Als Auslandskorrespondent habe ich mir viele Länder erschlossen. Man reist in alle Winkel des jeweiligen Landes, lernt alle Bundesstaaten oder Provinzen kennen, trifft Politiker der Regierung und der Opposition, Journalisten, Künstlerinnen, Schriftsteller, Menschen aus unterschiedlichsten Gruppen. Und man redet, mit so vielen Leuten wie möglich. Mit der Zeit bekommt man ein Gespür für die jeweilige Gesellschaft, für ihre Empfindsamkeiten, ihre Stärken, ihre Schwächen, man erfährt von den Leichen im Keller der Regierenden und von den sogenannten roten Linien, die in diesen Gesellschaften existieren. Bei der einen ist es Kritik am Präsidenten, bei der anderen an der Monarchenfamilie; bei wieder einer anderen gilt das Militär als offiziell unfehlbar, und in vielen ist die Religion von jeglicher Kritik ausgenommen.
Irgendwann wuchs in mir der Wunsch, mein eigenes Land – Deutschland – intensiver und systematisch zu erkunden. Gelegentlich wird mir, der ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, von manchen Leuten gesagt, ich sei „nur Passdeutscher“, „kein echter Deutscher“. Vom anderen Ende des politischen Spektrums wiederum bekomme ich hin und wieder rassistische Beleidigungen wie „Kokosnuss – außen braun, innen weiß“ zu hören – ich sei „zu deutsch“, „zu assimiliert“, „zu wenig Lebensrealität eines Ausländers“. All das führt dazu, dass ich bisweilen mit diesem Land hadere. Aber es ist eben auch ein Land, das ich meine Heimat nenne und das ich mag. Es ist immer ein bisschen heikel zu sagen, dass man Deutschland mag, man gilt in bestimmten Kreisen schnell als was weiß ich, aber Tatsache ist, dass ich Deutschland wirklich mag, ohne was weiß ich zu sein.
Deutschland, ein weitläufiger Garten
Aber was macht das Deutsche eigentlich aus? Was ist die viel beschworene „deutsche Leitkultur“? Und stimmt es wirklich, dass dieses Land so gespalten ist? Was könnten wir tun, um dem etwas entgegenzusetzen?
Ich beschloss also, nach vielen Jahren als Auslandskorrespondent beim „Spiegel“ zu kündigen, mich ein Jahr lang aufs Fahrrad zu schwingen und durch Deutschland zu radeln, um mit möglichst vielen Menschen darüber zu reden, was unser Land eigentlich ausmacht und was es vor allem zusammenhält. Warum mit dem Fahrrad? Weil es schnell genug ist, um Strecke zu machen und ordentlich voranzukommen, dann aber doch langsam genug, dass nichts vorbeirauscht, sondern man einfach Halt machen und ins Gespräch kommen kann.
Es ging mir darum, mir Deutschland besser zu erschließen. Darum, Menschen mit unterschiedlichen Sichtweisen kennenzulernen, neue Räume zu verinnerlichen. Ich habe zwar schon alle Bundesländer bereist, bin in Norddeutschland groß geworden, habe eine Zeit lang im Schwäbischen gelebt, habe als Marinesoldat die Nord- und Ostseeküste kennengelernt – aber kannte ich Deutschland, dieses „alte Wunderland“, diesen „weitläufigen Garten“, wie Mark Twain Deutschland einmal beschrieb, wirklich?
Mal drohe ein „Rechtsruck“, eine „konservative Revolution“ gar, beklagen manche und verweisen auf Wahlerfolge von Rechtspopulisten. Dann wieder warnen andere vor einer „Ökodiktatur“, vor „Klimafaschisten“ und einer „linksgrünen Elite“, die „alles verbieten“ wolle und „längst die Agenda“ setze, in der Politik, in den Medien, in der Kultur sowieso, und das machen sie an „zunehmender Sprachregulierung“ fest und an „Cancel Culture“. Und gegenseitig werfen sie sich „Kulturkampf“ vor.
Aber was stimmt denn nun? Und stimmt es überhaupt?
