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Meine behinderte Zukunft | Inklusion | bpb.de

Inklusion Editorial Meine behinderte Zukunft - Essay Der Faschismus in den Köpfen Historische Inklusionserfolge? Zum ambivalenten Verlauf von Inklusionsprozessen in der Geschichte behinderter Menschen Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Bestandsaufnahme und aktuelle Perspektiven Inklusive Schulbildung in Deutschland. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Inklusive Bildung – und dann? Befunde aus der Studie „Inklusion in und nach der Sekundarstufe I in Deutschland“ (INSIDE) Inklusion als Menschenrecht? Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung in Deutschland

Meine behinderte Zukunft

Rebecca Maskos

/ 16 Minuten zu lesen

Für Menschen mit Behinderungen kann die eigene Zukunft ein ambivalentes Konzept sein. Würdevolles Altern, Daseinsfürsorge, Barriereabbau und umfassende Inklusion müssen nach wie vor erkämpft werden – trotz gesamtgesellschaftlicher Relevanz.

Fliegende Autos, Menschen auf Hoverboards, jegliche Mobilitätsprobleme dieser Welt gelöst, alles barrierefrei zugänglich: Meine Vorstellung von der Zukunft sah früher immer ein bisschen so aus wie das Setdesign von „Zurück in die Zukunft 2“. Mittlerweile hat die Zeit den 2005 spielenden Film längst überholt. Doch Autos fliegen immer noch nicht, auch das „Beamen“ aus der Serie „Star Trek“ wurde zu meinem großen Leidwesen bislang nicht erfunden. Was wir bekommen haben, ist tatsächlich eine Menge technischen Fortschritts, vor allem digital, und ja, hier und da sogar ein Plus an Barrierefreiheit. Mit einem bunten, futuristischen Bullerbü hat die Gegenwart indes wenig zu tun. Zu den neuen „Verheißungen“ von KI bekommen wir Überwachungstools und Desinformation gleich mitgeliefert.

Die Vision der fliegenden Autos hätte man angesichts eines die Menschheit bedrohenden Klimawandels schon längst eintauschen sollen gegen einen flächendeckenden, funktionierenden und barrierefreien Nah- und Fernverkehr. Das ist leider nicht geschehen. Stattdessen brummt die Ölindustrie und rauchen unverdrossen die Kohlekraftwerke. Rechtskonservative Parteien fahren weltweit Wahlerfolge ein, Autokratie scheint das hippe neue (und alte) Herrschaftsmodell zu sein. Die Rechte marginalisierter Menschen, über Jahrzehnte erkämpft, werden gerade an vielen Orten im Eiltempo abgewickelt. Noch vor wenigen Jahren unvorstellbare Konfrontationen und Kriege kosten Hunderttausende das Leben und bedrohen potenziell die Sicherheit und Versorgung aller. Manchmal denke ich, ich bin im falschen Film.

Wie sieht vor diesem Hintergrund meine eigene Zukunft aus – als Frau mit Körperbehinderung, einer „schweren“ noch dazu, wie es in den Arztbriefen steht? Ich halte mich eigentlich für einen zuversichtlichen Menschen, meistens gut gelaunt, auf das Beste hoffend, anderen Menschen zugewandt. Doch der Blick in die Zukunft macht mich zurzeit nicht gerade fröhlich. Werde ich angesichts globaler Krisen noch einen selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft haben, oder meine Existenzberechtigung immer wieder neu erkämpfen müssen?

Keine Zukunft für Crips?

