Mit „Inklusion? War da was?“ überschrieb die „Zeit“ kürzlich einen Artikel, der mit Blick auf den Fortschritt der Inklusion an Schulen ein ernüchterndes Fazit zog. In den vergangenen fünf Jahren sei das gemeinsame Lernen behinderter und nicht behinderter Schüler:innen den Ergebnissen einer Forsa-Studie zufolge kaum vorangekommen; unter Lehrkräften herrschten „Frust und Überforderung“ – auch aufgrund des von „Ignoranz und Tatenlosigkeit“ bestimmten politischen Umgangs mit dem Thema.
Für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die Geschichte von Menschen mit Behinderungen im Besonderen gilt: Wenn von Erfolg gesprochen wird, muss auch von Misserfolg gesprochen werden, und wenn Inklusion in den Blick genommen wird, muss gleichzeitig auch Exklusion untersucht werden. Diese grundsätzlichen Bemerkungen gilt es voranzustellen, wenn man sich die Aufgabe stellt, historische Inklusionserfolge in der Geschichte behinderter Menschen zu beleuchten.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass unter Inklusion durchaus verschiedene Dinge verstanden werden können. Zeithistorisch betrachtet handelt es sich um einen jungen Begriff, da bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eher von „Integration“ gesprochen wurde. Ohne zu tief in die vielschichtige und interdisziplinäre Terminologiedebatte einzusteigen, lässt sich festhalten, dass der grundlegende Unterschied zwischen Integration und Inklusion im Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft und betroffener Personengruppe besteht. Integration bedeutet somit auf den konkreten Fall übertragen, dass behinderte Menschen sich befähigen oder dazu befähigt werden, in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen eingegliedert zu werden. Inklusion meint hingegen, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre exkludierenden Praktiken und Barrieren in dem Maß abbaut, dass zuvor von Teilhabe ausgeschlossene Personengruppen gleichwertig in allen Lebensbereichen partizipieren können.
Es ist daher geschichtswissenschaftlich unzulässig, heute geltende – und nach wie vor umstrittene – Vorstellungen inklusiver Maßnahmen und Prozesse eins zu eins in die Zeitgeschichte zu übertragen, um vergangene Gesellschaften an diesen Maßstäben zu messen. Entsprechend werden im Folgenden historisch vorherrschende Interpretationen von Inklusion und Integration kritisch beleuchtet, ohne diese mit gegenwärtigen gleichzusetzen. So vorzugehen, bedeutet auch, die Handlungsspielräume zeitgenössischer Akteure und deren jeweiligen Wissensstand und Wertehaushalt ernst zu nehmen.
Schließlich hilft bei der geschichtswissenschaftlichen Einordnung von Inklusionserfolgen eine kleine, aber wirkmächtige Perspektivverschiebung, die in aktuellen Debatten oftmals zu kurz kommt: Inklusion nicht als Zustand zu betrachten, sondern als Prozess. Durch diese Perspektivierung kann es gelingen, die oftmals unbefriedigende Erkenntnis beiseite zu schieben, dass Inklusion ohnehin nicht erreicht werden könne. Das ist zum einen richtig, geht zum anderen aber, zumindest was die wissenschaftliche Analyse von Inklusionsprozessen angeht, an der Sache vorbei. Denn wo Inklusion nicht als (unerreichbarer) Zustand markiert ist, sondern als andauernde Aufgabenstellung für Gesellschaften, die sich der möglichst egalitären Partizipation aller ihrer Mitglieder verschrieben haben, wird Inklusion von der Utopie zum Dauerprojekt. Wiederum in die Geschichte übertragen, können Historiker:innen folglich jene Akteure und Impulse in den Blick nehmen, die dieses Dauerprojekt vorangetrieben oder behindert oder mit wechselndem Erfolg in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen initiiert und gepflegt haben.
Die aufgeführten Fallbeispiele unterliegen notwendigerweise einer zwar nicht willkürlichen, aber subjektiven Auswahl. Sie sollen aufzeigen, dass in der Disability History weder Erfolg und Misserfolg noch Inklusion und Exklusion als sich gegenseitig ausschließende Begriffe gelten können. Entsprechend sind alle behandelten Beispiele auf ihren ambivalenten Charakter für unterschiedliche Personengruppen zu untersuchen.