Um das zu erkunden, radelte ich los. Und um möglichst viele Teile Deutschlands zu bereisen und Menschen aus unterschiedlichen Regionen zu treffen, beschloss ich, das Radfernwegenetz – welch wunderbares deutsches Wort! – entlang der Flüsse zu nutzen. Ich fuhr zuerst die Elbe entlang, von Cuxhaven an der Nordsee bis Bad Schandau an der Grenze zu Tschechien, radelte die Ruhr entlang, den Rhein, die Oder und Neiße ganz im Osten, den Neckar und schließlich die Donau. So konnte ich mir ein Bild machen vom Norden und Süden, Westen und Osten.
Ich erinnerte mich an die magischen Momente meiner Kindheit in Hollern-Twielenfleth, einem niedersächsischen Dorf vor den Toren Hamburgs: Wir bretterten mit unseren Fahrrädern durch unseren Ort, liefen durch Obstplantagen, fuhren an die Elbe, waren frei und glücklich. Manchmal trauten wir uns sogar, die Ortsgrenze zu überqueren. Das war dann das ganz große Abenteuer. Meine Mutter sagte mir, ich solle zu Hause sein, wenn’s dunkel wird. Im Winter also früh, im Sommer spät, zumindest an den Wochenenden und in den Sommerferien. Die anderen Kinder hatten auch keine genaueren Vorgaben als ich.
Wir aßen Kirschen von den Bäumen, später, im Herbst, Äpfel. Wir radelten ins Freibad am Deich, kauften uns am Kiosk Pommes rot-weiß und, wenn das Geld reichte und der Hunger groß war, auch eine Frikadelle dazu, für fünfzig Pfennig Gummizeug, ein Eis, manchmal sogar beides. Abendbrot aßen wir mal bei dem einen, mal bei der anderen. Wer uns suchte, fand uns dort, wo unsere Räder im Vorgarten lagen. Manchmal dachten wir mit und riefen zu Hause an, um Bescheid zu sagen, von grauem Wählscheibentelefon zu grauem Wählscheibentelefon, die Nummer nur vierstellig: sieben vier sieben sieben.
Wir waren eine Gemeinschaft, und wer dazukam, musste sich natürlich anpassen, wurde dann aber herzlich aufgenommen. „Spaltung der Gesellschaft?“ Es gab natürlich Streit, immer schon in Teilen der Bevölkerung Vorbehalte gegenüber allem Fremden und Neuen, aber alles in allem war das, so empfand ich es: gelebte Gemeinschaft. Man feierte miteinander, war füreinander da, half sich gegenseitig. Wie konnte es so weit kommen, dass wir jetzt so auseinanderdriften? Einander oft kaum mehr zuhören? Uns gegenseitig anbrüllen? Oder gar nicht mehr miteinander reden?
Mit fast tausend Menschen habe ich gesprochen, was sicherlich kein wissenschaftlich belastbares, repräsentatives Bild ergibt, aber doch ein Gefühl dafür vermittelt, was los ist.
„Man hört uns nicht zu!“
Überall in Deutschland und von sehr unterschiedlichen Menschen habe ich am häufigsten die Kritik an Politik und Medien gehört, sie hätten „den Bezug zur normalen Bevölkerung verloren“, „kein Gespür für das Leben der einfachen Leute“, „keine Bodenhaftung mehr“, hätten einen Berlinerischen, jedenfalls stets haupt- und großstädtischen, akademisch geprägten Blick auf Deutschland und die Welt, obwohl die Bevölkerung in Deutschland doch eher ländlich oder kleinstädtisch geprägt und eben nicht akademisch ausgebildet sei. Entsprechend sei der Diskurs in allen möglichen Bereichen: an den Bedürfnissen und Perspektiven der meisten Menschen vorbei.
„Man hört uns nicht zu!“
„Man nimmt uns überhaupt nicht wahr!“
„Die halten uns für dumm!“
„Die Probleme, um die es sich ständig in den Medien dreht, haben mit uns nix zu tun!“
Solche Sätze habe ich oft gehört. Unabhängig davon, ob und inwieweit man ihnen zustimmen mag, sollte das zu denken geben. Ich glaube, mehr Gespräch, mehr Austausch, mehr Offenheit für andere Sichtweisen würden helfen.
