Themen Mediathek Shop Lernen Veranstaltungen kurz&knapp Die bpb Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen Mehr Artikel im

Historische Inklusionserfolge? | Inklusion | bpb.de

Inklusion Editorial Meine behinderte Zukunft - Essay Der Faschismus in den Köpfen Historische Inklusionserfolge? Zum ambivalenten Verlauf von Inklusionsprozessen in der Geschichte behinderter Menschen Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Bestandsaufnahme und aktuelle Perspektiven Inklusive Schulbildung in Deutschland. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Inklusive Bildung – und dann? Befunde aus der Studie „Inklusion in und nach der Sekundarstufe I in Deutschland“ (INSIDE) Inklusion als Menschenrecht? Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung in Deutschland

Historische Inklusionserfolge? Zum ambivalenten Verlauf von Inklusionsprozessen in der Geschichte behinderter Menschen

Sebastian Schlund

/ 14 Minuten zu lesen

Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ist historisch wie zeitgenössisch ein Aushandlungsprozess. Dabei ging und geht es einerseits um verschiedene Definitionen von Behinderung und andererseits um die Frage, für wen welche Art der Teilhabe gilt.

Mit „Inklusion? War da was?“ überschrieb die „Zeit“ kürzlich einen Artikel, der mit Blick auf den Fortschritt der Inklusion an Schulen ein ernüchterndes Fazit zog. In den vergangenen fünf Jahren sei das gemeinsame Lernen behinderter und nicht behinderter Schüler:innen den Ergebnissen einer Forsa-Studie zufolge kaum vorangekommen; unter Lehrkräften herrschten „Frust und Überforderung“ – auch aufgrund des von „Ignoranz und Tatenlosigkeit“ bestimmten politischen Umgangs mit dem Thema. Angesichts dieser Gegenwartsdiagnose eines (momentanen) Misserfolgs inklusiver Prozesse im Bildungswesen lässt sich die Frage stellen, inwiefern es sich hierbei um einen zeithistorischen Normalfall handelt. Denn ohne Zweifel sieht die überwiegende Mehrzahl von Untersuchungen zu Inklusion in Geschichte und Gegenwart eher die andauernden Handlungsbedarfe, die Hürden, die Misserfolge von Inklusion. So viel sei verraten: Mit diesem Artikel wird nicht versucht, diese Befunde als verkürzend oder unzulässig zu entlarven. Dennoch sollen im Folgenden mit Fokus auf die deutsche Geschichte behinderter Menschen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Beispiele vorgestellt werden, die doch vorsichtig von inklusiven (Teil-)Erfolgen – in all ihren Ambivalenzen – sprechen lassen.

Für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die Geschichte von Menschen mit Behinderungen im Besonderen gilt: Wenn von Erfolg gesprochen wird, muss auch von Misserfolg gesprochen werden, und wenn Inklusion in den Blick genommen wird, muss gleichzeitig auch Exklusion untersucht werden. Diese grundsätzlichen Bemerkungen gilt es voranzustellen, wenn man sich die Aufgabe stellt, historische Inklusionserfolge in der Geschichte behinderter Menschen zu beleuchten.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass unter Inklusion durchaus verschiedene Dinge verstanden werden können. Zeithistorisch betrachtet handelt es sich um einen jungen Begriff, da bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eher von „Integration“ gesprochen wurde. Ohne zu tief in die vielschichtige und interdisziplinäre Terminologiedebatte einzusteigen, lässt sich festhalten, dass der grundlegende Unterschied zwischen Integration und Inklusion im Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft und betroffener Personengruppe besteht. Integration bedeutet somit auf den konkreten Fall übertragen, dass behinderte Menschen sich befähigen oder dazu befähigt werden, in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen eingegliedert zu werden. Inklusion meint hingegen, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre exkludierenden Praktiken und Barrieren in dem Maß abbaut, dass zuvor von Teilhabe ausgeschlossene Personengruppen gleichwertig in allen Lebensbereichen partizipieren können.