„Krüppelfürsorge“ und Utilitarismus im 19. und 20. Jahrhundert
Die Debatte um Erfolgsnarrative begleitet die Disability Studies beziehungsweise Disability History schon länger.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich die „Krüppelfürsorge“. Denn für die europäischen Nachkriegsgesellschaften waren die Millionen kriegsversehrten Männer ein soziales Problem, das mittels rehabilitativer Maßnahmen und beruflicher Wiederbefähigung gelöst werden sollte. Unter Orthopäden machte sich in den frühen 1920er Jahren nahezu eine euphorische Experimentierfreude breit, da die oftmals an den Gliedmaßen amputierten Kriegsversehrten als lebendige Testobjekte für neue Prothesenmodelle herangezogen werden konnten.
Derartige Entwicklungen in den Bereichen Gesetzgebung und Ausbildung allerdings als Erfolge zu verbuchen, fällt nicht nur in der Retrospektive schwer. Denn bereits zeitgenössisch regte sich von entstehenden Selbsthilfeverbänden behinderter Menschen Protest gegen die absondernden und ebenso paternalistisch wie utilitaristisch aufgeladenen sozialpolitischen Maßnahmen. Allerdings sollten diese Widerstände in der Weimarer Zeit von kurzer Dauer und ohne nachhaltige Durchschlagskraft bleiben.
Privilegierung kriegsversehrter Männer in der Bundesrepublik
Während des Nationalsozialismus wurde die Einordnung behinderter Menschen nach Nützlichkeitskriterien auf grausame Weise intensiviert. Kriegsversehrte Männer – sowohl des Ersten als auch des Zweiten Weltkriegs – wurden propagandistisch als „Ehrenbürger der Nation“
Diese Hintergründe müssen berücksichtigt werden, wenn inklusive Prozesse in der Bundesrepublik in den Analysefokus genommen werden. Denn mitnichten bedeuteten 1945 oder 1949 ein Ende der Binnenhierarchisierung der oftmals monolithisch gedachten Gruppe behinderter Menschen oder ihrer Kategorisierung nach ökonomischer Verwertbarkeit. Ganz im Gegenteil: Die von ökonomischem Wiederaufbau geprägten ersten beiden Nachkriegsdekaden standen ganz im Zeichen der beruflichen Wiedereingliederung kriegsversehrter Männer. Für sie entwarf die frühe Bonner Republik umfassende Rehabilitationsprogramme von Gehschulen für Amputierte über körperliche Wiederertüchtigung durch Sport bis hin zu nach Quoten geregelten Berufsförderungsmaßnahmen. Dabei zeigte sich eine enge Verzahnung von einflussreichen Interessenorganisationen wie dem „Reichsbund der Körperbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen“ (Reichsbund) und dem „Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands“ (VdK) mit der politischen Entscheidungsebene.
Wohnen, Arbeit, Freizeit – ambivalente Erfolge seit den 1970er Jahren
Ab den 1970er Jahren rückte die gesellschaftliche Partizipation von Menschen mit Behinderung stärker in den Fokus. Einen entscheidenden Impuls für den einhergehenden Wandel des Verständnisses von Integration als Frage der beruflichen Eingliederung brachte die öffentliche Aufmerksamkeit für die Folgen des Conterganskandals. Die oftmals gezielt mitleiderregenden Bilder contergangeschädigter Kinder sensibilisierten breitere Bevölkerungsschichten für das zuvor meist mit Kriegsversehrtheit in Verbindung gebrachte Thema. Nun entstanden beispielsweise durch die „Aktion Sorgenkind“ (heute „Aktion Mensch“) Organisationen, die vorherrschende Berührungsängste und Stereotypisierungen der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft aktiv infrage stellten.
