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Gesellschaftliche Teilhabe in Zeiten wachsender Einkommensungleichheit | bpb.de

Gesellschaftliche Teilhabe in Zeiten wachsender Einkommensungleichheit

Dorothee Spannagel

/ 12 Minuten zu lesen

Einkommensungleichheit beeinflusst gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Zusammenhalt in vielerlei Hinsicht. Insbesondere Armut schränkt Teilhabe stark ein, aber auch großer Reichtum kann den Zusammenhalt bedrohen. Beides gefährdet die Stabilität der Gesellschaft.

Die ausreichende Sicherstellung gesellschaftlicher Teilhabe für alle Bevölkerungsgruppen ist eine wesentliche Voraussetzung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Gesellschaftliche Teilhabe umfasst die Möglichkeit, ökonomisch, politisch, kulturell und sozial an der Gesellschaft partizipieren zu können. Sind diese Möglichkeiten dauerhaft strukturell ungleich verteilt, gerät auch der gesellschaftliche Zusammenhalt in Gefahr. Im Folgenden soll es vor allem um die Frage gehen, welche Folgen die ungleiche Verteilung materieller Ressourcen, insbesondere der Einkommen, für gesellschaftliche Teilhabe hat. Einkommensungleichheit ist dabei nur eine, wenngleich eine zentrale Dimension sozialer Ungleichheit. Das untere und das obere Ende der Einkommensverteilung, Armut und Reichtum, sind dabei auch stets Ausprägungen sozialer Ungleichheit, sie sind mit ungleich verteilten Teilhabemöglichkeiten verbunden. Empirisch lassen sich diese Zusammenhänge auf Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) nachvollziehen. Doch zunächst einige Bemerkungen dazu, wie Armut und Reichtum als Ausprägungen sozialer Ungleichheit mit gesellschaftlicher Teilhabe zusammenhängen.

Einkommensungleichheit und gesellschaftliche Teilhabe

Deutschland ist eine kapitalistische, marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaft. Über Geld zu verfügen, ist eine wesentliche Ressource, um an der Gesellschaft teilhaben zu können. Gesellschaftliche Teilhabe zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Erstens ist sie mehrdimensional und umfasst neben der materiellen Dimension auch etwa die kulturelle, soziale oder politische Teilhabe. Zweitens gehören zu gesellschaftlicher Teilhabe objektive und subjektive Aspekte. Die tatsächliche Ausstattung von Individuen mit Ressourcen ist für Teilhabe ebenso relevant wie das subjektive Gefühl, wirklich an der Gesellschaft teilhaben zu können. So können etwa Verunsicherung oder Sorgen die gesellschaftliche Teilhabe von Personen einschränken. Drittens geht es um die prinzipielle Möglichkeit, teilhaben zu können. Ob beziehungsweise in welchem Umfang Individuen diese Möglichkeit nutzen, ist zweitrangig.

Betrachtet man nun Armut aus dieser Teilhabeperspektive, so ist diese immer eine relative Ausprägung sozialer Ungleichheit, die im Kern durch ein „wenig“ an materiellen Ressourcen definiert ist. Absolute Armutskonzepte, die Armut als ein „Leben an der Grenze menschlicher Existenz“ definieren, greifen aus der Teilhabeperspektive ebenso zu kurz wie die Vorstellung von Armut als einer objektiv messbaren Kategorie. Um dem relativen Charakter von Armut gerecht zu werden, wird diese in Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Einkommen gemessen. Hier hat sich etabliert, die Grenze bei 60 Prozent des Medianeinkommens zu ziehen.

Da Armut eine soziale Kategorie ist, beruht jegliches Armutskonzept notwendigerweise auf normativen Annahmen. Die Begrifflichkeiten, die verwendet werden, sind immer auch politisch; sie implizieren mal mehr, mal weniger Bedarf für staatliches Eingreifen. So ist zum Beispiel mal von „Armut“ die Rede – beispielsweise im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes –, mal von „Armutsgefährdung“, etwa in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung. Auch der Begriff des „Niedrigeinkommens“ findet mitunter Verwendung. All diese Begriffe stehen für ein- und denselben sozialen Tatbestand: Haushalte, die unterhalb der 60-Prozent-Einkommensschwelle liegen. Schon diese Begriffsvielfalt ist ein deutlicher Ausweis der gesellschaftspolitischen Dimension der Armutsforschung.