Es ist daher geschichtswissenschaftlich unzulässig, heute geltende – und nach wie vor umstrittene – Vorstellungen inklusiver Maßnahmen und Prozesse eins zu eins in die Zeitgeschichte zu übertragen, um vergangene Gesellschaften an diesen Maßstäben zu messen. Entsprechend werden im Folgenden historisch vorherrschende Interpretationen von Inklusion und Integration kritisch beleuchtet, ohne diese mit gegenwärtigen gleichzusetzen. So vorzugehen, bedeutet auch, die Handlungsspielräume zeitgenössischer Akteure und deren jeweiligen Wissensstand und Wertehaushalt ernst zu nehmen.

Schließlich hilft bei der geschichtswissenschaftlichen Einordnung von Inklusionserfolgen eine kleine, aber wirkmächtige Perspektivverschiebung, die in aktuellen Debatten oftmals zu kurz kommt: Inklusion nicht als Zustand zu betrachten, sondern als Prozess. Durch diese Perspektivierung kann es gelingen, die oftmals unbefriedigende Erkenntnis beiseite zu schieben, dass Inklusion ohnehin nicht erreicht werden könne. Das ist zum einen richtig, geht zum anderen aber, zumindest was die wissenschaftliche Analyse von Inklusionsprozessen angeht, an der Sache vorbei. Denn wo Inklusion nicht als (unerreichbarer) Zustand markiert ist, sondern als andauernde Aufgabenstellung für Gesellschaften, die sich der möglichst egalitären Partizipation aller ihrer Mitglieder verschrieben haben, wird Inklusion von der Utopie zum Dauerprojekt. Wiederum in die Geschichte übertragen, können Historiker:innen folglich jene Akteure und Impulse in den Blick nehmen, die dieses Dauerprojekt vorangetrieben oder behindert oder mit wechselndem Erfolg in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen initiiert und gepflegt haben.

Die aufgeführten Fallbeispiele unterliegen notwendigerweise einer zwar nicht willkürlichen, aber subjektiven Auswahl. Sie sollen aufzeigen, dass in der Disability History weder Erfolg und Misserfolg noch Inklusion und Exklusion als sich gegenseitig ausschließende Begriffe gelten können. Entsprechend sind alle behandelten Beispiele auf ihren ambivalenten Charakter für unterschiedliche Personengruppen zu untersuchen.

„Krüppelfürsorge“ und Utilitarismus im 19. und 20. Jahrhundert

Die Debatte um Erfolgsnarrative begleitet die Disability Studies beziehungsweise Disability History schon länger. So existieren innerhalb des Feldes unterschiedliche Meinungen darüber, ob die im Anschluss an die Industrialisierung voll einsetzende „Moderne“ das Leben und die gesellschaftliche Partizipation behinderter Menschen verbessert habe oder nicht. Dabei stehen sich die Betonung von medizintechnischen Fortschritten und sozialstaatlichen Eingliederungsprogrammen im schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Bereich einerseits und der Fokus auf separierende und grundsätzlich abwertende Praktiken in all diesen Lebenswelten andererseits gegenüber. Die fundamentale Nutzenorientierung industrialisierter Massengesellschaften, ihre letztendlich ökonomisch motivierte Orientierung an „Verwertbarkeit“, hatte für viele behinderte Menschen widersprüchliche Folgen. Während sich der Zugang zu Bildung und Ausbildung verbesserte, bedeutete dies gleichzeitig oftmals ein Leben in separierenden „Pflege- und Verwahranstalten“. In diesem Kontext ist beispielsweise der Auf- und Ausbau von Fürsorgeeinrichtungen für behinderte Menschen – meist mit Sinnesbeeinträchtigungen – ab dem späten 19. Jahrhundert zu lesen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich die „Krüppelfürsorge“. Denn für die europäischen Nachkriegsgesellschaften waren die Millionen kriegsversehrten Männer ein soziales Problem, das mittels rehabilitativer Maßnahmen und beruflicher Wiederbefähigung gelöst werden sollte. Unter Orthopäden machte sich in den frühen 1920er Jahren nahezu eine euphorische Experimentierfreude breit, da die oftmals an den Gliedmaßen amputierten Kriegsversehrten als lebendige Testobjekte für neue Prothesenmodelle herangezogen werden konnten. „Pioniere der Krüppelfürsorge“ entwarfen darüber hinaus Programme für Institutionen, in denen körperbehinderte Jugendliche und Erwachsene auf die Erwerbstätigkeit vorbereitet werden sollten – eine Folge des „Krüppelfürsorgegesetzes“ von 1920, der „weltweit erste[n] gesetzmäßige[n] Vorkehrung und Verpflichtung zu medizinischer, schulischer und beruflicher Rehabilitation von behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“.

