Am 25. November 2020 brachte die Fraktion der AfD erstmals einen Antrag in den Bundestag ein, der sich bereits im Titel die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland zum Ziel setzte.
Für die sozialwissenschaftliche Diskussion über gesellschaftlichen Zusammenhalt ist diese Episode aus zwei Gründen aufschlussreich. Zum einen zeigt sie, welche politische Potenz der Begriff inzwischen entfaltet hat. Bereits 2020 haben wir gemeinsam mit unseren Kolleg:innen Nicole Deitelhoff und Matthias Middell darauf hingewiesen, dass sich der Zusammenhalt zu einem neuen politischen Leitwert entwickelt hat, der in allen politischen Lagern auf hohe Zustimmung stößt und häufig anderen Werten übergeordnet wird.
Zum anderen wirft der Fall damit auch ein Schlaglicht auf die inhaltliche Offenheit – man könnte auch sagen: Leere – des Begriffs. Es ist nämlich nicht so, dass die These der AfD, die gesellschaftliche Thematisierung von Rassismus könne den gesellschaftlichen Zusammenhalt schädigen, ohne Weiteres von der Hand zu weisen ist. Inwiefern sie zutrifft, kann erst dann geklärt werden, wenn man das relevante Kollektiv des Zusammenhalts definiert hat (die Gesellschaft des gesellschaftlichen Zusammenhalts) und feststeht, welche Einstellungen und Beziehungen, Praktiken und Normen als Ausdruck sozialer Kohäsion gedeutet werden (der Zusammenhalt des gesellschaftlichen Zusammenhalts). Versteht man – wie die AfD – ein Bekenntnis zur deutschen Leitkultur als Grundlage des Zusammenlebens, ist es aus dieser Perspektive durchaus plausibel, dass die kritische Reflexion rassistischer Gewohnheiten und Strukturen als störend für dieses Verständnis von Zusammenhalt empfunden wird.
Im Folgenden gehen wir der Frage nach, welche Konsequenzen diese politische Vieldeutigkeit für die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts hat. Muss die Forschung alle denkbaren Konzeptionen von Zusammenhalt als gleichermaßen plausibel und gleichwertig behandeln? Oder lassen sich aus analytischer wie aus normativer Perspektive Kriterien bestimmen, die für die Vorzugswürdigkeit bestimmter Konzeptionen sprechen? Wir vertreten die These, dass sich unter den Rahmenbedingungen moderner, pluraler Demokratien und aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen durchaus solche Kriterien finden lassen. Aus ihnen ergibt sich eine Konzeption, die wir als demokratischen Zusammenhalt bezeichnen.
Begriff und Konzeptionen des Zusammenhalts
Der Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts stammt weniger aus der Wissenschaft denn aus der Politik. Er findet jedoch auch Anleihen im wissenschaftlichen Diskurs, grundlegend etwa in Theorien der Sozialintegration, spezifischer im Begriff „Social Cohesion“ oder in der Literatur zu Sozialkapital und generalisiertem Vertrauen.
Wiederum anders als in etablierten Konzepten halten wir unser Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts aber bewusst inhaltlich und damit auch normativ leer, um die Breite an möglichen und auch empirisch vorfindbaren Konzeptionen abdecken zu können.
Damit unterscheiden sich Konzeptionen des Zusammenhalts auch in ihren Eigenschaften – insbesondere in Bezug auf ihre soziale Reichweite beziehungsweise Inklusivität und die Intensität der von ihnen erzeugten Bindungen. Dazu gehören etwa die Fragen, welches Kollektiv als Träger des Zusammenhalts gilt und wie stark das Gefühl der Verbundenheit innerhalb dieses Kollektivs ausgeprägt ist. So können Konzeptionen des Zusammenhalts, die auf geteilten kulturellen Wurzeln oder einer gemeinsamen Geschichte gründen, intensive Loyalität und ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft hervorbringen. Zugleich schließen solche Konzeptionen jedoch häufig jene aus, die diese kulturelle Identität nicht teilen – etwa Zugewanderte oder Angehörige ethnischer Minderheiten. Im Gegensatz dazu ist ein Zusammenhalt, der allein auf der Einsicht in eine wechselseitige Abhängigkeit innerhalb eines geteilten Institutionengefüges beruht – das Gemeinschaftsgefühl derjenigen, die im selben Boot, aber in ganz unterschiedlichen Klassen sitzen –, zwar tendenziell inklusiver, dürfte aber eine deutlich schwächer ausgeprägte Bereitschaft zu solidarischem Handeln erzeugen. Für die Suche nach einer Konzeption des Zusammenhalts, die für gegenwärtige Demokratien angemessen ist, ergeben sich damit zwei Anforderungen, die die Inklusivität und Intensität eines demokratischen Zusammenhalts betreffen. Wir werden zunächst die Konzeption demokratischen Zusammenhalts etwas detaillierter vorstellen und sodann diskutieren, inwiefern sie die beiden Anforderungen erfüllen kann.
