„Sozialer Zusammenhalt“ ist ein Krisenbegriff. Er bezeichnet eine Norm, der die soziale Wirklichkeit – so die Unterstellung – nicht entspricht. Zusammen mit seinem Gegenbegriff, der „sozialen Spaltung“, fungiert er als ein Alarmzeichen, als dringlicher Hinweis auf negative Verhaltensweisen und Entwicklungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben gefährden können.
Wenn Medien berichten, werden Politiker oft hellhörig. Gleich in seiner ersten Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten am 12. Februar 2017 setzte Frank-Walter Steinmeier das Thema sozialer Zusammenhalt auf die politische Agenda. „Was ist eigentlich der Kitt – der Kitt, der unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält?“, fragte Steinmeier.
Sozialer Zusammenhalt ist also ein Krisenbegriff, der seit etwa zehn Jahren verstärkt als Stichwortgeber für aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten dient. Doch wie steht es um die historische Dimension des Begriffs und der Probleme, auf die er hinweisen soll? Dieser Frage will ich im Folgenden nachgehen, und zwar in zwei Schritten. Zunächst soll begriffs- und theoriegeschichtlich an einige der Konzepte erinnert werden, die zur Erklärung gesellschaftlichen Zusammenhalts entwickelt worden sind. Danach gehe ich exemplarisch auf die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs seit 1871 ein und diskutiere, warum diese hochgradig fragmentierte Gesellschaft dennoch nicht „auseinanderbrach“ – um einen Ausdruck zu verwenden, der der mechanistischen Metaphorik von „Spaltung“ und ihrer Überwindung durch einen „Kitt“ entspricht.
Vom Vertrag zur Solidarität: Konzepte sozialen Zusammenhalts
Die Frage, was gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht, hat eine ehrwürdige Tradition und war lange identisch mit jener nach der Möglichkeit von Vergesellschaftung überhaupt. Die wichtigste Antwort auf diese Frage war für geraume Zeit die Vertragsidee. Vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert basierte die politische Theorie auf der Vorstellung, die Bildung eines politischen Gemeinwesens beruhe darauf, dass die eintretenden Individuen einen Vertrag abschlössen. Dieser Vertragsabschluss war eine imaginierte Situation, eine modellhafte Vorstellung, letztlich eine Metapher dafür, wie gesellschaftliches Zusammenleben gelingen könne. Wenn alle Individuen sich auf die Bedingungen des Vertrages einigten, so die Idee, dann könnten sie einvernehmlich miteinander zusammenleben. Kurz nach 1800 wurde klar, dass diese Vorstellung auch als theoretische Fiktion nicht vollends plausibel war, da sie die Vertragsfähigkeit der in die Gesellschaft eintretenden Individuen voraussetzte. Denn wenn diese bereit waren, in den kollektiven Vertrag einzutreten und damit die Rechte aller anderen anzuerkennen, warum war dann überhaupt noch ein Vertrag notwendig? Und wenn sie nicht vertragsfähig waren, wie ließe sich dann ein Vertrag schließen? Diese Fragen konnte die Vertragstheorie nicht zufriedenstellend klären, und so wurde rasch deutlich, dass diese juristische Metapher nicht tauglich war, die Frage nach den Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenhalts zu beantworten.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts reklamierte die neu entstandene Fachdisziplin der Soziologie sowohl die Zuständigkeit als auch die Kompetenz für sich, über die Ursachen sozialen Zusammenhalts Auskunft zu geben. Vor allem die Theorie der Solidarität, die der französische Soziologe Émile Durkheim 1893 vorlegte, war und ist bis heute dafür ebenso einfluss- wie folgenreich.
Solidarität ist bei Durkheim als Ausdruck einer positiven Moral konzipiert, und diese Moral ist für ihn der Kitt, der in der modernen, arbeitsteilig konzipierten Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt garantiert. „Dadurch, daß die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung“, so Durkheim. Für ihn war der Soziologe letztlich ein Moralist, dessen „erste Pflicht“ darin bestand, „uns eine neue Moral zu bilden“.