Derartige Entwicklungen in den Bereichen Gesetzgebung und Ausbildung allerdings als Erfolge zu verbuchen, fällt nicht nur in der Retrospektive schwer. Denn bereits zeitgenössisch regte sich von entstehenden Selbsthilfeverbänden behinderter Menschen Protest gegen die absondernden und ebenso paternalistisch wie utilitaristisch aufgeladenen sozialpolitischen Maßnahmen. Allerdings sollten diese Widerstände in der Weimarer Zeit von kurzer Dauer und ohne nachhaltige Durchschlagskraft bleiben.

Privilegierung kriegsversehrter Männer in der Bundesrepublik

Während des Nationalsozialismus wurde die Einordnung behinderter Menschen nach Nützlichkeitskriterien auf grausame Weise intensiviert. Kriegsversehrte Männer – sowohl des Ersten als auch des Zweiten Weltkriegs – wurden propagandistisch als „Ehrenbürger der Nation“ verklärt, sofern sie für die imaginierte „Volksgemeinschaft“ weiterhin von Nutzen waren. Vor allem Menschen mit geistiger Beeinträchtigung waren hingegen von Diskriminierung, Aussonderung und Zwangssterilisation betroffen – bis hin zu den euphemistisch verbrämten „Euthanasie“-Morden.

Diese Hintergründe müssen berücksichtigt werden, wenn inklusive Prozesse in der Bundesrepublik in den Analysefokus genommen werden. Denn mitnichten bedeuteten 1945 oder 1949 ein Ende der Binnenhierarchisierung der oftmals monolithisch gedachten Gruppe behinderter Menschen oder ihrer Kategorisierung nach ökonomischer Verwertbarkeit. Ganz im Gegenteil: Die von ökonomischem Wiederaufbau geprägten ersten beiden Nachkriegsdekaden standen ganz im Zeichen der beruflichen Wiedereingliederung kriegsversehrter Männer. Für sie entwarf die frühe Bonner Republik umfassende Rehabilitationsprogramme von Gehschulen für Amputierte über körperliche Wiederertüchtigung durch Sport bis hin zu nach Quoten geregelten Berufsförderungsmaßnahmen. Dabei zeigte sich eine enge Verzahnung von einflussreichen Interessenorganisationen wie dem „Reichsbund der Körperbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen“ (Reichsbund) und dem „Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands“ (VdK) mit der politischen Entscheidungsebene. Wenn mithin von Erfolg die Rede sein kann, dann nur für eine bestimmte, quantitativ starke und behindertenpolitisch wirkmächtig organisierte Gruppierung behinderter Menschen. Erst in der Relation zu anderen Gruppen behinderter Menschen wird somit die Privilegierung kriegsversehrter Männer in der jungen Bundesrepublik ersichtlich.