Demokratischer Zusammenhalt
Unter demokratischem Zusammenhalt verstehen wir Formen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die sich aus Praktiken und Prinzipien der Demokratie selbst heraus ergeben und ausschließlich normative Ressourcen beanspruchen, die in diesen bereits angelegt sind. Demokratischer Zusammenhalt ist somit primär über die Quelle des Zusammenhalts definiert: Bei ihm handelt es sich um eine Konzeption des Zusammenhalts, die durch (einen Aspekt der) Demokratie erzeugt wird. Welche konkreten Elemente der Demokratie beim demokratischen Zusammenhalt die Quelle des Zusammenhalts bilden, wollen wir dabei möglichst offen halten, um Variationen dieses Zusammenhalts beobachten zu können. Zusammenhalt stiftende Elemente könnten etwa das (rationalistische) Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Fairness demokratischer Institutionen sein, die (affektiv aufgeladene) Erfahrung demokratischer Partizipation und Konfliktbewältigung oder der (moralische) Respekt vor dem Wert demokratischer Gleichheit. Gemein ist diesen möglichen Quellen demokratischen Zusammenhalts, dass sie der gleichberechtigten Teilhabe an politischen Verfahren eine integrative Kraft zusprechen.
Damit ist demokratischer Zusammenhalt nicht identisch mit dem empirisch vorfindbaren Zusammenhalt in Demokratien. Auch Demokratien können Formen des Zusammenhalts aufweisen, die auf exklusiven, vorpolitischen Grundlagen beruhen – die von der AfD angestrebte deutsche Leitkultur mag hier wieder als Beispiel dienen. Demokratischer Zusammenhalt unterscheidet sich hiervon durch seine grundlegende Strategie: Er vermeidet den Rückgriff auf partikulare Traditionen und ersetzt diese durch die inklusiveren Bindekräfte demokratischer Verfahren. Mit diesem Vorgehen ist die Hoffnung verknüpft, dass sich ein demokratischer Zusammenhalt sowohl als hinreichend inklusiv wie intensiv erweist, er also ohne ungerechtfertigte Ausschlüsse auskommt und trotzdem genügend Bindekraft entwickelt, um über bloße institutionelle Stabilität hinaus auch solidarisches Handeln zu ermöglichen. Worauf stützt sich diese Hoffnung?
Zur Inklusivität demokratischen Zusammenhalts
Bei dem Problem der Inklusivität geht es um die Frage, wie Zusammenhalt in Gesellschaften möglich ist, die plural und – im weitesten Sinne – liberal sind. Mit Pluralität ist gemeint, dass moderne Gesellschaften für ihren Zusammenhalt nicht ohne Weiteres aus vorgängigen Bedingungen wie der Zugehörigkeit zu einem homogenen Volk, einer kulturell einheitlichen Lebensform oder gemeinsamen religiösen Überzeugungen schöpfen können, weil sie in all diesen Hinsichten zu heterogen sind.
Für eine Konzeption demokratischen Zusammenhalts ergibt sich daraus das Gebot, zur Begründung gesellschaftlichen Zusammenhalts auf ein vorpolitisches Substrat zu verzichten. Die Betonung geteilter kultureller Werte mag zwar eine effektive Strategie zur Mobilisierung kollektiver Anstrengungen sein. Sie läuft aber immer auf einen exklusiven Zusammenhalt hinaus, und dies – folgt man etwa der Social Identity Theory – genau in dem Maße, wie sie eine loyale Wir-Identität zu stiften vermag. Damit schaffen traditionelle Formen des Zusammenhalts unweigerlich eine willkürliche Unterscheidung zwischen Bürger:innen erster und zweiter Klasse, die entlang von Kategorien wie Herkunft, Ethnie und Religion verläuft und ihre trennende Qualität reifiziert.
Genau hier setzt die Konzeption des demokratischen Zusammenhalts an. Sie benennt eine Quelle gesellschaftlicher Integration, die auch unter Bedingungen von Pluralität und staatlicher Neutralität tragfähig ist und sich diskriminierungsfrei begründen lässt. Ihre Grundidee besteht darin, Zusammenhalt nicht als vorpolitische Voraussetzung, sondern als Produkt demokratischer Erfahrungen, Praktiken und Prinzipien zu verstehen.