Denn dass ich hier bin, seit mittlerweile fünfzig Jahren, ist keine Selbstverständlichkeit. Es hat viel zu tun mit Glück – mit Eltern, die sich für mich eingesetzt haben. Es hat damit zu tun, in einem der reichsten Länder auf der Erde geboren worden zu sein, mit ausreichender Medizintechnik. Auch wenn es mich eigentlich nicht hatte geben sollen, zumindest nicht so lange, bis ins Jahr 2025 hinein, wenn es nach den Ärzt*innen kurz nach meiner Geburt gegangen wäre. Das Kind? Es wird nur ein paar Monate alt. Gehen Sie keine Bindung ein, rieten sie meinen Eltern. Nach ein paar Monaten des Überlebens hieß es, nun ja, vielleicht werden es einige Jahre. Aber die Zukunft? Ungewiss. Auf jeden Fall schmerzhaft, düster, ohne Sinn. Meine Eltern blieben zuversichtlich, gingen die Bindung ein. Aber auch sie zweifelten, ob aus dem Kind denn mal „was wird“. Ob es mal unabhängig von ihnen leben, einen Schulabschluss, eine Arbeit haben kann. An eine Liebesbeziehung oder Kinder dachten sie gar nicht erst, das war in ihren Augen ausgeschlossen. Mein Leben, seit vielen Jahren in Berufstätigkeit, mit fester Beziehung, eigener Wohnung und Auto, scheint vielen meiner Freund*innen ganz selbstverständlich zu sein. In den Augen meiner Eltern, Verwandten und des medizinischen Personals kam es lange einem Wunder gleich.

Die Prognosen weit überschritten zu haben, und auch die deutlich höher als erwartete „Lebensqualität“, teile ich mit vielen anderen Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen. Wir alle kennen die finsteren medizinischen Weissagungen aus unserer Kindheit: „Er wird nie laufen können“, „Sie wird immer Hilfe brauchen“, „Sie wird immer eine Last für die Gesellschaft sein", „Sein ganzes Leben lang werden seine Geschwister für ihn sorgen müssen“. Sätze wie diese prägten unser Aufwachsen. Dominieren sie die Erzählungen über das Leben behinderter Menschen, erfordert es innere Stärke und Zuversicht, eine eigenständige, positive Zukunft zu entwickeln.

„No Future for Crips“ – so bringt Alison Kafer diesen Diskurs der schlechten Prognose auf den Punkt. In ihrer Forschung setzt sich die Vertreterin der Disability Studies unter anderem mit genau diesen Vorstellungen von Behinderung und Zukunft kritisch auseinander. Kafer entwickelt den in der Behindertenbewegung entstandenen Begriff crip time weiter, ein Ausdruck, der sich etwa mit „Krüppel-Zeit“ übersetzen lässt. Crip time verweist zunächst auf die zeitliche Flexibilität, die Behinderung erfordert: Wege zu bewältigen dauert länger, Erschöpfung und Schmerzen halten Pläne auf, bürokratische Anforderungen und der Mangel an Assistenz und Barrierefreiheit verlangsamen das Leben an ungeplanten Stellen. Kafer nimmt darüber hinaus eine zweite Dimension von crip time in den Blick: Das Absprechen von Zukunft. Oder genauer: Die Beschränkung auf eine „kurative Zukunft“ – eine Zukunft, die nur als „Heilung“ von Behinderung vorstellbar ist. „Eine bessere Zukunft (…)“, schreibt Kafer, „ist eine, die Behinderung und behinderte Körper ausschließt; tatsächlich ist es sogar die Abwesenheit von Behinderung, die eine bessere Zukunft signalisiert. Die Präsenz von Behinderung signalisiert demzufolge etwas anderes: eine Zukunft, die zu viele Spuren der Gegenwart des Kranken zeigt, als dass sie begehrenswert sein könnte.“