Zusammenhalt durch Systembildung
Durkheim hatte Solidarität als moralisches Handeln konzipiert und daraus die Möglichkeit abgeleitet, dass sich der soziale Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft nicht nur erhält, sondern durch den Zwang zur Arbeitsteilung sogar noch steigert. Allerdings waren seine beiden Kernbegriffe, Moral und Solidarität, sozusagen einstellig angelegt. Durkheim hatte keinen Begriff von der eigenständigen Kraft des ungeselligen oder des unmoralischen Verhaltens – und davon, dass Moralität auch mit ihrem Gegenteil, der Amoralität, rechnen und diese einschließen muss.
Die Soziologie ist deshalb nach Durkheim andere Wege gegangen. Sie hat die Frage nach der Entstehung sozialer Ordnung von der Ebene der Moral und des Wertekonsenses auf die Ebene der Systembildung und -differenzierung verlegt. Dabei kommen in erster Linie die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft in den Blick, wie Wirtschaft, Massenmedien, Politik oder das Rechts- und das Erziehungssystem. Manche dieser Systeme sind in der Lage, besonders wirksame Mechanismen zur Stärkung sozialer Integration aufzubauen. Sie greifen dafür auf sogenannte Erfolgsmedien zurück – Medien, die die Annahme kontingenter und damit unwahrscheinlicher Kommunikationsofferten wahrscheinlich machen, und zwar jeweils in funktional bestimmten Kontexten. Die wichtigsten Beispiele für solche Medien sind Geld, Macht, Rechtsprechung und Kunst: Geld ermöglicht den Zugriff auf knappe Ressourcen, Macht die Umsetzung von Handlungen, die ein anderer von mir verlangt. Das Medium Rechtsprechung regelt – so formuliert es eine in der Bundesrepublik weitverbreitete Einführung in das Bürgerliche Recht – „die Voraussetzungen, unter denen der eine Bürger vom andern ein Tun oder ein Unterlassen verlangen darf“. Und im Medium der Kunst ist es möglich, die Hervorbringungen anderer Personen im eigenen Erleben nachzuvollziehen und ihre Schönheit zu beurteilen.
Diese hier nur knapp skizzierte konzeptionelle Perspektive, die sozialen Zusammenhalt in erster Linie aus den Mechanismen der Systemintegration herleitet, ist nicht unwidersprochen geblieben. Soziologen haben immer wieder argumentiert, dass „funktionale Koordination“ alleine den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht garantieren kann, sondern dass „moralische Integrität“ und „Solidarität“ hinzukommen müssen, um „Störungen des sozialen Lebensprozesses“ möglichst gering zu halten. Aber diese Thesen leiden unter demselben konzeptionellen Problem, das schon mit dem Ansatz Durkheims verbunden war: Sie können nicht erklären, auf welcher Grundlage ein „symbolisches Band“ aufruht, das in dieser Sicht zwischen den „Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft“ bestehen muss und letztendlich die „moralische Integrität“ ihrer Beziehungen garantieren soll.
Das deutsche Kaiserreich – eine gespaltene Gesellschaft?
In historischer Perspektive wird erkennbar, dass auch auf den ersten Blick gespaltene Gesellschaften sozialen Zusammenhalt aufweisen (können). Dafür in aller Kürze ein Beispiel. Das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich lässt sich als eine hochgradig fragmentierte und gespaltene Gesellschaft verstehen. Ein erstes Indiz dafür ist die enorm große Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Lebenschancen, etwa im Bereich der Gesundheit oder hinsichtlich der Lebenserwartung. In Preußen hatten 1895 rund 68 Prozent der Bevölkerung ein jährliches Einkommen von weniger als 900 Mark. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung gehörten damit der Unterschicht an, neben den gewerblichen Arbeitern vor allem das Millionenheer der landwirtschaftlichen Arbeiter, Heimgewerbetreibenden und die große Zahl der Kleinbauern, die weniger als zwei Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche bearbeiteten. Am anderen Ende der sozialen Leiter standen die „Superreichen“ der damaligen Zeit, vor allem die Vermögensmillionäre. Der ehemalige Beamte Rudolf Martin listete sie in seinem seit 1911 erschienenen „Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre“ sorgfältig auf und sorgte damit für eine öffentliche – und bald kontrovers diskutierte – Sichtbarkeit des Reichtums. Die erste, nur Preußen erfassende Ausgabe zählte 8000 Millionäre.
