 294, S. 301; siehe im Detail die bahnbrechende Studie von Margaret L. Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und Politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009.

  20. Vgl. Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit in differenzierten Ordnungen, Tübingen 2019, S. 133.

  21. Vgl. Ziemann (Anm. 12), S. 20–58, Zitat S. 50.

  22. George Orwell, England Your England, in: Sonia Orwell/Ian Angus (Hrsg.), The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. II: My Country Left or Right 1940–1943, Harmondsworth 1970, S. 74–99, Zitate S. 87f.

  23. Matthias Junge, Solidarität als Ordnung der Moderne und die Ordnungspluralität der Postmoderne, in: Thomas Kron (Hrsg.), Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen 2000, S. 169–182, Zitat S. 169.

  24. Steffen Kailitz, Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bildung und Wissenschaft, Vortrag auf dem Österreichischen Wissenschaftstag 2022, S. 3, Externer Link: https://www.oefg.at/wp-content/uploads/2024/04/OeFG_Kailitz.pdf.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Benjamin Ziemann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield, Vereinigtes Königreich.