Viele dieser Aspekte treffen auch auf das obere Ende der Einkommensverteilung zu. Auch Reichtum ist eine soziale Kategorie. Er wird in diesem Beitrag als Einkommensreichtum verstanden und mit der üblicherweise verwendeten 200-Prozent-Medianeinkommensgrenze abgegrenzt. Als reich gilt hier also jemand, der über mehr als 200 Prozent des Medianeinkommens verfügt. Dieser Zugang lässt die Rolle, die Vermögen gerade für die „Superreichen“ unserer Gesellschaft spielt, außer Acht. Zweifelsohne sind gerade für das oberste Ende der Gesellschaft hohe und höchste Vermögen entscheidender als ein sehr hohes Einkommen: Ein entsprechendes Vermögen sichert einen gehobenen Lebensstandard dauerhaft ab und vermittelt damit deutlich mehr Sicherheit, als dies selbst bei höchsten Einkommen der Fall ist. Vor allem aber gehen solche Vermögen mit ökonomischer und, etwa bei Besitzern großer Unternehmen, oftmals auch mit politischer Macht einher. Inwieweit auch dies gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet, soll unten kurz beleuchtet werden, ist aber nicht Teil der folgenden empirischen Analyse. Aber auch die einkommensreichen Bürgerinnen und Bürger bilden eine deutlich privilegierte Gruppe, die – anders als selbst Teile der gesellschaftlichen Mitte – keinerlei strukturellen Einschränkungen ihrer gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ausgesetzt ist, wie wir sehen werden. Zuvor aber ein kurzer Überblick darüber, wie sich die Einkommensungleichheit in Deutschland in den vergangenen Jahren entwickelt hat – und mit ihr die Zahl der Menschen, die hierzulande in Armut und Reichtum leben.

Entwicklung der Einkommensungleichheit

Ein etabliertes Maß, um Einkommensungleichheit zu analysieren, ist der Gini-Koeffizient, der Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann. Dabei gilt: Je höher der Koeffizient, desto ungleicher ist die Verteilung.

Abbildung 1 zeigt schon auf den ersten Blick, dass die Ungleichheit der Einkommen seit 2010 gestiegen ist. Im Ausgangsjahr lag der Gini-Koeffizient bei 0,282; bis zum Jahr 2021 ist er auf 0,310 gestiegen. Der Anstieg konzentriert sich insbesondere auf die Jahre ab 2018, Mitte der 2010er Jahre war die Ungleichheit leicht rückläufig. Mit den hier verwendeten SOEP-Daten lässt sich auch die Entwicklung der Einkommensungleichheit seit 1991 kontinuierlich nachvollziehen (für Westdeutschland liegen seit 1984 jährliche Daten vor). Bettet man den oben dargestellten Befund in eine längere Perspektive ein, zeigt sich, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland im Jahr 2021 einen historischen Höchststand erreicht hat. Seit Mitte der 1980er Jahre waren die Einkommen nie so ungleich verteilt.

Blickt man tiefer in die Verteilung der Einkommen, zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen für je unterschiedlich arme und reiche Bevölkerungsgruppen. Armut hat über die untersuchten Jahre hinweg fast kontinuierlich zugenommen. Das gilt auch für den Anteil der Menschen, die in strenger Armut leben, die also weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens zur Verfügung haben (das sind im Jahr 2021 für einen Einpersonenhaushalt weniger als 1100 Euro im Monat). Ihr Anteil ist seit 2010 um 3,5 Prozentpunkte auf 11,3 Prozent im Jahr 2021 angestiegen, der Höchstwert wurde mit 11,5 Prozent im Jahr 2020 erreicht. Die Armutsquote, gemessen an der 60-Prozent-Schwelle (weniger als rund 1350 Euro monatlich), lag 2010 noch bei 14,2 Prozent, 2021 waren 17,8 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen – ein Anstieg von 3,6 Prozentpunkten. In beiden Fällen konzentriert sich die Zunahme auf den Anfang der 2010er-Dekade und dann wiederum vor allem auf den Zeitraum ab dem Jahr 2018. Die Armutsquote weist dabei, wie schon der Gini-Koeffizient, auch in längerer Perspektive im Jahr 2021 einen Höchststand auf: Seit 1991 lebten nie mehr Menschen in Armut als im Jahr 2021.

Wie sieht es am oberen Rand der Verteilung aus? Hier zeigt sich eine vergleichsweise große Stabilität. Die Reichtumsquote (mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens, also mehr als rund 4500 Euro verfügbares Einkommen im Monat) liegt zu Beginn der untersuchten Jahre bei etwas unter 8 Prozent, fällt bis Mitte des Jahrzehnts auf einen Tiefstand von 6,9 Prozent (2017) und steigt dann wieder etwas an. Reich sind derzeit (2021) etwa 8 Prozent der Bevölkerung, in großem Reichtum (mehr als das Dreifache des mittleren Einkommens, verfügbares Einkommen von über 6700 Euro im Monat) leben durchgehend etwa 2 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Auch hier ist im Jahr 2021 mit 2,3 Prozent ein Höchstwert erreicht.

