Inklusive Bildung ist ein menschenrechtlicher Anspruch und ein demokratisches Versprechen. Mit der Ratifizierung und dem Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 hat sich die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich in Artikel 24 verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, das allen Kindern mit und ohne Behinderungen gemeinsam eine wohnortnahe Beschulung ermöglicht.
Der rechtlich verankerte Anspruch auf ein inklusives Bildungssystem bedeutet, dass nicht die Integration von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in ein bestehendes System im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr die grundlegende Umgestaltung des Bildungssystems zu einer inklusiven Bildungslandschaft. Ziel ist es, die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen und jedem Einzelnen die Möglichkeit zu eröffnen, uneingeschränkt zu lernen und das individuelle Potenzial zu entfalten.
Das Schulsystem in Deutschland
Deutschland verfügt über ein historisch gewachsenes, selektives Bildungssystem, das durch den Bildungsföderalismus der Bundesländer geprägt ist. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen werden dabei in einem international einmalig ausdifferenzierten Förderschulsystem unterrichtet. Diese Struktur steht im Widerspruch zum Anspruch der UN-BRK, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, das allen Schüler*innen uneingeschränkten Zugang zu gemeinsamer Bildung ermöglicht. Die Bundesländer sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, inklusive Bildung in einem System zu realisieren, das auf Selektion und Homogenität ausgelegt ist.
Daten und Fakten
Trotz des gestiegenen Anteils inklusiv beschulter Kinder ist bislang kein systematischer Rückbau des Sonderschulwesens zu beobachten. Vielmehr bestehen die Förderschulen als separierende Strukturen nahezu unverändert fort.
Ein genauerer Blick zeigt, dass seit 2009 nur für die Förderschwerpunkte „Lernen“ sowie „Emotionale und Soziale Entwicklung“ (ESE) belastbare Zahlen bei der Kultusministerkonferenz vorliegen. So gab es 2009 insgesamt 205.926 Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, von ihnen wurden 163.363 an Förderschulen unterrichtet und 42.563 Schüler*innen an allgemeinbildenden Schulen. Im Förderschwerpunkt ESE gab es 2009 insgesamt 58.762 betroffene Schüler*innen, davon 36.595 an Förderschulen und 22.167 an allgemeinbildenden Schulen. Im Vergleich dazu wurden 2023 im Förderschwerpunkt Lernen 235.750 Schüler*innen mit Förderbedarf unterrichtet, davon 112.584 an Förderschulen und 123.166 an allgemeinbildenden Schulen. Dies entspricht etwa 38,8 Prozent der insgesamt 60.8097 Schüler*innen mit Förderbedarf an allen deutschen Schulen im Schuljahr 2023/24. Im Förderschwerpunkt ESE waren es 2023 insgesamt 107.808 Schüler*innen, davon 45.719 an Förderschulen und 62.089 an allgemeinbildenden Schulen, was rund 17,7 Prozent aller Schüler*innen mit Förderbedarf entspricht.
Verschränkung von Heterogenitätsdimensionen
In der öffentlichen Debatte wird schulische Inklusion häufig vorrangig im Kontext von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung thematisiert, während andere Dimensionen von Heterogenität – etwa Sprache, soziale Herkunft oder Geschlecht – unter Begriffen wie „Integration“ oder „Diversität“ oftmals in separaten Diskursen verhandelt werden. Für eine realitätsnahe Analyse der Bildungsbedingungen von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist es jedoch unerlässlich, die unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen im Zusammenhang zu betrachten. Insbesondere die Verschränkung mehrerer Differenzkategorien bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung erweist sich als zentral, um ein nuanciertes und angemesseneres Verständnis inklusiver Beschulungspraktiken zu ermöglichen.