Damit wird auch deutlich, dass ein demokratischer Zusammenhalt keineswegs im Widerspruch zu intensiven gesellschaftlichen Konflikten und Auseinandersetzungen steht. Im Gegenteil, der demokratische Zusammenhalt ergibt sich wesentlich aus einem bestimmten Modus der Austragung von Konflikten und des Erzielens von Kompromissen sowie einem Interessensausgleich. In gewisser Weise handelt es sich dabei um einen „schwachen“ Zusammenhalt, weil er zurückhaltend ist mit den Zumutungen der Zugehörigkeit zu einem vorhandenen Kollektiv oder der Zustimmung zu vorgefertigten Inhalten. Auch wenn liberale Demokratien in ihrer Geschichte und Gegenwart immer wieder auch „starke“ Formen des Zusammenhalts entwickelt haben und entwickeln – nationalistische Ideologien beispielsweise –, benötigen sie diese nicht zwingend. Vielmehr schafft der demokratisch ausgetragene Streit um die richtigen Ideen und die jeweils eigenen Interessen einen hinreichenden Rahmen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Insofern lässt sich mit gutem Grund fragen, wozu es einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, der über die Anerkennung demokratischer Institutionen hinausgeht, überhaupt braucht: „Dem Gesellschaftlichen Zusammenhang [sic] ist schon gedient, wenn Individuen die Menschenrechte achten und Steuern zahlen, wenn Unternehmen ihrem Unternehmensziel nachgehen, einen Gemeinschaftsbezug braucht es dazu nicht. Zu viel Gemeinschaft, sei sie gesamtgesellschaftlich oder gruppenspezifisch, – diese Einsicht ist ja nicht neu – kann dem Gesellschaftlichen Zusammenhalt sehr schaden.“
Zur Intensität demokratischen Zusammenhalts
Die Frage nach der Intensität demokratischen Zusammenhalts gewinnt zusätzlich an Brisanz, wenn man den aktuellen Befund in den Blick nimmt, dass das Vertrauen in die hinreichend zusammenhaltstiftende Kraft demokratischer Verfahren gegenwärtig geschwächt oder gar erschüttert erscheint. Der Grund dafür liegt nicht einfach in der Intensität gesellschaftlicher Konfliktlagen und transformativer Herausforderungen, sondern in der Art und Weise, wie sich diese mit sozioökonomischen und politischen Ungleichheiten überlagern. Sozioökonomische Ungleichheiten haben in Deutschland über die vergangenen Jahrzehnte hinweg signifikant zugenommen. Dabei haben sowohl Wohlstands- als auch Armutslagen zugenommen, während mittlere Lagen deutlich geschrumpft sind. In dieser Hinsicht haben wir es also empirisch mit einer eindeutigen Tendenz der Polarisierung sozialer Lagen zu tun – auch wenn diese gleichsam „kalte“ Polarisierung in den aktuellen „heißen“ Polarisierungsdebatten häufig gar nicht vorkommt.
Angesichts dieser Ungleichheits- und Konfliktlagen stellt sich die Frage, wie sich ein demokratischer Zusammenhalt realisieren lässt. Die Konzeption eines solchen Zusammenhalts bezieht sich dabei im Kern auf das Geflecht aus Einstellungen, Praktiken und sozialen Beziehungen, die mit einer „demokratischen Lebensweise“ assoziiert sind.
Unter dem Schlagwort des „Wohlfahrtschauvinismus“ stehen dabei zumeist die Unterstützer:innen rechtspopulistischer und rechtsextremer Ideologien im Fokus. Dieser Fokus, so wichtig er ist, greift indessen zu kurz. Der empirische Befund, dass prodemokratische Einstellungen bei privilegierteren Milieus stärker verbreitet sind, sollte nicht dazu verleiten, diesen bereits eine demokratische Lebensführung zu attestieren. Auf der Ebene von Einstellungen zeigt sich etwa, dass privilegiertere Gruppen weniger Sensibilität für sozioökonomische Ungleichheiten aufweisen und entsprechend Umverteilungsmaßnahmen signifikant weniger unterstützen als sozioökonomisch benachteiligte Gruppen.
Ausblick
Die hier skizzierte Konzeption eines demokratischen Zusammenhalts lässt sich auch als Suche nach dem richtigen Maß an sozialer Integration verstehen. Denn wie unsere Kolleg:innen Daniela Grunow, Patrick Sachweh, Uwe Schimank und Richard Traunmüller zeigen,
Ebenso lässt sich aber auch ein Zuwenig an demokratischem Zusammenhalt konstatieren. Ein entsprechendes Defizit ist dann gegeben, wenn die Voraussetzungen für demokratischen Streit und Konflikt, und damit für einen Ausgleich von Interessen, nicht mehr hinreichend gegeben sind. Die Konzeption eines demokratischen Zusammenhalts zielt dabei weniger auf ein staatsbürgerliches oder gar verfassungsrechtliches, sondern auf ein gesellschaftspolitisches Programm. Sie schließt mithin die Ebene von Lebensführungen, die institutionelle Verfasstheit und die Diskurse einer Gesellschaft mit ein. Angesichts der strukturellen Ungleichheits- und Konfliktlagen ist die Sorge um den demokratischen Zusammenhalt ernster zu nehmen als der Verweis auf staatsbürgerliche Tugenden. Dabei sollte sich der Blick jedoch nicht nur auf die Zunahme offen antidemokratischer Einstellungen richten. Vielmehr scheint sich gerade in den über die vergangenen Jahrzehnte zahlenmäßig stark angewachsenen, relativ privilegierten Wohlstandslagen eine mangelnde Sensibilität gegenüber sozioökonomischen Ungleichheiten verfestigt zu haben, die eine fundamentale Gefährdung demokratischen Zusammenhalts darstellt.