Ein homosexueller Mann in Köln sagte mir zum Beispiel, er würde das Leben, das er in Köln führt, niemals in dem Dorf leben können, in dem er groß geworden sei, nämlich offen schwul, mit einem Mann verheiratet. Da wäre er „fertiggemacht“ worden, die Leute hätten „getratscht, mich gemieden und mich weggeekelt“. „Kein Wunder, dass Leute in ländlichen Regionen sagen, LGBTQ-Themen hätten nichts mit ihnen zu tun, das spiele in ihrem Dorf keine Rolle.“ Ob diese Themen aber zu viel in den Medien vorkämen, wie mir ein paar Menschen in unterschiedlichen Dörfern sagten? „Sicher. Das Pendel schlägt jetzt vielleicht weit aus, aber das ist gut, damit wir eine neue Mitte finden.“
Im Schwäbischen, am Neckar, kam ich mit mehreren 13- bis 14-jährigen Jungen ins Gespräch. Sie sagten mir, sie nervten „diese Regenbogenfarben überall“. „Wirklich: ü – ber – all!“, sagte einer. Die anderen stimmten ihm zu. „Voll schwul!“, sagte einer, um klar zu machen, dass für ihn „schwul“ ein Schimpfwort sei. Mir war bewusst, dass manche das als Beleidigung nutzen, aber ich war doch überrascht, dass diese Teenager das so sahen. Ich hakte also nach, was genau sie störe.
„Ständig wird nur über LGBTQ-Leute geredet, in allen Serien, in allen Filmen. Es geht immer nur um die!“, sagte einer.
„In allen Läden immer Regenbogenflaggen!“, ergänzte ein anderer.
„Und auch auf so vielen Gebäuden!“, sagte ein weiterer.
Und wieder ein anderer: „Dabei sind wir doch gar nicht alle schwul! Jedenfalls die meisten nicht!“
Ich erzählte den Jungen, wie ich es als Jugendlicher und Erwachsener erlebt hatte: dass Schwule und Lesben sich verstecken mussten. Dass viele Menschen ihre sexuelle Orientierung nicht ausleben konnten, sondern als „abnormal“ und „krank“ diffamiert wurden, wenn es herauskam.
„Ist ja okay, aber trotzdem müssen wir doch nicht ständig damit beschäftigt werden! Soll doch jeder machen, was er will, aber ich will das nicht feiern müssen!“, sagte einer der Jungen.
Ich erzählte ihnen nun, dass vor gar nicht allzu langer Zeit Homosexualität in Deutschland noch strafbar war und das in nicht wenigen Ländern heutzutage leider immer noch der Fall ist. Ich erzählte ihnen, dass ich mal in der Bundeswehr gewesen bin und in meiner Zeit Soldaten, deren Homosexualität bekannt wurde, entlassen wurden. „Ich bin froh, dass wir heute in einer anderen Welt leben. Viele Menschen erfahren deswegen zwar immer noch Diskriminierungen, aber es ist doch deutlich besser geworden. Und das liegt auch daran, dass wir sehr viel darüber öffentlich reden. Vielleicht für euren Geschmack zu viel, aber das Ziel ist ja, dass diese Benachteiligungen irgendwann verschwinden. Dann ist es auch nicht mehr nötig, darüber zu reden, jedenfalls nicht so viel.“
Die Jungen sahen das ein. „Ach, und übrigens: Ihr müsst das alles natürlich nicht feiern, aber es wäre schön, wenn ihr ‚schwul‘ auch nicht als Schimpfwort verwendet.“ Die Jungen nickten stumm.
Auch in Dörfern traf ich schwule und lesbische Paare, manche berichteten von „Getuschel“, aber die meisten sagten, sie seien in ihren Ortsgemeinschaften „akzeptiert“ und „ganz normale Mitglieder der Gesellschaft“, ihre Sexualität und ihr Familienleben spielten „überhaupt keine Rolle“. Es tut sich also etwas, auch im ländlichen Raum.
Und wie bei so vielen Themen geht es manchen zu langsam, anderen zu schnell.