Ganz im Zeichen der zeitgenössischen Tradition sozialstaatlicher Planungseuphorie symbolisierten Modellprojekte den Aufbruch in eine neue Phase der Behindertenpolitik. Barrierefreie Begegnungsstätten für behinderte und nicht behinderte Menschen wie das 1973 von Bundesarbeitsminister Walter Arendt feierlich eröffnete „Haus der Behinderten“ in Bonn standen paradigmatisch für die Reformbestrebungen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure. Wie Elsbeth Bösl hierzu jedoch einschränkend anmerkt, blieben Überhänge aus der traditionellen Interpretation von Behinderung als individuellem Defizit bestehen, und ehrgeizige Aktionspläne blieben in ihrer Umsetzung oft hinter den Erwartungen zurück. Was sich jedoch definitiv durchzusetzen begann, war die Einsicht, dass Behinderung als „soziales Problem (…) nicht nur vom Einzelnen ausging, sondern es auch gesellschaftliche und kulturelle Ursachen, zumindest aber Problemverstärker geben könnte".
Ein Bereich, der in der Folge in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet, war die Wohn- und Lebenssituation behinderter Menschen. Auch in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten dominierten außerhalb der Kernfamilie Wohnformen für Menschen mit Behinderungen, die räumlich von der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft getrennt, „als Typus zwischen Krankenhaus und Kaserne“ zu verorten waren, wie Wilfried Rudloff formuliert. Dieses Anstaltswesen nicht nur zu kritisieren, sondern tatsächlich zu reformieren, war das Ziel des ab den 1970er Jahren intensivierten Deinstitutionalisierungsprozesses. Menschen mit Behinderungen, die in von alltäglicher und umfassender Kontrolle geprägten Anstalten untergebracht waren, sollten „ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung und individueller Lebensgestaltung“ ermöglicht werden.
Wie die Historiker:innen Gabriele Lingelbach und Jan Stoll anhand der diakonischen Einrichtung Friedehorst bei Bremen herausgearbeitet haben, kam den sich ab den frühen 1970er Jahren stärker organisierenden Bewohner:innen derartiger Anstalten eine entscheidende Rolle zu. Eine jüngere, von allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen der Enthierarchisierung und Demokratisierung inspirierte Generation behinderter Menschen begann, ihre Forderungen nach mehr Teilhabe und Selbstbestimmung stärker vorzubringen. Formen der separierten Unterbringung und damit einhergehend die Vorbereitung auf eine Erwerbsarbeit im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt – wie beispielsweise in Werkstätten für behinderte Menschen – wurden von den betroffenen Personen zunehmend als unzeitgemäß kritisiert. Diese überkommenen, aber sich innerhalb der Anstaltswelt oftmals zäh haltenden Phänomene waren Ausdruck eines spezifischen Verständnisses von Behinderung, das sich in dieser Zeit zu wandeln begann. Denn eben jene separierten Räume des Wohnens und Arbeitens wurden – in der paternalistischen Tradition des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stehend – als Schutzräume deklariert. Menschen mit Behinderungen wurde vonseiten politischer Akteure, Einrichtungsträgern und Rehabilitationswissenschaftler:innen schlichtweg nicht zugetraut, sich in der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft behaupten zu können.
Da sich ab den 1970er Jahren allerdings auch in diesen institutionellen Bereichen ein nicht zuletzt generationell bedingter Bewusstseinswandel durchzusetzen begann, fielen die Proteste behinderter Menschen fortan auf fruchtbareren Boden.
Allerdings ist einzuschränken, dass derartige selbstbestimmte Wohnformen noch in den 1990er Jahren nur etwa 15 Prozent der außerhalb ihrer Familie lebenden Menschen mit Behinderungen zur Verfügung standen. Vor allem für Menschen mit Lernschwierigkeiten blieb die Unterbringung in Heimen – sofern sie nicht mit ihren Familien lebten – der Normalfall.
Nachdem die Lebensbereiche Wohnen und Arbeit durch das Zusammenspiel der genannten Akteursgruppen eine Thematisierungshochphase erlebt hatten, folgte mit leichter zeitlicher Verzögerung auch das Thema der selbstbestimmten Freizeitgestaltung. Für behinderte Jugendliche und junge Erwachsene bedeutete Teilhabe an Freizeit in erster Linie Zugang zu entsprechenden Aktivitäten – ein Zugang, der ihnen häufig durch vielfältige Barrieren verwehrt blieb. Besonders mobilitätseingeschränkte Personen stießen auf erhebliche Hindernisse: Sportstätten, Kneipen, Diskotheken, Kinos und der öffentliche Nahverkehr waren baulich kaum zugänglich. Die bestehenden Freizeitangebote, etwa in Behindertensportvereinen, orientierten sich vorrangig an den Bedürfnissen älterer, meist kriegsversehrter Männer und boten kaum Raum für zeitgemäße, selbstbestimmte und freudvolle Freizeitgestaltung.