Wohnen, Arbeit, Freizeit – ambivalente Erfolge seit den 1970er Jahren

Ab den 1970er Jahren rückte die gesellschaftliche Partizipation von Menschen mit Behinderung stärker in den Fokus. Einen entscheidenden Impuls für den einhergehenden Wandel des Verständnisses von Integration als Frage der beruflichen Eingliederung brachte die öffentliche Aufmerksamkeit für die Folgen des Conterganskandals. Die oftmals gezielt mitleiderregenden Bilder contergangeschädigter Kinder sensibilisierten breitere Bevölkerungsschichten für das zuvor meist mit Kriegsversehrtheit in Verbindung gebrachte Thema. Nun entstanden beispielsweise durch die „Aktion Sorgenkind“ (heute „Aktion Mensch“) Organisationen, die vorherrschende Berührungsängste und Stereotypisierungen der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft aktiv infrage stellten. Die generell auf mehr Teilhabe, Demokratisierung und Egalisierung ausgerichteten Politiken der sozialliberalen Koalition begünstigten zeitgleich aktivistische, zivilgesellschaftliche und sozialwissenschaftliche Initiativen. Im Sinne eines Erfolgs kann für diese äußerst dynamische Phase der bundesrepublikanischen Geschichte behinderter Menschen festgehalten werden, dass die Kritik betroffener Personen an als überkommenen und segregierend empfundenen Strukturen nicht länger ignoriert wurde.

Ganz im Zeichen der zeitgenössischen Tradition sozialstaatlicher Planungseuphorie symbolisierten Modellprojekte den Aufbruch in eine neue Phase der Behindertenpolitik. Barrierefreie Begegnungsstätten für behinderte und nicht behinderte Menschen wie das 1973 von Bundesarbeitsminister Walter Arendt feierlich eröffnete „Haus der Behinderten“ in Bonn standen paradigmatisch für die Reformbestrebungen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure. Wie Elsbeth Bösl hierzu jedoch einschränkend anmerkt, blieben Überhänge aus der traditionellen Interpretation von Behinderung als individuellem Defizit bestehen, und ehrgeizige Aktionspläne blieben in ihrer Umsetzung oft hinter den Erwartungen zurück. Was sich jedoch definitiv durchzusetzen begann, war die Einsicht, dass Behinderung als „soziales Problem (…) nicht nur vom Einzelnen ausging, sondern es auch gesellschaftliche und kulturelle Ursachen, zumindest aber Problemverstärker geben könnte". Für den Übergang der eingangs beschriebenen begrifflichen Differenz von Integration und Inklusion war diese sich allmählich bei allen beteiligten Akteuren durchsetzende Erkenntnis fundamental. Wenn selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben tatsächlich ernst genommen werden sollte, musste von einer einseitigen Anpassungsanforderung an behinderte Menschen abgerückt und der Abbau behindernder Barrieren wesentlich intensiver betrieben werden.

Ein Bereich, der in der Folge in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet, war die Wohn- und Lebenssituation behinderter Menschen. Auch in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten dominierten außerhalb der Kernfamilie Wohnformen für Menschen mit Behinderungen, die räumlich von der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft getrennt, „als Typus zwischen Krankenhaus und Kaserne“ zu verorten waren, wie Wilfried Rudloff formuliert. Dieses Anstaltswesen nicht nur zu kritisieren, sondern tatsächlich zu reformieren, war das Ziel des ab den 1970er Jahren intensivierten Deinstitutionalisierungsprozesses. Menschen mit Behinderungen, die in von alltäglicher und umfassender Kontrolle geprägten Anstalten untergebracht waren, sollten „ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung und individueller Lebensgestaltung“ ermöglicht werden.

Wie die Historiker:innen Gabriele Lingelbach und Jan Stoll anhand der diakonischen Einrichtung Friedehorst bei Bremen herausgearbeitet haben, kam den sich ab den frühen 1970er Jahren stärker organisierenden Bewohner:innen derartiger Anstalten eine entscheidende Rolle zu. Eine jüngere, von allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen der Enthierarchisierung und Demokratisierung inspirierte Generation behinderter Menschen begann, ihre Forderungen nach mehr Teilhabe und Selbstbestimmung stärker vorzubringen. Formen der separierten Unterbringung und damit einhergehend die Vorbereitung auf eine Erwerbsarbeit im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt – wie beispielsweise in Werkstätten für behinderte Menschen – wurden von den betroffenen Personen zunehmend als unzeitgemäß kritisiert. Diese überkommenen, aber sich innerhalb der Anstaltswelt oftmals zäh haltenden Phänomene waren Ausdruck eines spezifischen Verständnisses von Behinderung, das sich in dieser Zeit zu wandeln begann. Denn eben jene separierten Räume des Wohnens und Arbeitens wurden – in der paternalistischen Tradition des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stehend – als Schutzräume deklariert. Menschen mit Behinderungen wurde vonseiten politischer Akteure, Einrichtungsträgern und Rehabilitationswissenschaftler:innen schlichtweg nicht zugetraut, sich in der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft behaupten zu können.