Medizinisches und soziales Modell der Behinderung

Um eine gute Zukunft zu haben, müsste ich in dieser Gesellschaft nicht behindert sein, so könnte man aus Kafers Analyse lakonisch schlussfolgern. Eine Zukunft ohne Behinderung – was für mich eine Dystopie wäre, ist für viele Menschen eine verheißungsvolle Utopie. Zumindest für diejenigen, die einem rein medizinischen Modell von Behinderung anhängen. In jenem wird Behinderung als rein körperliches Phänomen verstanden, gleich einer Krankheit: als ein stets leidvolles Geschehen, das unabhängig von sozialen Bedingungen den davon Betroffenen das Leben schwer macht. Ein Leben, das deshalb korrigiert, geheilt oder besser noch vermieden werden muss. Der Mediziner Taleo Stüwe fand in seiner Interviewstudie mit niedergelassenen Gynäkolog*innen heraus, dass in der Schwangerenberatung dieses Verständnis von Behinderung immer noch dominiert – trotz einer grundlegend inklusiven Haltung, die auch in den Sprechzimmern angekommen ist. Dieser Befund spiegelt ein verengtes Bild von Behinderung, das dem gesellschaftlichen Normalzustand des Ableismus entspricht: Diskurse und Praktiken, die nicht behinderte Normalität, Autonomie und Nützlichkeit ganz grundsätzlich voraussetzen und in denen Behinderung folglich als ungleichwertig erscheint. Ableismus ist strukturell in unserer Gesellschaft verankert, und auch in unseren Köpfen fest etabliert. Dennoch gibt es, angeschoben durch die Kämpfe der internationalen Behindertenbewegungen seit Ende der 1970er Jahre, auch andere Modelle von Behinderung.

Im sozialen Modell werden die zugrunde liegenden Beeinträchtigungen und die damit verbundenen Einschränkungen nicht geleugnet, jedoch immer als eng verknüpft mit den strukturellen und kulturellen Barrieren verstanden, mit denen behinderten Menschen konfrontiert sind. Behinderung entsteht so erst im Wechselspiel mit den Barrieren, die beeinträchtigte Menschen von der Teilhabe ausschließen. Zugangshindernisse in Bildung, Arbeit und Freizeit, Hürden durch diskriminierende Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber behinderten Menschen: All dies ist menschengemacht, all dies ist gesellschaftlich – und damit aber auch veränderbar und keine „natürliche Folge“ von Beeinträchtigungen. Die Perspektive des sozialen Modells der Behinderung ist für viele behinderte Menschen, ihre Angehörigen und Freund*innen eine Selbstverständlichkeit. Sogar die Vereinten Nationen legen diese Definition von Behinderung der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde – doch im „Mainstream“ der dominanten alltagsweltlichen Diskurse scheint sie bisher nicht angekommen zu sein.

Wäre meine Mutter also heute mit mir schwanger, und säße sie in einem der Sprechzimmer aus Taleo Stüwes Studie, dann könnte es gut sein, dass ich gar nicht erst auf die Welt käme. Denn meine Beeinträchtigung lässt sich mittlerweile relativ einfach prognostizieren – zumindest, wenn man einen Verdacht hat, reicht ein Tropfen Blut schon für die Diagnostik aus. Die neuen, nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) sind in der Lage, Bestandteile der DNA des Ungeborenen im Blut der Mutter zu analysieren. Auch wenn die Tests gerade mal eine Wahrscheinlichkeitsrechnung erlauben, bei jüngeren Schwangeren noch dazu eine häufig fehlinterpretierte – „guter Hoffnung“ wäre meine Mutter nach einer negativen Prognose dann wahrscheinlich nicht mehr gewesen. So viel spräche vielleicht dagegen, ein Kind mit meiner Beeinträchtigung auf die Welt zu bringen – zu sehr widersprechen behinderte Kinder den Hoffnungen für und Erwartungen an das Kind, zu prägend sind negative Einstellungen gegenüber behinderten Menschen. Schuldzuweisungen stehen im Raum, eine ökonomische und soziale Belastung zur Welt zu bringen. Falls sie sich doch für das Kind entscheiden würde, müsste sie sich auf dem Spielplatz unter Umständen anhören, ob „das“ denn heute noch sein müsse – so erzählen es zumindest Eltern von Kindern mit dem Down-Syndrom.

Seit Juli 2023 wird der NIPT auf genetische Trisomien wie dem Down-Syndrom von den Krankenkassen übernommen, woraufhin in der Schwangerenversorgung eine große Nachfrage nach dem Test entstanden ist. Auch wenn fast alle Beeinträchtigungen erst im Laufe des Lebens erworben werden und nur drei Prozent angeboren sind oder während der Geburt entstehen, hält sich hartnäckig der Glaube, dass einem eine Behinderung als willkürliches „Schicksal“ nicht einfach widerfährt. Stattdessen wird Behinderung zunehmend zu einer Frage von Prävention, Eigenverantwortung und bewusster Entscheidung.