Heimisch und fremd
Auf dem Weg entlang der Elbe las ich im Netz, dass es in Mecklenburg-Vorpommern, ein Stück weiter nördlich von dort, wo ich gerade war, Ärger um eine Flüchtlingsunterkunft gab. Und dass dort an jenem Tag eine Demo stattfinden sollte. In der Gemeinde Upahl hatten die Bauarbeiten für dieses Heim begonnen, es regte sich Unmut darüber. Ich beschloss, einen Abstecher dorthin zu machen und mir das selbst mal anzuschauen. Denn Migration, das bekam ich auch auf meiner Fahrradtour schnell mit, ist für die Menschen überall in Deutschland ein Thema. Ein riesengroßes Thema. Und ich bekam auch mit, wie es sie, entgegen der Beteuerungen mancher Politiker und Medien, doch ziemlich konkret vor Ort betrifft.
In der Gemeinde Upahl leben etwas mehr als 1600 Menschen, in dem Dorf Upahl, in dem das Flüchtlingsheim gebaut werde sollte, etwa 500 Leute. In der Unterkunft sollten 400 Menschen untergebracht werden.
400 Flüchtlinge. In einem Dorf, in dem 500 Menschen leben.
Man muss von Politik und Flucht, von Migration und Integration und sozialen Strukturen keine Ahnung haben, um zu der Erkenntnis zu gelangen: Das kann nicht gut gehen. 400 Menschen, wahrscheinlich überwiegend junge Männer, die die Sprache nicht sprechen, anders glauben, denken, möglicherweise traumatisiert sind nach der Kriegs- und dann Fluchterfahrung, in einem Dorf mit 500 Menschen, die keine Erfahrung haben im Umgang mit solchen Menschen – wie soll das funktionieren?
Vor Ort sah ich mehrere Leute, die auf der Straße standen und demonstrierten. Ich parkte mein Fahrrad und ging nun dorthin, wo diese Menschen ihrem Unmut Ausdruck verliehen.
Ein paar Wochen zuvor, im Januar 2023, war bekannt geworden, wo die grauen Container für das Flüchtlingsheim aufgestellt werden sollten. Bei einer Dringlichkeitssitzung im Kreistag war es zu tumultartigen Szenen vor dem Tagungsgebäude gekommen, etwa 700 Menschen waren da gewesen, darunter wütende Ortsansässige, aber auch Rechtsextremisten, die eigens angereist waren. Die Polizei hatte einschreiten müssen, um ein Eindringen der Protestierenden in den Kreistag zu verhindern. Die Lokalpolitiker stimmten schließlich mit knapper Mehrheit für den Bau der Flüchtlingsunterkunft.
Jetzt, bei dieser Demo einige Wochen später, fanden sich ein paar Dutzend Leute ein. Nach einem kurzen Baustopp hatten die Arbeiten begonnen, die Baustelle, etwa 30000 Quadratmeter groß, war sicherheitshalber umzäunt. Drei Tage zuvor hatten sich der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern und einige Lokalpolitiker den Fragen der Bürger gestellt. Die Gemeinde Upahl beantragte einen Baustopp, weil sie an der Entscheidung nicht beteiligt worden sei.
Ein Mann stand nun da und starrte vor sich hin. Er sagte nichts. Er trug kein Schild. Er stand einfach nur da. Älterer Herr, vielleicht siebzig, schwarze Jacke, roter Schal, Jeans, Gesundheitsschuhe.
„Darf ich Sie fragen, was genau Sie ärgert?“
Er musterte mich kritisch.
„Sind Sie einer von denen, die hier wohnen sollen?“, fragte er mich.
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Er hielt mich allen Ernstes für einen Flüchtling, der demnächst in sein Upahl zieht! Ich musste mich anstrengen, nicht zu lachen und nichts zu sagen, das so wirken könnte, als machte ich mich über ihn lustig. Obwohl er es verdient hätte, fand ich. Aber ich wollte ja zuhören und verstehen. Und das grundsätzliche Problem – 400 Menschen in einem Ort mit 500 Menschen – sah ich.
„Nein. Ich bin nur Reisender und zufällig hier. Ich möchte verstehen, was hier los ist. Und was Sie dazu bringt, hier zu stehen und zu demonstrieren.“
„Dass wir nicht gefragt werden! Hier wird einfach über unsere Köpfe hinweg etwas entschieden: Zack, da habt ihr 400 Flüchtlinge, seht zu, wie ihr mit denen klarkommt und wo ihr die unterbringt!“
„Hätten Sie denn dem Bau eines Flüchtlingsheims zugestimmt?“
Jetzt schaute er mich überrascht an, als hätte er sich noch nie Gedanken über diese Frage gemacht.