Vier Ergebnisse sind es wert, festgehalten zu werden: Erstens ist die Ungleichheit der Einkommen seit 2010 deutlich angestiegen. Zweitens erweisen sich Reichtum und großer Reichtum über die untersuchten Jahre hinweg als recht konstant, während Armut und strenge Armut zunehmen. Drittens beruht der Anstieg der Ungleichheit mithin vor allem auf Veränderungen am unteren Ende der Verteilung. Und viertens: Einkommensungleichheit und Armutsquote erreichen derzeit Höchststände.

Facetten ungleicher gesellschaftlicher Teilhabe

Armut und Reichtum werden in diesem Beitrag als das Unter- beziehungsweise Überschreiten bestimmter Einkommenshöhen konzeptualisiert. Ausgehend davon lässt sich fragen, welche Folgen für die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen damit jeweils verbunden sind. Dazu bietet es sich an, die Teilhabemöglichkeiten der Armen, der Reichen und der Menschen in der Mitte der Gesellschaft miteinander zu vergleichen. Das soll im Folgenden für einige Teilhabedimensionen exemplarisch erfolgen. Um Reichtum geht es bei den folgenden Darlegungen nur am Rande, weil reiche Menschen in dieser Hinsicht kaum Einschränkungen in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe unterliegen. Der Fokus der Analyse liegt deshalb auf der Frage, in welchem Maß Armut die tatsächlichen Teilhabechancen von Menschen einschränkt.

Als erstes wenden wir uns der sogenannten materiellen Deprivation zu. Bei diesem Ansatz wird untersucht, wie stark Menschen aus finanziellen Gründen auf alltägliche Grundgüter verzichten müssen. Abbildung 2zeigt, dass solche materiellen Mangellagen vor allem unter Armen weit verbreitet sind.

Mehr als 18 Prozent der Armen haben kein Auto und könnten sich, selbst wenn sie wollten, keines leisten. In der unteren Mitte der Gesellschaft (Einkommen oberhalb der Armutsgrenze, aber unterhalb des Medians) müssen gerade einmal etwas mehr als 3 Prozent aus finanziellen Gründen darauf verzichten. Fast 10 Prozent der Armen können abgetragene Kleidung nicht ersetzen, in der unteren Mitte geben das nur 2 Prozent an. Das zeigt: Schon in der unteren Mitte der Einkommensbezieher ist materielle Deprivation deutlich seltener anzutreffen als unter armen Menschen. Personen mit einem Einkommen zwischen dem Median und der 200-Prozent-Reichtumsgrenze, die obere Mitte, sind dann kaum mehr von solchen Mangellagen betroffen.

Diese Zahlen geben einen Hinweis darauf, wie stark Armut mit eingeschränkter Teilhabe verbunden ist. Wer sich kein Auto leisten kann, hat in Gegenden ohne verlässlichen und gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) unter Umständen Schwierigkeiten, seinen Alltag zu organisieren. Selbst in größeren Städten mit einem dichten ÖPNV-Netz brauchen solche Menschen oft deutlich mehr Zeit für den Weg zur Arbeit, als das mit dem Auto der Fall wäre. Wer wiederum gezwungen ist, abgetragene Kleidung zu tragen, wird sich in sozialen Situationen womöglich häufiger unwohl fühlen oder sich Stigmatisierungen ausgesetzt sehen. Dass Armut auch soziale Teilhabe einschränkt, zeigt sich an den beiden letzten Items der Abbildung: Über 13 Prozent der Armen sehen sich finanziell nicht in der Lage, wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen. In der unteren Mitte sagen das etwas mehr als 4 Prozent. Überdies geben 17 Prozent der Armen an, ihre Freizeitbeschäftigungen aus finanziellen Gründen einzuschränken, also darauf verzichten zu müssen, wenigstens einmal im Monat ins Kino zu gehen oder eine Sportveranstaltung zu besuchen. In der unteren Mitte trifft das auf etwas mehr als 5 Prozent zu. Zusammenfassend zeigen die hier dargestellten Befunde zur materiellen Deprivation, wie eng Armut mit materiellen Mangellagen verbunden ist – und wie stark damit auch gesellschaftliche Teilhabe einschränkt ist. Wir sehen aber auch, dass materielle Deprivation in Ausläufern bis in die untere Mitte der Gesellschaft hineinreicht, während reiche Menschen davon nicht betroffen sind.