Behinderung in der Gesellschaft der Individuen

Der Diskurs um die Individualisierung von Behinderung zieht sich durch viele Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens. Er passt sich ein in eine gesamtgesellschaftliche Individualisierung, in eine „Risikogesellschaft“, wie sie der Soziologe Ulrich Beck nannte: Eine sich wandelnde Moderne, in der Menschen aufgerufen sind, sich immer weiter zu optimieren und dabei zunehmend auf sich selbst gestellt sind; Lebensrisiken sollen allein bewältigt werden. Die individualisierte Gesellschaft, in der die Bindungen etwa von Familie, Freund*innen, Nachbarschaften und Kolleg*innen brüchiger werden, ruft nach Eigenverantwortung: Alle dürfen selbst entscheiden, wie das Leben zu führen ist und wie der eigene Körper versorgt werden soll. Es ist nicht mehr Gott, der die Geschicke lenkt, sondern das Subjekt. Diese Freiheit des Individuums ist erstmal eine Errungenschaft: nicht mehr unterworfen zu sein, etwa der Kirche oder der Familie, und durch Patientenverfügungen auch nicht mehr einem fremdbestimmenden Medizinbetrieb.

Die Freiheit bringt jedoch auch eine neue Bürde mit sich, einen Zugzwang, eine Wahl zu treffen aus einer Vielzahl von Optionen, sich verhalten zu müssen gegenüber den Angeboten der Medizin, ethischen Diskursen und gesellschaftlichen Erwartungen. Es ist nicht nur ein Selbst-entscheiden-Dürfen, es ist auch ein Selbst-entscheiden-Müssen: Es gilt, Vorsorge zu treffen – um der Gesellschaft eben nicht „zur Last zu fallen“.

Eigenverantwortlich leben und sterben

Besonders brisant wird die Eigenverantwortung, wenn es um den beeinträchtigten und alternden Körper geht. Wenn sich die Individualisierung der Gesellschaft derart zuspitzt, dass wir nicht nur zu Beginn des Lebens, sondern auch am Ende Verantwortung übernehmen sollen. Wenn wir also alle aufgerufen sind, für unseren sozialverträglichen Tod selbst Sorge zu tragen – eigenverantwortlich zu handeln, im Leben wie im Sterben. Klingt zynisch? Ist es leider nicht. Der Blick ins Nachbarland Niederlande ist besorgniserregend: Es ist dort mittlerweile üblich geworden, nicht eines natürlichen Todes zu sterben, sondern durch ärztliche Hand – selbst gewählt und frei verantwortlich entschieden. Seit über zwanzig Jahren ist die „Euthanasie“, wie es in den Niederlanden ganz offen heißt, erlaubt: „Euthanasie“ ist altgriechisch und steht für „schöner Tod“. Als „Euthanasie“ wurde gleichwohl auch das nationalsozialistische Programm zur massenhaften Tötung behinderter und psychisch beeinträchtigter Menschen bezeichnet, dem rund 300.000 Menschen mit Behinderungen zum Opfer fielen. In Deutschland nennt man das Verabreichen tödlicher Substanzen durch ärztliches Personal deshalb nur ungern bei diesem historisch belasteten Namen und spricht stattdessen eher von „aktiver Sterbehilfe“.

Was in den Niederlanden zunächst nur für schwer kranke Menschen in der Sterbephase gedacht war, hat sich über die Jahre immer mehr ausgeweitet. Mittlerweile gilt das Kriterium des „unerträglichen Leidens", unabhängig von Alter und Schwere der Erkrankung. Doch was heißt das genau, „unerträgliches Leiden“? Die Definition hängt stark von persönlichen Bedeutungszuschreibungen und ärztlichen Einschätzungen ab, oft von Hausärzt*innen. In den Niederlanden nehmen sich mit ihrer Hilfe inzwischen vierzigjährige Suchtkranke oder junge Depressive das Leben. Oft werden die Beweggründe für die aktive Sterbehilfe erst im Nachhinein geprüft; etwa, ob man nicht auch die Medikation oder die Lebensumstände hätte verbessern können. Die aktive Tötung „schwer beeinträchtigter“ Säuglinge durch Ärzt*innen ist bereits seit 2005 straffrei, inzwischen darf auch für Kinder unter zwölf Jahren die „Euthanasie“ beantragt werden.