„Also, ja, klar, prinzipiell schon. Aber nicht für 400 Leute!“
„Sondern?“
„Keine Ahnung. Dreißig vielleicht. Oder fünfzig. Aber doch nicht mehr! Hundert wären auf jeden Fall schon zu viel. Sie können doch nicht die Menschen, die hier leben, überfordern! So funktioniert das doch nicht!“
Ein Mann, vielleicht Mitte dreißig, der unserem Gespräch zugehört hatte, trat zu uns hinzu.
„Ich sehe das auch so“, sagte er. „Wir sind doch keine Unmenschen oder Nazis oder so. Aber wir sagen, dass so viele Menschen für unseren Ort einfach zu viel sind. Was sollen die Leute denn den ganzen Tag machen? An der Tankstelle rumhängen? Das ist doch auch für die, die man hierher steckt, nicht gut!“
Jetzt kam ein Paar dazu, beide vielleicht gerade im Rentenalter, sie mit Perlenohrringen und feinem Mantel, er mit schicker Skijacke. Auch sie schienen uns zugehört zu haben. „Wir hätten schon zugestimmt“, sagte der Mann. „Aber wissen Sie was? Wenn wir mehrheitlich abgelehnt hätten, müsste das auch akzeptiert werden. Das nennt man Demokratie! Nicht, dass irgendwer bestimmt, und wir haben gefälligst zu akzeptieren, ob wir das gut finden oder nicht! Sondern man muss schon dafür sorgen, dass es mehrheitlich Akzeptanz für etwas gibt! Wir werden einfach übergangen, wir werden nicht informiert und nicht gehört!“
„Genau!“, stimmte seine Frau ihm zu.
Eine weitere Frau sagte: „Es ist zum Verrücktwerden: Es kommen über die Jahre Millionen von Menschen nach Deutschland, viele aus nachvollziehbaren, andere aus weniger nachvollziehbaren Gründen. Sie kommen gezielt zu uns oder werden von den anderen europäischen Ländern gezielt nach Deutschland weitergeleitet, weil wir ja ach so reich sind und blöd genug, alle aufzunehmen. Der Bund verteilt diese Menschen sinn- und planlos auf die Bundesländer. Und die Landesregierungen schauen, wo diese Leute am wenigsten Ärger machen und von welchen Kommunen sie am wenigsten Widerstand zu erwarten haben, und dann werden die da einfach hingeschickt. Fertig, aus. Ob wir wollen oder nicht, ob wir können oder nicht.“ Und nach einer kurzen Atempause sagte sie: „Wir sind hilfsbereite Menschen. Wir nehmen Menschen auf. In all den Jahren haben wir uns engagiert. Aber so, wie das jetzt läuft – nein! Das geht so nicht!“
Ich schaute mich um. Manche Menschen trugen Schilder.
„Upahl sagt Nein!“
„Wir sagen Nein!“
„Angst um Upahl“
„Wir vermissen Demokratie!“
„Upahl wurde #nichtgefragt“
„Containerdorf – nein danke!“
„Wir fordern Baustopp in Upahl!“
Dann sah ich eine Frau, die ein Pappschild hochhielt, auf dem ein Galgen gezeichnet war. Ein Strichmännchen baumelte daran. Ich wusste nicht, wen das darstellen sollte, ob einen Politiker, auf den sie wütend war, oder einen Flüchtling.
Ich ging zu ihr.
„Was soll das darstellen?“, fragte ich sie.
„Sehen Sie doch!“, sagte sie und ging weiter.
„Darf ich ganz kurz mit Ihnen reden?“
„Was wollen Sie?“, schrie sie nun fast.
„Hören Sie, ich möchte Ihnen nur kurz etwas sagen“, erklärte ich mit so ruhiger Stimme wie möglich. Sie schien mich für einen Gegner, nein, einen Feind zu halten, dabei wollte ich nur verstehen, was sie antrieb.