Da sich ab den 1970er Jahren allerdings auch in diesen institutionellen Bereichen ein nicht zuletzt generationell bedingter Bewusstseinswandel durchzusetzen begann, fielen die Proteste behinderter Menschen fortan auf fruchtbareren Boden. Politik und Einrichtungsträger reagierten im Verlauf der 1970er und 1980er auf die auch medial begleitete Skandalisierung der Wohnverhältnisse behinderter Menschen, was insgesamt zu einer Auflockerung des Anstaltswesens und zu leichten Verbesserungen führte: Die Zahl der Wohngemeinschaften und kleinerer betreuter Wohngruppen nahm nun zu.

Allerdings ist einzuschränken, dass derartige selbstbestimmte Wohnformen noch in den 1990er Jahren nur etwa 15 Prozent der außerhalb ihrer Familie lebenden Menschen mit Behinderungen zur Verfügung standen. Vor allem für Menschen mit Lernschwierigkeiten blieb die Unterbringung in Heimen – sofern sie nicht mit ihren Familien lebten – der Normalfall. Ähnlich stellt sich auch 2024 noch die Lage bezüglich der Trennung von erstem und zweitem Arbeitsmarkt dar: In Separation und Exklusion zementierenden Werkstätten arbeiten laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte noch immer etwa 300.000 Menschen mit Behinderungen, davon etwa drei Viertel Menschen mit Lernschwierigkeiten. Der Erfolg der behinderten Aktivist:innen und ihrer Koalitionspartner:innen einer sich seit den 1970er Jahren professioneller und progressiver aufstellenden Rehabilitations- und Sozialwissenschaft liegt somit eher in der Thematisierung der anachronistischen Verhältnisse als in deren umfassender Beseitigung.

Nachdem die Lebensbereiche Wohnen und Arbeit durch das Zusammenspiel der genannten Akteursgruppen eine Thematisierungshochphase erlebt hatten, folgte mit leichter zeitlicher Verzögerung auch das Thema der selbstbestimmten Freizeitgestaltung. Für behinderte Jugendliche und junge Erwachsene bedeutete Teilhabe an Freizeit in erster Linie Zugang zu entsprechenden Aktivitäten – ein Zugang, der ihnen häufig durch vielfältige Barrieren verwehrt blieb. Besonders mobilitätseingeschränkte Personen stießen auf erhebliche Hindernisse: Sportstätten, Kneipen, Diskotheken, Kinos und der öffentliche Nahverkehr waren baulich kaum zugänglich. Die bestehenden Freizeitangebote, etwa in Behindertensportvereinen, orientierten sich vorrangig an den Bedürfnissen älterer, meist kriegsversehrter Männer und boten kaum Raum für zeitgemäße, selbstbestimmte und freudvolle Freizeitgestaltung.

Diese strukturellen Missstände thematisierte die Zeitschrift „Luftpumpe“ noch 1978 in einer Artikelreihe unter dem Titel „Freizeit: Die grosse Leere?“ Auf lokaler Ebene setzten sich Initiativen wie die „Clubs Behinderter und ihrer Freunde“ (CeBeeF) dem verbreiteten sozialen Ausschluss entgegen, indem sie gemeinschaftliche Unternehmungen wie Ausflüge, Reisen oder gesellige Treffen organisierten. Während diese Initiativen noch nicht explizit auf gemeinsame Aktivitäten behinderter und nicht behinderter Menschen setzten, entstanden in den 1980er Jahren im Bundesgebiet über 200 sogenannte Integrationssportgruppen, welche sich eine nach dem heutigen Begriffsverständnis dezidiert inklusive Freizeitgestaltung zum Ziel gesetzt hatten. Nach dem Vorbild des von Sportpfarrer Siegfried Mentz 1979 in Göttingen etablierten „Göttinger Modells“ gründeten einzelne Sportvereine, oft in Kooperation mit Elternverbänden wie der „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ auf lokaler Ebene inklusive Sportgruppen. Sie konkretisierten damit behindertenpolitische und freizeitsoziologische Debatten, die seit der Mitte der 1970er Jahre geführt wurden: So hatte der Vorsitzende des Deutschen Bildungsrats, Kurt Ruf, die Formel „Möglichst viele Kontakte – möglichst wenig Isolation“ geprägt und der Kölner Sportwissenschaftler Jürgen Innenmoser von einer Aufnahme insbesondere behinderter Kinder und Jugendlicher „in die Großgruppe der Nichtbehinderten“ gesprochen.