Mit einem Anteil von rund 10.000 Fällen pro Jahr und über fünf Prozent aller Sterbefälle ist die „Euthanasie“ in den Niederlanden inzwischen zu einer akzeptierten und normalen Form des Sterbens geworden. Krebskranke und anderen Menschen mit schweren Beeinträchtigungen müssen sich dort fragen lassen, warum sie denn keine „Euthanasie“ genutzt haben. Inzwischen schmeißen ehemalige „Euthanasie“-Gutachter hin und sagen, die Situation sei „außer Kontrolle geraten“. Laut einer repräsentativen Befragung des niederländischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2020 wollen rund 10.000 aller Niederländer*innen über 55 Jahren ihr Leben frühzeitig beenden – auch wenn sie nicht ernsthaft erkrankt sind. Als Gründe werden vielmehr Einsamkeit genannt (über die Hälfte der Befragten), Geldsorgen, und die Angst, anderen zur Last zu fallen (jeweils rund ein Drittel). Rund die Hälfte derjenigen, die mit dem Gedanken an ein frühes Lebensende spielen, hat einen niedrigen sozioökonomischen Status und fühlte sich einsam. „Mit diesen Ergebnissen ist das Bild vom autonomen, hochgebildeten und finanziell abgesicherten Menschen, der den Tod in einem freien Akt der Selbstbestimmung wählt, deutlich ramponiert“, kommentiert die Wissenschaftsjournalistin Susanne Kummer.

Auch aus Kanada gibt es verstörende Nachrichten: Seit 2016 ist dort „Medical Assistance in Dying“ (MAiD) erlaubt. Die ersten gesetzlichen Regelungen dazu bezogen sich, wie in den Niederlanden, auf Menschen, deren Tod bereits absehbar war. Doch die Grenzen wurden immer weiter aufgeweicht. Seit 2021 können nun auch Menschen Sterbehilfe in Anspruch nehmen, die eine „schwerwiegende“ und „unheilbare“ Behinderung oder Krankheit haben, die aber nicht lebensbedrohlich sein muss. Das könnte man über meine Beeinträchtigung beispielsweise auch sagen. Kanadische Menschenrechtsgruppen und Interessenvertretungen behinderter Menschen sprechen von einem alarmierenden Trend: Behinderte Menschen beantragen Sterbehilfe, weil sie arm sind, keine Assistenz oder barrierefreien Wohnraum bekommen.

Außerdem darf das Gesundheitspersonal in Kanada Sterbehilfe proaktiv als Option ins Gespräch bringen, wenn es behinderten Menschen wegen ihrer sozialen Lebensumstände schlecht geht. Bekannt wurde das Beispiel von Roger Foley, der im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt keine ambulante Pflege bekam und deshalb im Krankenhaus festsaß. Gespräche mit dem Gesundheitspersonal dokumentierte er auf Tonband. Der Ethikbeauftragte rechnete ihm vor, wie teuer sein Aufenthalt im Krankenhaus sei und schlug ihm Sterbehilfe vor. Das staatliche kanadische Gesundheitssystem bietet vielfach nur ein Minimum an Versorgung, die Wartezeiten auf Facharzttermine sind lang. Und dennoch kostet das Gesundheitssystem den kanadischen Staat viel Geld. Bei der Einführung der Sterbehilfe wurde daher auch das damit verbundene Einsparpotential ins Feld geführt.