„Ich möchte wissen, wogegen Sie protestieren.“
„Das wissen Sie doch! Gegen das Flüchtlingsheim!“
Sie ging immer noch weiter, jetzt aber langsamer. Offensichtlich wollte sie nicht länger mit mir reden, aber ich wollte ihr gegenüber meinen Punkt machen.
„Ich verstehe, dass Sie verärgert sind. Dass Sie offensichtlich nicht gefragt wurden und dass hier etwas über Ihre Köpfe hinweg passiert. Ich glaube, wenn Sie das vernünftig artikulieren, wird das eine große Mehrheit verstehen. Aber so? Mit Galgen? Damit diskreditieren Sie Ihren nachvollziehbaren Protest. Das ist doch keine anständige Art!“
Jetzt legte sie einen Schritt zu und ging, das Schild weiter vor sich haltend, weiter. Ich ließ sie davonziehen. Vielleicht denkt sie ja doch noch mal drüber nach, hoffte ich.
Als ich mein Telefon aus der Tasche zog, um nach der Uhrzeit zu schauen, brüllte mich ein Typ an: „Hören Sie auf zu filmen!“ Er selbst hatte ein Handy in der Hand, und ich wusste nicht, ob er mich filmte. Videos zu machen und ins Netz zu stellen, scheint die Waffe dieser Leute zu sein. Heute sagt man nicht mehr: „Waffe weg, Hände hoch!“, heute sagt man: „Hören Sie auf zu filmen!“
An diesem Tag, war mein Eindruck, waren keine ortsfremden Rechtsextremisten da, sondern wütende Menschen aus dem Ort, die zum Teil leider auf eine Art und Weise protestierten, die ihren Protest diskreditiert. Immerhin erreichten sie mit ihrem Protest, das erfuhr ich später, dass die Zahl der Menschen, die in Upahl untergebracht werden sollten, auf 250 reduziert wurde. Immer noch eine ganz schöne Herausforderung, fand ich, kaum zu bewältigen von einem so kleinen Ort.
Aber warum nicht ohne Bilder von Galgen protestieren? Ohne Hass? Das wäre viel wirkungsvoller und zielführender.
Wut und Anstand
Ich glaube, Wut kann ein Antrieb sein. Aber wann haben wir angefangen zu glauben, dass Wut allein genügt? Dass jeder und jede nur noch wütend durch die Welt stapfen muss? Was für eine Welt soll das sein? Und warum glauben so viele gesellschaftliche Gruppen das inzwischen? Was soll das werden, wenn’s fertig ist?
Viele trauen sich nicht, die Wütenden zu kritisieren, weil es die eigenen Eltern sind, der Bruder oder die Schwester, die Tochter oder der Sohn, die Freundin oder der Freund, die Nachbarn, die eigenen Leute halt. Und das kann einem schon Angst machen: dass auch in Deutschland sehr viele Menschen so sind und sich bei aller berechtigten Kritik an den Zuständen den Extremisten nicht in den Weg stellen, sondern Seite an Seite mit ihnen marschieren. Dass sie nicht merken, wann eine Grenze überschritten ist, an der das Schild steht: „Achtung, Sie verlassen jetzt das Gebiet des Anstands und der Zivilisiertheit!“
Nur wenige Monate später erlebte ich erneut, wie wenig manche Menschen sich Extremisten in den Weg stellen, sondern sie sogar unterstützen. Ich war unterwegs am Neckar und gerade in Heidelberg angekommen, als mich am 7. Oktober 2023 die Nachricht erreichte, dass die Terrororganisation Hamas in Israel eingedrungen war und dort ein Massaker angerichtet hatte. Ich las und sah Bilder, dass dieser Terror an manchen Orten in der Welt gefeiert wurde – unter anderem in Berlin-Neukölln, wo eine propalästinensische Gruppe auf der Sonnenallee Süßigkeiten verteilte. „Es lebe der Widerstand des palästinensischen Volkes. Verteilen von Süßigkeiten auf der Sonnenallee in Berlin zur Feier des Sieges des Widerstands“, stand unter einem Foto, das diese Leute auf Instagram posteten.
Ich hätte kotzen können.
Es war Thema überall. In Heidelberg, in einem Restaurant in der Innenstadt, unterhielt sich eine Gruppe etwa siebzigjähriger Menschen, ob man den Ausruf „Allahu Akbar!“ – „Gott ist am größten!“ nicht am besten verbieten beziehungsweise unter Strafe stellen sollte.