Diese strukturellen Missstände thematisierte die Zeitschrift „Luftpumpe“ noch 1978 in einer Artikelreihe unter dem Titel „Freizeit: Die grosse Leere?“
Obwohl diese integrativen Projekte nach heutiger Lesart Inklusionsmaßnahmen nahekommen, waren sie nicht zwingend von Dauer oder nachhaltigem Erfolg geprägt. Gerade für Menschen mit Lernschwierigkeiten blieben Freizeit- und Sportangebote stark begrenzt. So ist auch die Gründung von „Special Olympics Deutschland“ 1991 differenziert einzuordnen: Einerseits bietet die Organisation eine stabile und regelmäßig sichtbare Plattform für den Sport von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Andererseits steht ihre Existenz auch dafür, dass es in Deutschland nicht gelungen ist, einen Sportverband für alle Menschen zu schaffen. Diesen Weg ging beispielsweise Norwegen, wo 1998 alle Behindertensportvereine aufgelöst und in die Sportfachverbände inkludiert wurden, die nun für behinderte wie nicht behinderte Menschen gleichermaßen zuständig sind. Von derart umfassend inklusiven Verhältnissen ist der Sport- und Freizeitbereich in Deutschland nach wie vor weit entfernt.
Inklusion als Daueraufgabe
Letztlich zeigt somit auch das Beispiel der Freizeitgestaltung, dass von schrittweisen Verbesserungen, die für alle Gruppen behinderter Menschen zugleich umgesetzt werden, historisch nicht ausgegangen werden kann. Erstens hingen Maßnahmen der Eingliederung, Integration und Inklusion immer von gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeitsökonomien ab. Zweitens kam den Lobbys einzelner Gruppen behinderter Menschen, differenziert nach der Ursache und der Art der Beeinträchtigung sowie nach dem Geschlecht und dem Alter der betroffenen Personen, immer entscheidendes Gewicht bei der Frage zu, welche Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu welchem Zeitpunkt erstritten werden konnten.
Hinsichtlich der oben erwähnten Debatte innerhalb der Disability History beziehungsweise Disability Studies, ob für die Geschichte behinderter Menschen in der „Moderne“ eher von einer Erfolgs- oder Niedergangserzählung auszugehen ist, war im Rahmen des Beitrags der Blick auf einen längeren Zeitraum notwendig. Erst in dieser Perspektivierung wird ein allmählicher Trend zu mehr Partizipation und Selbstbestimmung erkennbar, der gegen ein verkürzendes Niedergangsnarrativ spricht. Wie die verschiedenen Beispiele dennoch gezeigt haben, ist die Benennung erfolgreicher Beispiele der Inklusion in der deutschen Geschichte behinderter Menschen mit einigen Vorbehalten verbunden. So ist es wohl abschließend treffender, von Desegregations- als von tatsächlichen Inklusionserfolgen zu sprechen, um damit auch nochmals den prozessualen, niemals abgeschlossenen Charakter dieses andauernden gesellschaftspolitischen Vorhabens zu unterstreichen. Die vorgestellten Episoden sind somit eher als Etappen innerhalb einer fortwährenden, nicht-linearen Entwicklung zu bewerten und nicht als in sich geschlossene Erfolgsgeschichten.
In diesen Kontext sind auch gesetzliche Meilensteine wie das 1994 ins Grundgesetz aufgenommene Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen oder die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 einzuordnen. Sie sind ohne Zweifel als juristische, symbolische und gesellschaftspolitische Erfolge zu werten. Ob sie allerdings die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich und nachhaltig verändern, also Inklusion nicht nur fordern, sondern tatsächlich im Alltag vorantreiben, muss nach derzeitigem Stand infrage gestellt werden.