Nach der Schweiz, Australien, Neuseeland, Kolumbien, Portugal, Spanien und Österreich hat im Februar 2020 auch Deutschland eine Form der Sterbehilfe erlaubt: den assistierten Suizid. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat nun jede*r das Recht auf einen selbstbestimmten Tod, und auch darauf, sich dabei helfen zu lassen – sofern man sich frei dazu entscheidet. Ausdrücklich betont hat das Gericht, dass dies davon unabhängig sein soll, ob man jung oder alt, gesund oder krank ist. Die Freiverantwortlichkeit soll durch ein ärztliches Gutachten festgestellt werden. Doch wer diese Gutachten ausstellen darf, ist derzeit noch ungeregelt. Keiner der Gesetzesvorschläge dazu, etwa zu vorgeschriebenen Bedenkzeiten und verpflichtender Beratung, fand 2023 eine Mehrheit im Bundestag. Es gibt auch keine genauen Datenerhebung – so kann man hierzulande noch nicht absehen, wie sich diese Liberalisierung auswirken wird. Deutlich wird jedoch bereits jetzt ein Anstieg der Anträge, auch jenseits von fortgeschrittenen, schweren Erkrankungen – trotz palliativmedizinischer Angebote für ein würdevolles Lebensende, etwa in Hospizen.

Behindert durch Rechtsruck und Klimakrise

Mir schwant, dass mein Wunsch nach einem guten Leben, nach Teilhabe – oder auch: schlicht nach Überleben – in einer immer stärker individualisierten Gesellschaft in Zukunft nicht mehr selbstverständlich sein wird. Das zeigt sich schon jetzt: In Großbritannien etwa hatte die Labour-Partei jüngst versucht, Sozialleistungen für behinderte und alte Menschen massiv zu kürzen. Durch Proteste der Behindertenbewegung und Widerstand in den eigenen Reihen konnten die Kürzungen in letzter Minute verhindert werden. Kurz zuvor wurde auch in England und Wales ein Gesetz zur Freigabe des assistierten Suizids verabschiedet. Manch eine sieht hier einen Zusammenhang und sorgt sich, dass behindertes Leben unter Kostenvorbehalt gestellt wird; manch anderer feiert das neue Gesetz als Erfolg einer linksliberalen Politik der Selbstbestimmung.

Doch auch rechtskonservative Regierungen sparen an der Unterstützung behinderter und kranker Menschen. So etwa in den USA: Am 4. Juli 2025 trat die „Big Beautiful Bill“ in Kraft. Dadurch wurden die staatlichen Gesundheitszuschüsse für behinderte, alte und einkommensschwache Menschen – bekannt als „Medicare“ und „Medicaid“ – in einem Umfang gestrichen, der Betroffene fundamentale Einschnitte in ihr selbstbestimmtes Leben befürchten lässt. Behinderte Menschen als ökonomische und soziale Belastung, das ist eine Logik, die in gegenwärtigen, deutschen Debatten um Inklusion zwar selten offen ausgesprochen wird, aber mitunter im Subtext mitschwingt. In rechten Narrativen, etwa jenen der AfD, bleibt es nicht immer beim Subtext: Für sie gilt vor allem die schulische Inklusion als fehlgeleitetes „Ideologieprojekt“, das die nicht behinderten Kinder am Lernen hindere und zu viel koste. In einer Gesellschaft, wie sie sich die AfD und andere Rechtsaußenbewegungen wünschen, sollen nur jene gefördert werden, die der Gesellschaft nützen. Und diese Gesellschaft soll möglichst homogen sein – nur ein „normal funktionierendes“, nicht behindertes Volk könne die Nation wieder nach vorne bringen. Der vermeintlich mangelnde Wert eines Lebens mit Behinderung unterfüttert diese Zukunftsvision.

Ich befürchte: Dann entscheiden sich zunehmend Menschen mehr oder weniger selbstbestimmt dafür, ihr kostspieliges Leben frühzeitig abzukürzen. Vielleicht bin ich, falls ich einmal sehr schwer krank und alt bin, froh über die Möglichkeit, einen qualvollen Sterbeprozess früh beenden zu können? Vielleicht dienen aber meine Beeinträchtigung und mein Alter der Krankenkasse auch als Begründung dafür, mir lebenswichtige Therapien und Hilfsmittel nicht mehr zu finanzieren und mir stattdessen Sterbehilfe anzubieten? Ich halte in nicht allzu ferner Zukunft beide Szenarien für realistisch.