Empirische Daten belegen, dass die genannten Heterogenitätsdimensionen und die inklusive Beschulung behinderter Kinder in der schulischen Praxis eng miteinander verwoben sind: Rund zwei Drittel aller Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind männlich; unter den inklusiv beschulten Schüler*innen liegt der Jungenanteil bei etwa 64 Prozent. Während im Durchschnitt 7,5 Prozent aller Schüler*innen einen diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen, beträgt dieser Anteil bei Schüler*innen mit nicht-deutscher Herkunftssprache neun Prozent. Zudem zeigt sich ein deutlicher Unterschied in der Schulartverteilung: Schüler*innen mit Migrationshintergrund und Förderbedarf werden überproportional häufig an Förderschulen unterrichtet, während ihre deutschen Mitschüler*innen mit Förderbedarf mehrheitlich eine allgemeine Schule besuchen. Innerhalb des allgemeinen Schulsystems bestehen ebenfalls signifikante Unterschiede: 43 Prozent aller inklusiv unterrichteten Schüler*innen mit Förderbedarf lernen im Bereich der weiterführenden Schulen an Gesamtschulen. Während die Grundschule weitgehend als gemeinsame Schule für alle fungiert, variiert das Ausmaß inklusiven Unterrichts im Sekundarbereich stark – besonders deutlich wird dies am Gymnasium, das lediglich 6,5 Prozent aller inklusiv unterrichteten Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufnimmt.
Die vorliegenden Befunde verdeutlichen, dass die Realisierung inklusiver Bildung in Deutschland untrennbar mit Fragen der Bildungsungleichheit und sozialer Gerechtigkeit verbunden ist. Inklusion ist nicht lediglich als technischer oder administrativer Optimierungsprozess zu verstehen, sondern als ein gesellschaftlicher Aushandlungsraum, in dem bestehende Machtverhältnisse, Statuszuweisungen und Teilhabechancen neu verhandelt werden. Empirische Daten zeigen, dass soziale, sprachliche und institutionelle Faktoren sowie die Herkunft der Schüler*innen die Zugänge zu inklusiver Bildung maßgeblich prägen und begrenzen. Damit wird deutlich, dass Inklusion immer auch als Spiegel gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse zu begreifen ist und neue soziale Spannungen und Exklusionsmechanismen erzeugen kann.
Exklusionsmechanismen
Derzeit verlassen in Deutschland fast 71 Prozent der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Sonder- oder Förderschule ohne einen Hauptschulabschluss, wodurch der Weg in die Werkstatt für behinderte Menschen – und somit in die nächste exkludierende Sonderwelt – oder in die Arbeitslosigkeit vorgezeichnet ist. Diese Zahlen bezeugen keine „progressive Entwicklung“, wie sie die UN-BRK fordert, sondern eine ernüchternde Stagnation und sollten auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht unkritisch hingenommen werden.
Viele Bundesländer haben die politische Konstruktion des Elternwahlrechts eingeführt – das bedeutet, dass die Eltern die Schulform ihrer Kinder mit Behinderung, also entweder eine inklusive Beschulung oder eine Förderbeschulung, selbst wählen sollen. Dabei werden den Eltern trotz des formal verbrieften Elternwahlrechts nicht nur kaum sinnvolle inklusive Beschulungsmöglichkeiten angeboten, da es an diesen strukturell mangelt, sondern an sie wurde darüber hinaus eine politische Grundsatzentscheidung delegiert, ohne, dass sie die Möglichkeit hätten, bestehende Strukturen zu verändern oder Veränderungen zu fordern. Eltern sollen beziehungsweise müssen damit selbst verantworten, welchen Bildungsweg sie für ihr Kind „gewählt“ haben – eine Praxis, die die Verantwortung bedenklich verschiebt. Darüber hinaus schreibt die Monitoringstelle zur UN-BRK: „Zudem wurde mit dem doppelten Versprechen – erfolgreiche Einzelintegration hier und Sonderstruktur dort – ein Spagat gewagt, der praktisch den Aufbau inklusiver Strukturen verhindert, aber auch den Erfolg der Einzelintegration unterminiert hat. Denn der Erhalt zweier Systeme ist offenbar zu teuer. Es verbleiben zum einen Personalressourcen in den Sonderschulen und können nicht zur Unterstützung in den allgemeinen Schulen eingesetzt werden. Zum anderen entstehen durch den Aufbau inklusiver Schulen zusätzliche Personalbedarfe.“
Inklusion als pädagogische Zumutung
Was als menschenrechtliche Verpflichtung formuliert wurde, wird im Alltag der Schulen vielfach als Zumutung empfunden – für das System, für die Lehrkräfte, für die Schüler*innen selbst. Die öffentliche und bildungspolitische Debatte ist polarisiert: Während die einen im inklusiven Unterricht einen Motor für soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe sehen, warnen andere vor Überforderung, pädagogischem Qualitätsverlust und einer Aushöhlung individueller Förderung oder sorgen sich um leistungsstarke Schüler*innen, die durch Mitschüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgebremst würden. Grundsätzlich existiert wenig Vertrauen in die Qualität von inklusivem Unterricht im Spannungsfeld zwischen individueller Förderung und curricularen Anforderungen. Die strukturellen Herausforderungen sind dabei unübersehbar: Pädagogisches Personal ist chronisch unterbesetzt, multiprofessionelle Teams oft nur punktuell verfügbar, und viele Schulen arbeiten ohne systematische Fortbildungskonzepte oder personelle Verstärkung.