Doch die Gesellschaft des Kaiserreichs war nicht nur im Hinblick auf Einkommen und Lebenschancen gespalten. Sie war auch hochgradig fragmentiert und segmentiert. Katholiken und Sozialdemokraten bildeten eigene, in sich geschlossene Sozialmilieus aus. Der Soziologe Rainer Lepsius hat die Segmentierung dieser Sozialmilieus in einer einflussreichen Deutung als ein wichtiges, bis 1933 nachwirkendes Hindernis der Demokratisierung in Deutschland geschildert. Die gegenseitige Abschließung der Milieus habe, so Lepsius, verhindert, dass deren politische Repräsentanten Kompromisse schließen konnten. Damit habe die entscheidende Voraussetzung für eine demokratische politische Kultur gefehlt.
Diese Revision der These von Lepsius ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die sozialmoralischen Milieus im Kaiserreich hochgradig segmentiert waren. Katholische Bauern, Handwerker und Arbeiter lebten ebenso wie die sozialdemokratische Arbeiterschaft und die protestantische Landbevölkerung in den ostelbischen Provinzen Preußens in ihrer jeweils eigenen, gegeneinander weitgehend abgeschlossenen Lebenswelt. Die Konzentration der Katholiken in überwiegend geschlossenen Siedlungsgebieten mit nur geringer konfessioneller Durchmischung war eine wichtige Voraussetzung dafür. Die regionale Konzentration der Industrialisierung vor allem in Sachsen, Berlin und der Provinz Brandenburg sowie einigen Großstädten in Norddeutschland und dem protestantischen Franken war eine andere. So entstanden in sich relativ homogene und gegeneinander abgeschottete Sozialmilieus, also etwas, was man im heutigen Sprachgebrauch segregierte „Parallelgesellschaften“ nennen würde.
Doch die Spaltung der Gesellschaft im Kaiserreich ging noch weiter. Denn die mit militärischen Mitteln „von oben“ durchgesetzte Schaffung eines deutschen Nationalstaates, für die Otto von Bismarck von 1864 bis 1870/71 drei Kriege anzettelte, hatte ebenso enttäuschte wie wütende Verlierer hinterlassen. Das waren all jene, die als Befürworter regionaler Interessen oder Anhänger dynastischer Häuser in strikter Opposition gegen die unter preußischer Hegemonie vollzogene Reichseinigung standen. Zu ihnen zählten die Welfen – die Anhänger der welfischen Dynastie, die das Königreich Hannover bis zu seiner Annexion durch Preußen 1866 regiert hatten –, aber auch die Unterstützer der Bayerischen Patriotenpartei, die eine kleindeutsche Lösung der deutschen Frage unter Ausschluss der Habsburgermonarchie ablehnten.
Warum aber brach – um nochmals diese arg mechanistische Metapher zu verwenden – die so hochgradig fragmentierte und gespaltene Gesellschaft des Kaiserreichs dann nicht auseinander? Warum entluden sich die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen nicht in gewalttätigen Konflikten? Die erste Antwort liegt in der integrativen Kraft, die die politischen Institutionen des Kaiserreichs entfalteten. Dazu gehörte die Hohenzollernmonarchie, die als symbolische Verkörperung nationaler Einheit und dynastischen Glanzes in den Jahrzehnten ab 1871 auch unter den einstigen „Reichsfeinden“ eine gewisse nostalgische Zustimmung erlebte. Aber der mit großem Abstand wichtigste Faktor lag in dem Angebot zur politischen Teilhabe, welches das Reichstagswahlrecht entfaltete. Alle Männer über 25 Jahre genossen das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, also ohne den Umweg über Wahlmänner. Nur Frankreich und Griechenland hatten zu dieser Zeit ein ähnlich inklusives Wahlrecht. Damit lud die politische Ordnung des Kaiserreichs ab 1871 auch jene Gruppen zur politischen Teilhabe ein, die eben noch die deutsche Einigung vehement abgelehnt hatten. Welfen, bayerische Patrioten, die Angehörigen der polnischen Minderheit und die Sozialdemokraten konnten eigene Parteien gründen und durch die Teilnahme an den Reichstagswahlen zeigen, dass sie die Spielregeln der Gesellschaft im Kern akzeptierten. Durch die Teilnahme an diesen Wahlen bildeten sie abstrakte politische Identitäten aus, welche die andauernde soziale Spaltung der Gesellschaft begrenzten und ihre Folgen milderten.