Große Güte!
Dabei konnte ich mir vorstellen, woher der Gedanke rührte. „Allahu Akbar“ ist ein ziemlich geläufiger Ausspruch unter Muslimen. Menschen murmeln es vor sich hin, wenn ihnen etwas gelungen ist, wenn sie etwas geschafft haben, wenn sie irgendwo ankommen, wenn sie Glück gehabt haben, wenn sie Gottes Hilfe erbitten. Oder einfach nur so, als Ausruf. Aber leider ist es auch ein Spruch, den religiös motivierte Terroristen schreien, bevor sie sich – und oft auch andere – in die Luft sprengen oder andere Menschen umbringen. Und jetzt, nach dem Terroranschlag der Hamas in Israel, hörte man dieses „Allahu Akbar“ überall – in den Nachrichtenbeiträgen aus unterschiedlichen Ländern, aber auch von Feiernden in Deutschland. Es war nicht als friedliche Geste gemeint, sondern als Schlachtruf. Ich konnte verstehen, dass das nicht gerade auf Sympathie stieß. Aber mir fehlte die Lust, mich in dieses Gespräch am Nachbartisch einzumischen. Wäre ich Muslim, hätte ich denen wahrscheinlich zu erklären versucht, was dieser Spruch bedeutet. Und wäre ich Muslim, würde ich Leuten, die das als Kampfparole verwenden, gehörig meine Meinung geigen.
Was ist unser Kitt?
Viel Spaltung, viel Trennendes, viele Lager, manches, das ins Extreme reicht. Wenn ich die Menschen direkt frage, ob sie finden, dass es etwas gibt, das unsere Gesellschaft zusammenhält, eint, womöglich gar eine „deutsche Leitkultur“, stimmen die meisten dann aber doch zu, trotz allem.
Sehr häufig nennen sie als einigenden Faktor das, was man im klassischen Sinne als Kultur bezeichnen würde: Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Theater, Kunst im Allgemeinen, Altes und Neues. Oft fällt auch das Wort Religion, die christlichen Werte, „was in der Bibel steht“, wie die Kirche Kunst beeinflusst und geprägt hat – auch wenn viele Menschen einräumen, dass Kirche, Glaube und Christentum heute keine so große Rolle mehr spielen wie in der Vergangenheit. Unsere Geschichte, sagen viele, sei ein weiteres einigendes Band, nicht nur die dunklen Kapitel, die uns Mahnmal sein sollten, sondern auch die Geschichte davor. Reist man durch Deutschland, erkennt man immer noch Spuren des Dreißigjährigen Krieges, in der Dorfgestaltung zum Beispiel. Sport wird häufig genannt – und das vielleicht nicht immer, aber fast immer einigende Band des Fußballs. Die deutsche Küche, das Essen in all seiner Vielfalt, von Grünkohl über Saumagen bis Maultäschle, sei ebenfalls etwas, das uns als Gemeinschaft ausmache. Und schließlich: unsere wunderbare Sprache, die vielen Dialekte, die so unterschiedlich und facettenreich sind und doch die deutsche Sprache bilden, unsere gemeinsame Verständigungsbasis. „Teutscher Zunge zu seyn, wird erfordert, um Walhallas Genosse werden zu können“, las ich beim Radfahren entlang der Donau in der Walhalla, denn die Sprache sei „das große Band, das verbindet, wäre jedes andere gleich zernichtet; in der Sprache währt geistiger Zusammenhang“.
Aus all diesen Bausteinen lässt sich ein Dach bauen, das das Deutsche vereint und uns als Gesellschaft mehr verbindet, als manche glauben mögen. Wir müssen wieder mehr miteinander sprechen. Miteinander essen. Miteinander Kultur prägen, teilnehmend oder auch nur konsumierend. Vielleicht auch mehr miteinander glauben. Immer wieder darüber streiten, wo die Grenzen liegen, das Dach aber doch weit und ausladend fassen, denn Deutschland und seine Gesellschaft sind nun mal: vielfältig, breit aufgestellt, sehr verschieden – und doch irgendwie eins, im guten Sinne.