Inklusive Praxis
Ein zentrales Paradox der aktuellen Praxis ist die Kopplung von Ressourcen an diagnostische Etikettierung: Der Zugang zu sonderpädagogischer Förderung ist häufig an die Feststellung eines Förderbedarfs gebunden, was zu einer „organisierten Mangelverwaltung“ führt.
Die Ressourcenfrage ist dabei zentral: Das parallele Vorhalten von Förderschulen und inklusiven Angeboten bindet erhebliche personelle und finanzielle Mittel. Würden die Förderschulen konsequent aufgelöst und alle Kinder wohnortnah in allgemeinen Schulen unterrichtet, könnten die bislang in Förderschulen gebundenen Ressourcen – darunter etwa 33000 Sonderschullehrkräfte (Vollzeitäquivalente)
Für eine sachgerechte Ressourcenplanung und bildungspolitische Steuerung ist jedoch eine bundesweit systematische Erhebung der tatsächlichen Ressourcen und Schüler*innen dringend erforderlich – ein Vorhaben, das bisher nicht nur daran scheitert, dass die Prozesse hochgradig intransparent und aufgrund des Bildungsföderalismus erheblich diversifiziert sind, sondern auch daran, dass die Erhebung von relevanten Daten, zumindest der Wissenschaft, bisher nicht hinreichend ermöglicht wird.
Die Effizienzgewinne wären dabei vermutlich erheblich: Bei durchschnittlich zwei Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf pro Klasse – gemessen an der Inzidenz von 7,6 Prozent aller Schüler*innen und einem Betreuungsschlüssel von einer Sonderschullehrkraft für vier bis fünf Klassen –, könnten die vorhandenen Kapazitäten gezielt für Beratung, Förderung und Teamteaching eingesetzt werden.
Die zusätzliche Integration von Inklusionshelfer*innen sowie weiteren Mitgliedern multiprofessioneller Teams würde die Regelschulen nicht nur funktional entlasten, sondern zugleich die Qualität der individuellen Förderung erheblich stärken. Dass diese Ressourcen bislang nicht systematisch in die allgemeine Schule überführt werden, stellt kein strukturelles Defizit im engeren Sinne dar, sondern verweist auf eine bildungspolitische Entscheidung. Eine an den Bedürfnissen der Schüler*innen orientierte Ressourcensteuerung erfordert eine klare Priorisierung: weg von der Aufrechterhaltung separierender Strukturen, hin zur gezielten Stärkung inklusiver schulischer Praxis.
Ein oft unterschätzter Vorteil der wohnortnahen Beschulung ist der Wegfall der häufig langen, belastenden und kostenintensiven Fahrtwege zu Förderschulen, die nicht nur Zeit und Energie der Kinder beanspruchen, sondern auch deren soziale Teilhabe im unmittelbaren Lebensumfeld erschweren.