Wie schlagen sich Einkommensunterschiede in der Bildungs- und Erwerbsteilhabe nieder? Es ist in der Literatur gut belegt, wie eingeschränkt die Teilhabe armer Menschen an den Institutionen formaler Bildung ist. Auch die hier abgebildeten Daten weisen einen klaren sozialen Gradienten auf: Das Bildungsniveau sinkt mit der Einkommensklasse und vice versa (Abbildung 3). Fast 55 Prozent der Armen haben maximal einen Hauptschulabschluss, bis zu den Einkommensreichen sinken diese Werte auf unter 10 Prozent. Das Gegenbild dazu: Mehr als jede zweite reiche Person besitzt einen tertiären Bildungsabschluss, bei den Armen und auch in der unteren Mitte trifft das nur auf etwa jeden Sechsten zu. Ein vergleichbares Bild ergibt sich mit Blick auf den beruflichen Abschluss: In der Gruppe der Reichen hat kaum jemand keinen beruflichen Abschluss (3 Prozent), gut doppelt so viele sind es in der oberen Mitte. In der unteren Mitte liegt der Anteil der Menschen ohne Abschluss bei 14 Prozent. Unter den Armen finden sich mit über 26 Prozent fast neunmal so viele Menschen ohne beruflichen Abschluss wie unter den Reichen.

Ein deutlicher Teilhabegradient entlang der Einkommensklassen zeigt sich auch in der Erwerbsdimension: Die umfassendste Teilhabe am Arbeitsmarkt (unbefristet und in Vollzeit) finden wir bei nicht mal 16 Prozent der Armen, schon in der unteren Mitte sind es über 30 Prozent. Bei den Reichen hat mehr als jeder Zweite eine unbefristete Vollzeitstelle. Die Formen prekärer Beschäftigung – geringfügige Beschäftigung sowie befristete Beschäftigung beziehungsweise Leiharbeit – sind unter den Armen etwa doppelt so häufig wie unter den Reichen. Betrachtet man das Merkmal der Arbeitslosigkeit, also den temporären Ausschluss von der Teilhabe am Erwerbsleben, so ist das Gefälle zwischen den Armen und den übrigen Einkommensklassen noch stärker ausgeprägt als in den anderen Dimensionen. Selbst verglichen mit der unteren Mitte ist unter den Armen der Anteil arbeitsloser Personen mehr als zehnmal so hoch. Zwischen den entsprechenden Anteilen der übrigen drei Einkommensgruppen liegen hingegen keine 2 Prozentpunkte Unterschied.

Nun ist es wenig überraschend, dass arme Menschen überdurchschnittlich oft arbeitslos sind; Arbeitslosigkeit ist schließlich ein Baustein zur Erklärung ihrer Situation. Auch das oftmals sehr niedrige Bildungsniveau der Armen erklärt zum Teil ihre Armutslage und führt zu dem hohen Anteil an Arbeitslosen. Vor dem Hintergrund der Teilhabeperspektive auf Armut, die dieser Beitrag verfolgt, sollten wir dieses Bild aber umdrehen: Dass viele Arme ein niedriges Bildungsniveau haben, zeugt von einer eingeschränkten Teilhabe am Bildungssystem; dass sie überdurchschnittlich oft arbeitslos sind, ist ein Ausweis ihrer unzureichenden Erwerbsteilhabe. Aus dieser Perspektive belegen unsere Daten auch, dass gesellschaftliche Teilhabe bis in die untere Mitte der Gesellschaft teilweise eingeschränkt ist. Für Menschen in der oberen Mitte und vor allem für Reiche kann sie hingegen als umfänglich gesichert gelten.

Schlussfolgerungen

Ausgeprägte Einkommensungleichheit erodiert gesellschaftlichen Zusammenhalt in doppelter Hinsicht. Zum einen sind Arme in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe deutlich eingeschränkt: unmittelbar aufgrund mangelnder materieller Ressourcen und mittelbar wegen der Folgen, die ein unzureichendes Einkommen für weitere Dimensionen gesellschaftlicher Teilhabe wie etwa Bildung hat. All das gefährdet die gesellschaftliche Integration dieser Menschen und schwächt damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist die individuelle Perspektive.