Obwohl diese integrativen Projekte nach heutiger Lesart Inklusionsmaßnahmen nahekommen, waren sie nicht zwingend von Dauer oder nachhaltigem Erfolg geprägt. Gerade für Menschen mit Lernschwierigkeiten blieben Freizeit- und Sportangebote stark begrenzt. So ist auch die Gründung von „Special Olympics Deutschland“ 1991 differenziert einzuordnen: Einerseits bietet die Organisation eine stabile und regelmäßig sichtbare Plattform für den Sport von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Andererseits steht ihre Existenz auch dafür, dass es in Deutschland nicht gelungen ist, einen Sportverband für alle Menschen zu schaffen. Diesen Weg ging beispielsweise Norwegen, wo 1998 alle Behindertensportvereine aufgelöst und in die Sportfachverbände inkludiert wurden, die nun für behinderte wie nicht behinderte Menschen gleichermaßen zuständig sind. Von derart umfassend inklusiven Verhältnissen ist der Sport- und Freizeitbereich in Deutschland nach wie vor weit entfernt.

Inklusion als Daueraufgabe

Letztlich zeigt somit auch das Beispiel der Freizeitgestaltung, dass von schrittweisen Verbesserungen, die für alle Gruppen behinderter Menschen zugleich umgesetzt werden, historisch nicht ausgegangen werden kann. Erstens hingen Maßnahmen der Eingliederung, Integration und Inklusion immer von gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeitsökonomien ab. Zweitens kam den Lobbys einzelner Gruppen behinderter Menschen, differenziert nach der Ursache und der Art der Beeinträchtigung sowie nach dem Geschlecht und dem Alter der betroffenen Personen, immer entscheidendes Gewicht bei der Frage zu, welche Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu welchem Zeitpunkt erstritten werden konnten.

Hinsichtlich der oben erwähnten Debatte innerhalb der Disability History beziehungsweise Disability Studies, ob für die Geschichte behinderter Menschen in der „Moderne“ eher von einer Erfolgs- oder Niedergangserzählung auszugehen ist, war im Rahmen des Beitrags der Blick auf einen längeren Zeitraum notwendig. Erst in dieser Perspektivierung wird ein allmählicher Trend zu mehr Partizipation und Selbstbestimmung erkennbar, der gegen ein verkürzendes Niedergangsnarrativ spricht. Wie die verschiedenen Beispiele dennoch gezeigt haben, ist die Benennung erfolgreicher Beispiele der Inklusion in der deutschen Geschichte behinderter Menschen mit einigen Vorbehalten verbunden. So ist es wohl abschließend treffender, von Desegregations- als von tatsächlichen Inklusionserfolgen zu sprechen, um damit auch nochmals den prozessualen, niemals abgeschlossenen Charakter dieses andauernden gesellschaftspolitischen Vorhabens zu unterstreichen. Die vorgestellten Episoden sind somit eher als Etappen innerhalb einer fortwährenden, nicht-linearen Entwicklung zu bewerten und nicht als in sich geschlossene Erfolgsgeschichten.