Ein zentrales Defizit der aktuellen Praxis liegt im Ressourcenmanagement: Die Verteilung und Koordination der sonderpädagogischen, therapeutischen und sozialpädagogischen Ressourcen sind oft intransparent, ineffizient und nicht bedarfsgerecht organisiert.
Ein weiterer zentraler Reformbedarf betrifft die Trennung von Diagnostik und Pädagogik: Damit Sonderpädagog*innen nicht länger Teil der Bestandswahrung von Sonderstrukturen und mit der exkludierenden Etikettierung von Schüler*innen befasst sind, sollte die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ausschließlich durch unabhängige Stellen, etwa sozialpädiatrische Zentren (SPZs), erfolgen. Sonderpädagog*innen könnten sich so auf ihre pädagogische Arbeit, inklusive der pädagogischen Diagnostik für die Lern- und Teilhabeprozesse der Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf konzentrieren und gezielt zur Förderung, Beratung und Unterstützung in multiprofessionellen Teams beitragen.
Fazit und Ausblick
Auch 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK bleibt Deutschland von einem inklusiven Schulsystem weit entfernt. Die Statistiken zeigen eine praktisch stagnierende Inklusionsquote und eine Mehrheit von Kindern mit Förderbedarf in separierenden Strukturen. Der UN-Fachausschuss hat 2023 erneut die mangelnde Transformation und den Fortbestand der Förderschulen als konventionswidrig kritisiert. Die Ursachen liegen in föderaler Zersplitterung, Ressourcenmangel beziehungsweise -falschverwaltung, institutioneller Trägheit und einem politischen Doppelversprechen von Wahlfreiheit und Bestandsschutz. Die hypothetische Umstellung auf ein inklusives System – mit vollständiger Integration aller Förderschüler*innen in wohnortnahe Regelschulen – wäre nicht nur menschenrechtlich geboten, sondern auch ökonomisch und pädagogisch sinnvoll. Die vorhandenen Ressourcen aus Förderschulen, multiprofessionellen Teams und Inklusionshelfer*innen könnten gezielt in die allgemeine Schule umgelenkt werden. Bei einer realistischen Ressourcenumverteilung wäre ein inklusives Schulsystem sogar höchstwahrscheinlich günstiger als das aktuelle Doppelsystem.
Die Entlastung der Lehrkräfte durch multiprofessionelle Teams und klare Ressourcenzuweisung würde nicht nur die Qualität der Förderung verbessern, sondern auch die Arbeitsbelastung senken. Die Trennung von Diagnostik und Pädagogik durch die Übertragung der Feststellung des Förderbedarfs an SPZs würde Sonderpädagog*innen von administrativen Aufgaben entlasten und ihre Rolle als pädagogische Expert*innen stärken. Die wohnortnahe Beschulung würde zudem die soziale Teilhabe stärken und die Belastung der Familien durch lange Fahrtwege verringern. Inklusion ist damit kein utopisches Projekt, sondern ein Lackmustest für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie und für die Fähigkeit des Bildungssystems, soziale Gerechtigkeit zu realisieren.
Zugleich ist zu konstatieren, dass der Anteil der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit derzeit rund 7,6 Prozent eine quantitativ begrenzte Gruppe darstellt. In Relation zum Gesamtbildungswesen betrifft schulische Inklusion demnach nur einen vergleichsweise kleinen Teil der Schülerschaft. Die anhaltend hohen Exklusionsquoten verweisen jedoch auf eine strukturelle Disparität zwischen normativem Anspruch und institutioneller Praxis. Die fortbestehende Segregation stellt dabei nicht lediglich ein organisatorisches Problem dar, sondern wirft grundsätzliche Fragen nach gleichwertiger Teilhabe im Bildungssystem auf. Ein inklusives Schulsystem, das allen Schüler*innen – unabhängig von Art und Umfang ihrer Beeinträchtigung – den Zugang zu allgemeiner Bildung ermöglicht, wäre nicht nur Ausdruck menschenrechtlicher Verpflichtung, sondern auch ein Indikator für ein bildungspolitisch kohärentes und nachhaltig ausgerichtetes System.