Denn ohnehin wird es in Zeiten globaler Krisen und Kriege zu knappen Ressourcen und Verteilungskämpfen kommen, bei denen behinderte Menschen nicht unbedingt gut dastehen. Kann ich mein Atemgerät, auf das ich nachts angewiesen bin, noch nutzen, wenn Lieferketten einbrechen? Was ist mit meiner an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit – werde ich auf Dauer Batterien für meine Hochleistungshörgeräte bekommen? Werden beeinträchtigte Menschen wie ich noch die Medikamente erhalten, die wir brauchen? Dabei bin ich als finanziell derzeit abgesicherte, weiße Person noch vergleichsweise privilegiert. Ich habe im Laufe meines Lebens auch genug Bildungschancen und Kenntnisse über das Hilfesystem bekommen, um zumindest zu versuchen, mich mit Ämtern und Kassen um meine Versorgung zu streiten. Vielen behinderten Menschen ist das nicht so einfach möglich. Im Schnitt um ganze 23 Jahre niedriger ist die Lebenserwartung behinderter Menschen in den ärmsten Ländern der Welt, rechnete kürzlich UNICEF in einer Studie im Auftrag für das Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus. Für behinderte Menschen in wohlhabenderen Ländern beträgt das Minus an durchschnittlicher Lebenserwartung immerhin rund zehn Prozent.

Wenn sich aber in Folge des Klimawandels meine Wohnung erbarmungslos aufheizt, wenn ich in einen Waldbrand gerate, oder in eine Flutkatastrophe – dann nützen mir Privilegien und Bildung wenig. Die Waldbrände in Los Angeles im Januar 2025 haben gezeigt, wie benachteiligt behinderte Menschen im Katastrophenfall sind. Auch in Deutschland ertranken 2021 bei der Flut im Ahrtal zwölf Bewohner*innen einer Einrichtung der Lebenshilfe, weil die einzige Betreuungskraft ihre Rettung nicht bewältigen konnte. Im Katastrophenfall ist das Todesrisiko für Menschen mit Behinderung weltweit doppelt bis viermal so hoch wie bei nicht behinderten Menschen. Zudem ist Katastrophenschutz bislang kaum inklusiv – nicht immer können hörbehinderte Menschen Warnsignale mitbekommen, nicht immer werden gehbehinderte Menschen evakuiert, etwa weil wir im Brandfall den Fahrstuhl nicht benutzen dürfen oder schlicht nicht aufs Rettungsboot kommen.

Meine Zukunft

All diese Ausblicke lassen mich ziemlich ratlos zurück. Oft mache ich einfach die Augen zu; blende sie aus, meine crip future. Was hilft gegen Pessimismus und Zukunftsangst? Vielleicht fange ich damit an, sie aufzuschreiben, um dann mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen. Auch darüber, dass es letztlich keine klare Grenze zwischen beeinträchtigt und nicht beeinträchtigt gibt. Dass es zwar Barrieren und ableistische Einstellungen sind, die manche Menschen ungleich härter treffen, Beeinträchtigung aber ein universales Phänomen ist: Wir alle sind in Phasen unseres Lebens beeinträchtigt, und dadurch abhängig und verletzbar. Crip time ist früher oder später eine Realität für alle, vor allem im zunehmenden Alter. Gerade der Klimawandel macht uns klar, dass wir als Menschen alleine machtlos sind gegen die Natur – und dass es nur ein solidarisches, kooperatives Handeln ist, das uns leben und überleben lässt. Hoffnung macht mir, dass ich um mich herum immer mehr Menschen sehe, die sich mit dem Thema Behinderung beschäftigen – und die daraus mitnehmen, dass „Nichtbehinderung“ und die Unverletzlichkeit des Menschen eine Fiktion sind. Das ist – immerhin – ein Anfang.

ist Professorin für Disability Studies an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und freie Journalistin zu den Themen Behinderung, Ableismus, Gender und Inklusion.