Letztlich zeigte sich darin die sozialintegrative Kraft einer gleichberechtigten Teilhabe am politischen System, auch wenn das Wahlrecht in den Einzelstaaten des Reiches bis zum Kriegsende 1918 noch höchst ungleich strukturiert war.
Risiken und Nebenwirkungen
Anfang 1941, als der Zweite Weltkrieg seinem Höhepunkt entgegenstrebte, veröffentlichte George Orwell als Teil einer Aufsatzsammlung den Essay „England Your England“. Im Vergleich mit den totalitären Gesellschaften des „Dritten Reiches“ und der Sowjetunion zeichnete er das harmonische Bild eines noch traditionellen Gemeinwesens, das von einer „emotionalen Einheit“ („emotional unity“) geprägt sei und in der „fast all seine Mitglieder“ („nearly all its inhabitants“) in einem Moment der Krise „ähnlich fühlen und gemeinsam handeln“ („feel alike and act together“). England, so sein Fazit, sei einer „Familie“ ähnlich, einer „etwas piefigen viktorianischen Familie, in der es zwar nicht viele schwarze Schafe gibt, bei der sich jedoch in jedem Keller eine Leiche findet“ („a rather stuffy Victorian family with not many black sheep in it but with all its cupboards bursting with skeletons“).
Ich habe hier argumentiert, dass der Begriff des sozialen Zusammenhalts über die Form und die Stärke der sozialen Integration in einer gegebenen Gesellschaft nichts aussagt. Stattdessen transportiert er die Aufforderung, in einer als krisenhaft erfahrenen Situation die positiven moralischen Grundlagen des Zusammenlebens zu stärken und damit den „Kitt“ zu produzieren, der die Gesellschaft angeblich zusammenhält. Diese Vorstellung knüpft an Émile Durkheim an. Aber eine entscheidende Komponente seiner Theorie übernimmt sie nicht: die Unterstellung eines „wechselseitigen Steigerungsverhältnisses von individueller Autonomie und sozialer Solidarität“.
In den aktuellen Debatten verbindet sich mit der Suche nach Zusammenhalt auch die Hoffnung, dass die bundesdeutsche Gesellschaft eine stärker harmonische und optimistische Selbstbeschreibung über sich produzieren kann, so wie das George Orwell 1941 in Bezug auf England gelungen war. Nun spricht nichts dagegen, die Bürger immer wieder zu moralischem und solidarischem Verhalten aufzurufen. Doch wer dies fordert und dafür den „Zusammenhalt“ der Gesellschaft als Leitbegriff ausflaggt, muss sich der Probleme und Risiken seines Handelns bewusst sein. Denn dieser Begriff lässt sich auch als Begründung für den gezielten Ausschluss von Minderheiten benutzen, denen die Schuld am angeblich mangelnden Zusammenhalt zugeschoben wird. Die nationalsozialistische Ideologie der Volksgemeinschaft ist dafür nur ein Beispiel. Der Politikwissenschaftler Steffen Kailitz hat in diesem Kontext eine These formuliert, die gerade in historischer Perspektive berechtigt ist: „Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist (…) bei näherer Betrachtung kein Wert an sich, da auch Diktaturen wie die faschistischen und kommunistischen nach ihm strebten und von ihm zehrten.“