In diesen Kontext sind auch gesetzliche Meilensteine wie das 1994 ins Grundgesetz aufgenommene Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen oder die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 einzuordnen. Sie sind ohne Zweifel als juristische, symbolische und gesellschaftspolitische Erfolge zu werten. Ob sie allerdings die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich und nachhaltig verändern, also Inklusion nicht nur fordern, sondern tatsächlich im Alltag vorantreiben, muss nach derzeitigem Stand infrage gestellt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jeannette Otto, Inklusion? War da was? 2.6.2025, Externer Link: https://www.zeit.de/familie/2025-06/inklusion-bildung-schule-bundesregierung-paedagoge.

  2. Vgl. dazu ausführlich Gudrun Wansing, Was bedeutet Inklusion? Annäherungen an einen vielschichtigen Begriff, in: Theresia Degener/Elke Diehl (Hrsg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn 2015, S. 43–54.

  3. Vgl. Anne Waldschmidt, Soziales Problem oder kulturelle Differenz? Zur Geschichte von „Behinderung“ aus der Sicht der „Disability Studies“, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d’Histoire 3/2006, S. 31–46, hier S. 40; Gabriele Lingelbach/Sebastian Schlund, Disability History, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 8.7.2014, Externer Link: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.598.v1.

  4. Vgl. Waldschmidt (Anm. 3), S. 36f.

  5. Vgl. Sabine Kienitz, „Als Helden gefeiert – als Krüppel vergessen“. Kriegsinvaliden im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, in: Dietrich Beyrau (Hrsg.), Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001, S. 217–237.

  6. Christian Mürner/Udo Sierck, Der lange Weg zur Selbstbestimmung. Ein historischer Abriss, in: Degener/Diehl (Anm. 2), S. 23–37, Zitat S. 28.

  7. Nils Löffelbein, Ehrenbürger der Nation. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialismus, Essen 2013.

  8. Vgl. zur Interessenorganisation behinderter Menschen in der Bundesrepublik Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt/M.–New York 2017.

  9. Vgl. Anne Helen Crumbach, Sprechen über Contergan. Zum diskursiven Umgang von Medizin, Presse; Politik mit Contergan in den 1960er Jahren, Aachen 2018 und Gabriele Lingelbach, Konstruktionen von ‚Behinderung‘ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964, in: Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hrsg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 127–150.

  10. Vgl. Wilfried Rudloff, Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform 6/2003, S. 863–886, hier S. 874ff.

  11. Vgl. zum gesamten Abschnitt Elsbeth Bösl, Bundesdeutsche Behindertenpolitik im „Jahrzehnt der Rehabilitation“ – Umbrüche und Kontinuitäten um 1970, in: Gabriele Lingelbach/Anne Waldschmidt (Hrsg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt/M.–New York 2016, S. 82–115, Zitat S. 106.

  12. Vgl. zum gesamten Absatz: Wilfried Rudloff, Das Ende der Anstalt? Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung in der Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Bösl/Klein/Waldschmidt (Anm. 9), S. 169–190, Zitate S. 170.

  13. Vgl. zum gesamten Absatz Gabriele Lingelbach/Jan Stoll, Die 1970er Jahre als Umbruchsphase der bundesdeutschen Disability History? Eine Mikrostudie zu Selbstadvokation und Anstaltskritik Jugendlicher mit Behinderung, in: Moving the Social 2/2013, S. 25–52.

  14. Nur etwa 4 Prozent der Menschen mit Lernschwierigkeiten lebten zu dieser Zeit in Wohngemeinschaften oder betreuten Wohnformen, 28 Prozent in Heimen und 65 Prozent in ihren Familien. Vgl. Rudloff (Anm. 12), S. 184f.

  15. Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention, Menschenrechtliche Eckpunkte für die Reform von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), März 2024, hier S. 3, Externer Link: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/menschenrechtliche-eckpunkte-fuer-die-reform-von-werkstaetten-fuer-behinderte-menschen-wfbm.

  16. Siehe hierzu die Ausgaben 1 bis 7/1978 der „Luftpumpe“.

  17. Beide Zitate nach Sebastian Schlund, „Behinderung“ überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1990), Frankfurt/M.–New York 2017, S. 312–313.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Sebastian Schlund für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Disability History, der Sportgeschichte sowie der Global- und Imperialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.