Das Ganze lässt sich aber auch gesamtgesellschaftlich wenden: Ausgeprägte Armut wie auch hohe und vor allem stark wachsende Ungleichheiten bringen den gesellschaftlichen Zusammenhalt an sich ins Wanken. Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen kann dadurch ebenso unterminiert werden wie das Vertrauen in andere Mitglieder der Gesellschaft. Dass hohe Armut und insbesondere große Einkommensungleichheit in vielerlei Hinsicht schädlich sein können, ist seit langem bekannt: Gesellschaften mit hoher Einkommensungleichheit sind mit signifikant größeren sozialen Problemen konfrontiert – mehr Teenagerschwangerschaften etwa oder höhere Kriminalitätsraten – als Gesellschaften mit geringerer Einkommensungleichheit. All dies sind Aspekte, die den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft in eine Schieflage bringen können.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass auch sehr großer Reichtum, hier besonders Vermögensreichtum, den sozialen Zusammenhalt gefährden kann. Das gilt zum einen mit Blick auf die Verflechtung von ökonomischer und politischer Macht bei den Topvermögenden, zum anderen aber auch mit Blick auf die Gefahr, dass sich die reichen Bevölkerungsgruppen teilweise aus der Gesellschaft zurückziehen, indem sie etwa ihre Kinder auf Privatschulen schicken oder das staatliche Gesundheitssystem meiden. Sehr plakativ hat Robert Frank, ein Journalist des „Wall Street Journals“, für die USA beschrieben, wohin der Rückzug der Supereichen aus der Gesellschaft führen kann: zur Gründung von „Richistan“, einem Staat im Staate. Dass ein solches Szenario für den gesellschaftlichen Zusammenhalt alles andere als förderlich wäre, liegt auf der Hand.

Die nachhaltige Bekämpfung von Armut und die Verringerung der Einkommensungleichheit – wie auch ganz allgemein der Abbau sehr hoher sozialer Ungleichheiten – sind daher zentrale Bausteine, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. In Zeiten wie den unseren, die von multiplen Krisen geprägt sind, ist das ein großes Desiderat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeckh, Armutsforschung: Entwicklungen, Ansätze und Erkenntnisgewinn, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, Wiesbaden 2024, S. 23–55, hier S. 26.

  2. Vgl. Dorothee Spannagel/Jan Brülle, Armut ist relativ!, in: WSI-Mitteilungen 4/2024, S. 310–312.

  3. Dabei geht es immer um das sogenannte verfügbare Einkommen eines Haushalts. Das sind die Nettoeinkommen aller Haushaltsmitglieder, also abzüglich Steuern und zuzüglich Transferzahlungen wie Renten oder Kindergeld. Diese Einkommen sind inflationsbereinigt und werden für unterschiedliche Haushaltstypen standardisiert. Das Medianeinkommen ist das Einkommen, das genau in der Mitte liegt, wenn man die Einkommen der Größe nach sortiert. Im Jahr 2021 lag es für einen Einpersonenhaushalt bei 2244 Euro im Monat. Vgl. Dorothee Spannagel/Jan Brülle, Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte, WSI-Verteilungsbericht 2024, Düsseldorf 2024, S. 6.

  4. Vgl. Greta Schabram et al., Verschärfung der Armut. Paritätischer Armutsbericht, Berlin 2025.

  5. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2021.

  6. Vgl. etwa Markus M. Grabka/Jan Goebel, Realeinkommen steigen, Quote der Niedrigeinkommen sinkt in einzelnen Altersgruppen, in: DIW Wochenbericht 18/2020, S. 315–323.

  7. Vgl. Jens Beckert, Varieties of Wealth: Toward a Comparative Sociology of Wealth Inequality, in: Socio-Economic Review 2/2024, S. 475–499.

  8. Vgl. Dorothee Spannagel/Katharina Molitor, Einkommen immer ungleicher verteilt, WSI-Verteilungsbericht 2019, Düsseldorf 2019.

  9. Vgl. zu den Daten im Einzelnen Spannagel/Brülle (Anm. 3), S. 7.

  10. Vgl. Spannagel/Molitor (Anm. 8).

  11. Vgl. exemplarisch Ulf Banscherus, Gesellschaftliche Teilhabe durch Bildung?, in: Florian Blank/Claus Schäfer/Dorothee Spannagel (Hrsg.), Grundsicherung weiterdenken, Bielefeld 2022, S. 227–241.

  12. Vgl. z.B. Richard G. Wilkinson/Kate Pickett, The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone, London 2010 (dt. Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2012).

  13. Vgl. Robert Frank, Richistan. A Journey Through the American Wealth Boom and the Lives of the New Rich, New York 2007.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dorothee Spannagel für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierte Soziologin und Referatsleiterin für Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Armuts- und Reichtumsforschung, Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik.