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Inklusive Bildung – und dann? | Inklusion | bpb.de

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Inklusive Bildung – und dann? Befunde aus der Studie „Inklusion in und nach der Sekundarstufe I in Deutschland“ (INSIDE)

Amelie Labsch Cornelia Gresch Michael Grosche Katrin Böhme

/ 16 Minuten zu lesen

Deutschland hat sich zur Umsetzung der inklusiven Schulbildung verpflichtet. Wie Inklusion an Schulen gelebt wird, unterscheidet sich allerdings stark. Die INSIDE-Studie liefert neue Erkenntnisse zum Ist-Zustand und zu möglichen Erfolgsfaktoren.

Im Jahr 2009 hat sich Deutschland durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu einem inklusiven Bildungssystem verpflichtet. Seither lernen Schüler:innen mit und ohne sonderpädagogische Förder- beziehungsweise Unterstützungsbedarfe (SPF) zunehmend gemeinsam an allgemeinen Schulen. Die Implementation eines inklusiven Bildungssystems wird durch rechtliche Rahmenbedingungen der Bundesländer geregelt, wobei die konkrete Umsetzung und Gestaltung einer inklusiven Schulpraxis allerdings in der Verantwortung der Schulen liegt. Dies hat zur Folge, dass sich die Realisierung eines inklusiven Unterrichts im Schulalltag teilweise stark zwischen Einzelschulen, Schulbezirken sowie Bundesländern unterscheidet.

In dem Forschungsprojekt „INSIDE – Inklusion in und nach der Sekundarstufe I in Deutschland“ wurden diese verschiedenen Ausgangslagen und Rahmenbedingungen schulischer Inklusion näher untersucht. Im Mittelpunkt der Studie standen dabei unter anderem die Forschungsfragen, wie Schulen Inklusion umsetzen, wie sich inklusiv lernende Schüler:innen mit und ohne SPF im Laufe der Sekundarstufe I und darüber hinaus entwickeln und wie sie ihren Schulalltag wahrnehmen. Auch die Wege, die diese Schüler:innen nach der Sekundarstufe I einschlagen, ihre Wünsche und Ziele für ihre (berufliche) Zukunft und die Unterstützung durch ihr schulisches und soziales Umfeld auf dem Weg dahin, wurden berücksichtigt.

„Inklusion“ bezieht sich dabei nicht allein auf Schüler:innen mit SPF. Einem offenen Inklusionsverständnis folgend umfasst dieser Begriff alle Schüler:innen und die gesamte Organisation der Schule. Das schulische Miteinander soll so gestaltet sein, dass alle Schüler:innen gut lernen können, sich wohlfühlen und gut in ihre Klasse eingebunden sind. Die Erforschung von Inklusion bezieht daher neben schulorganisatorischen Faktoren und den Schüler:innen selbst auch die Rolle von Lehrkräften, Schulleitungen, weiterem pädagogischen Personal und den Eltern mit ein.

Im Forschungsprojekt INSIDE wurden zunächst im Jahr 2018 bundesweit insgesamt 1014 Schulleitungen an allgemeinen Schulen der Sekundarstufe I zu den schulischen Rahmenbedingungen und der Umsetzung von Inklusion befragt. Um vertiefte Einblicke in die Prozesse und Folgen des inklusiven Lernens für Schüler:innen mit und ohne SPF zu erhalten, wurde daran anknüpfend eine Längsschnittstudie an 246 inklusiv arbeitenden Schulen durchgeführt. Dazu wurden seit 2019 etwa 4000 Schüler:innen ab der sechsten Jahrgangsstufe insgesamt fünfmal über die Sekundarstufe I hinweg und darüber hinaus befragt. Die Anzahl der teilnehmenden Schulen und Schüler:innen hat sich dabei im Laufe der Zeit, nicht zuletzt auch durch die Einschränkungen während der Covid-Pandemie, reduziert. Die Schüler:innen beantworteten Fragen zu ihrer Person, ihrem Schulalltag und ihren Erfahrungen beim Übergang in Lebenssituationen nach der Sekundarstufe I. Auch ihre Kompetenzen in den Bereichen Lesen und Mathematik wurden mehrmals im Projektverlauf erfasst. Des Weiteren haben die Lehr- und Fachkräfte, Schulbegleitungen und Schulleitungen sowie die Eltern der Schüler:innen an INSIDE-Erhebungen teilgenommen.

Die Befragung von inklusiv lernenden Schüler:innen und weiteren Personen, die am Gestaltungsprozess eines inklusiven Schulalltags beteiligt sind, ermöglicht es, aus unterschiedlichen Blickwinkeln und auf verschiedenen Ebenen Gelingensbedingungen schulischer Inklusion zu identifizieren. Im Folgenden werden ausgewählte Forschungsergebnisse aus der Studie vorgestellt, die verschiedene Aspekte der Rahmenbedingungen zur Umsetzung von Inklusion in der Sekundarstufe I an allgemeinen Schulen in Deutschland, Lehr- und Fachkrafthandeln im inklusiven Unterricht sowie Folgen des inklusiven Lernens für Schüler:innen mit und ohne SPF beleuchten. Die Ergebnisse vermitteln einen Eindruck, wie vielfältig die Faktoren sind, die zu einem Gelingen von Inklusion im Schulalltag beitragen können.

Schulische Rahmenbedingungen

Die Rahmenbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten in Schulen zur Umsetzung von Inklusion unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Als Orientierung für die Beschreibung dieser Unterschiede kann dabei zwischen inklusiven Strukturen, inklusiven Praktiken und inklusiver (Schul-)Kultur unterschieden werden. Diese Dreiteilung geht auf den „Index für Inklusion“ zurück – eine Handreichung für Schulen, die sich inklusiv weiterentwickeln wollen.

Hinsichtlich des ersten Aspekts der inklusiven Strukturen zeigten sich in INSIDE beispielsweise deutliche Unterschiede zwischen den beteiligten Schulen in der Zusammensetzung der Schüler:innenschaft. Mehr als 60 Prozent aller Schulleitungen der Sekundarstufe I, die an INSIDE teilnahmen, gaben an, dass an ihrer Schule keine oder nur sehr wenige Schüler:innen mit SPF unterrichtet werden. Hingegen wurden an etwa 22 Prozent der Schulen hohe oder sehr hohe Anteile von Schüler:innen mit SPF berichtet – häufig hatten an diesen Schulen mehr als 10 Prozent aller Schüler:innen einen SPF. Weiterhin gaben fast 40 Prozent der befragten Schulleitungen an, dass ihre Schule überhaupt nicht barrierefrei gestaltet ist, während 20 Prozent der Schulen als völlig barrierefrei eingestuft wurden. Auch sind die Schulen ganz unterschiedlich mit räumlichen Möglichkeiten ausgestattet, etwa einem zusätzlichen Teamraum für die Lehrkräfte oder einem separaten Raum für Fördermaßnahmen.

Neben den inklusiven Strukturen unterscheiden sich die Schulen auch hinsichtlich des zweiten Aspekts – der inklusiven Praktiken – bei der Gestaltung des Schullebens. Beispielsweise gab rund die Hälfte aller befragten Schulleitungen an, dass an ihrer Schule Schüler:innen mit SPF 90 Prozent oder mehr Zeit im gemeinsamen Unterricht verbringen. Es gibt aber auch allgemeine Schulen, an denen Schüler:innen mit SPF völlig separiert von anderen Schüler:innen lernen. Auch die Zusammenarbeit des Schulpersonals wird von den Schulen auf verschiedene Weise organisiert. Die befragten Schulleitungen stimmten zu etwa 40 Prozent eher oder völlig zu, dass der Unterricht an ihren Schulen verlässlich in Mehrfachbesetzung erfolgt – also beispielsweise mit zwei Lehrkräften, die den Unterricht gemeinsam gestalten. An mehr als 20 Prozent der teilnehmenden Schulen gibt es hingegen keinerlei Mehrfachbesetzung.

Schließlich kann als dritter Aspekt die inklusive (Schul-)Kultur in den Blick genommen werden. Hier unterscheiden sich Schulen unter anderem bei der Zusammenarbeit in Teams. Beispielsweise berichteten etwa 80 Prozent der teilnehmenden Schulleitungen, dass es Klassen- oder Jahrgangsteams gibt, fachübergreifend zusammengearbeitet wird und bei Problemen gemeinsame Lösungsstrategien gesucht werden. An fast 60 Prozent der Schulen sind feste Zeiten für Besprechungen im Team vorgesehen. Gegenseitige Unterrichtsbesuche mit dem Ziel eines kollegialen Feedbacks finden hingegen nur an etwa einem Viertel der Schulen statt. Neben der Zusammenarbeit in Teams wurde auch die Reflexionskultur untersucht. Eine kritische und systematische Reflexion der eigenen Praxis gilt als wichtiges Kriterium guter inklusiver Schulen, da auf dieser Basis ein beständiger Entwicklungsprozess stattfinden kann. Dass auch hier deutliche Unterschiede zwischen den Schulen bestehen, verdeutlicht Abbildung 1. So stimmten beispielsweise rund 70 Prozent der befragten Schulleitungen der Aussage (eher) zu, dass sie regelmäßige interne Evaluationen durchführen, und in 80 Prozent der Schulen wird die eigene Praxis (eher) systematisch hinterfragt, während dies bei den übrigen Schulen (eher) nicht zutrifft.

Lehr- und Fachkrafthandeln im inklusiven Unterricht

Schüler:innen unterscheiden sich stark in ihren Lernvoraussetzungen, ihren Lernbedürfnissen sowie ihren Erfolgen im Kompetenzerwerb. Um dieser Heterogenität im inklusiven Unterricht gerecht zu werden, ist es wichtig, die schulischen Lerngelegenheiten an diese unterschiedlichen Lernausgangslagen und Lernziele anzupassen. Daher lag ein weiterer Fokus der INSIDE-Studie neben den im letzten Abschnitt betrachteten schulischen Rahmenbedingungen darauf, wie Lehr- und Fachkräfte handeln, um inklusiven Unterricht zu gestalten.

Eine Gestaltungsmöglichkeit besteht darin, dass Lehrkräfte Unterrichtsinhalte für Schüler:innen unterschiedlich aufbereiten und beispielsweise für verschiedene Schüler:innen unterschiedlich schwierige Aufgaben zum selben Thema entwickeln, je nachdem, was die Schüler:innen schon können. Eine solche Herangehensweise wird als Differenzierung bezeichnet. Im Rahmen der INSIDE-Studie wurden Lehrkräfte dazu befragt, wie gut sie sich unter anderem durch ihre Ausbildung auf verschiedene Maßnahmen der Differenzierung im inklusiven Unterricht vorbereitet fühlen und ob sie sich zutrauen, inklusiven Unterricht zu gestalten. Wie Abbildung 2 verdeutlicht, gaben ungefähr drei Viertel der befragten Lehrkräfte an, sich aufgrund ihrer universitären Lehramtsausbildung oder durch Fort- und Weiterbildungen gut auf die Differenzierung von Unterrichtsinhalten und -materialien vorbereitet zu fühlen. Auf eine individuelle Förderung von Schüler:innen mit SPF und auch auf eine differenzierte Bewertung von Lernerfolgen fühlten sich hingegen nur etwa die Hälfte der Lehrkräfte gut vorbereitet. Diese Befunde geben Aufschluss darüber, welche Aspekte schulischer Inklusion für Lehrkräfte in ihrem pädagogischen Handeln noch nicht selbstverständlich sind.

Um Unterrichtsinhalte an die individuellen Lernvoraussetzungen und -bedürfnisse der Schüler:innen anzupassen, können digitale Medien nützlich und entlastend sein. Deshalb wurden die an INSIDE teilnehmenden Deutsch- und Mathematiklehrkräfte auch zu ihrer Einstellung gegenüber dem Einsatz von digitalen Medien zur Differenzierung im Unterricht befragt. Hier zeigt die Auswertung, dass sie umso positivere Einstellungen gegenüber der Differenzierung mithilfe digitaler Medien haben, je mehr sie glauben, inklusiven Unterricht selbstständig, also durch die eigenen Fähigkeiten und das eigene Handeln, bewältigen zu können. Es ist daher wichtig, Lehrkräfte durch entsprechende Qualifizierungsangebote im Studium und in der Fort- und Weiterbildung auf das inklusive Unterrichten vorzubereiten und auch zu thematisieren, wie digitale Medien für die Differenzierung im inklusiven Fachunterricht genutzt werden können.

Neben der Differenzierung von Unterricht wird der Kooperation von Lehrkräften eine hohe Bedeutung für eine erfolgreiche Umsetzung schulischer Inklusion beigemessen. Damit ist gemeint, dass Regelschullehrkräfte und Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung gemeinsam für alle inklusiv lernenden Schüler:innen zuständig sind. Deshalb wurden Lehrkräfte in INSIDE auch zu ihrer Kooperationserfahrung befragt. Den Daten zufolge kooperieren Lehrkräfte besser, wenn sie sich gut auf das gemeinsame Unterrichten vorbereitet und wirksam in ihrem Unterricht fühlen und eine gute Arbeitsatmosphäre unter den Lehrkräften herrscht. Eine gute Schulkultur und eine unterstützende Schulleitung sind ebenso zentral für intensivere Kooperationen. Wie groß die Schule ist oder wie viele Schüler:innen mit SPF dort unterrichtet werden, ist für die Kooperation hingegen unwichtig. Womöglich sind für intensive Kooperationen von Lehrkräften weniger die mit der Schulgröße einhergehenden Strukturen relevant, als vielmehr, wie Schulen diese Strukturen für sich nutzen. Sonderpädagogische Lehrkräfte bewerten die Kooperation durchschnittlich betrachtet negativer als Regelschullehrkräfte. Es ist aber erst dann möglich, alle Schüler:innen gut im Unterricht zu unterstützen, wenn sich auch die sonderpädagogischen Lehrkräfte als selbstverständlichen Teil des Kollegiums verstehen.

Schüler:innen mit und ohne SPF

Ein weiteres Hauptaugenmerk der INSIDE-Studie lag darauf, inwiefern Inklusion und inklusive Unterrichtspraktiken vorteilhaft für die individuelle schulische und nachschulische Entwicklung von Schüler:innen mit und ohne SPF sind – oder ob es sogar negative Auswirkungen gibt. Ein wichtiger Aspekt der individuellen Entwicklung von inklusiv lernenden Schüler:innen ist ihre soziale Partizipation am Schul- und Unterrichtsgeschehen – unter anderem deshalb, weil Inklusion Kindern und Jugendlichen dazu verhelfen soll, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Im Rahmen der Studie beantworteten Schüler:innen daher Fragen dazu, wie sie sich im Klassenverbund integriert fühlen und das soziale Miteinander in ihrer Klasse wahrnehmen. Die Auswertungen der Daten zeigen, dass Schüler:innen mit SPF ihre soziale Partizipation als geringer einschätzen als ihre Mitschüler:innen ohne SPF. Außerdem sinkt die berichtete soziale Partizipation aller Schüler:innen während der Sekundarstufe I ab. Wertschätzende und unterstützende Beziehungen zu ihren Lehrkräften und hohe Sozialkompetenzen der Schüler:innen können jedoch dazu beitragen, dass sich die soziale Partizipation aller Schüler:innen verbessert.

Auch der Erwerb überfachlicher Kompetenzen gilt als wichtiger Indikator dafür, ob Schüler:innen mit und ohne SPF von einem inklusiven Bildungssystem profitieren können. Damit sind etwa Selbstkompetenzen (wie Selbstvertrauen), lernmethodische Kompetenzen (etwa die Anwendung von Lernstrategien) sowie soziale Fähigkeiten (wie ein konstruktiver Umgang mit Konflikten) von Schüler:innen gemeint. Diese überfachlichen Kompetenzen tragen dazu bei, am gemeinsamen Leben in der Gesellschaft teilzuhaben und sich weiteres Wissen anzueignen. In der INSIDE-Studie wurden Lehrkräfte darum gebeten, für alle Schüler:innen einzuschätzen, wie deren überfachliche Kompetenzen ausgeprägt sind. Bei dieser Einschätzung sollten die Lehrkräfte angeben, ob die überfachlichen Kompetenzen geringer, vergleichbar oder höher ausgeprägt sind als bei anderen Kindern gleichen Alters. Dieser Einschätzung zufolge fallen die überfachlichen Kompetenzen bei Schüler:innen mit SPF etwas geringer aus als bei ihren Mitschüler:innen, und es zeigen sich auch Unterschiede zwischen verschiedenen sonderpädagogischen Förderbedarfen (Abbildung 3).

Vertiefende Analysen zeigen zudem, dass sich verschiedene schulische Rahmenbedingungen – beispielsweise eine kleine Klassengröße oder der Anspruch von Lehrkräften, die Selbstständigkeit ihrer Schüler:innen zu fördern – positiv auf die überfachlichen Kompetenzen aller Schüler:innen auswirken. Es gibt aber auch Unterschiede in den Zusammenhängen: Die Anwesenheit sonderpädagogischer Lehr- beziehungsweise Fachkräfte im Unterricht trägt etwa dazu bei, dass Schüler:innen mit SPF bessere lernmethodische Kompetenzen entwickeln und dadurch auch die Unterschiede zwischen Schüler:innen mit und ohne SPF verringert werden. Gleichzeitig werden Schüler:innen mit SPF jedoch geringere Selbstkompetenzen zugeschrieben, wenn eine sonderpädagogische Lehrkraft im Unterricht anwesend ist. Ob sonderpädagogische Lehrkräfte vermehrt in Klassen mitarbeiten, in denen Schüler:innen mit geringeren Selbstkompetenzen lernen, oder ob die Schüler:innen durch die Anwesenheit sonderpädagogischer Lehrkräfte weniger Selbstkompetenzen erwerben, ist mit den INSIDE-Daten jedoch nicht beantwortbar.

Nach einem weiten Inklusionsverständnis profitieren möglichst alle Schüler:innen von einem inklusiven Bildungssystem – auch diejenigen ohne SPF. Über Vor- oder Nachteile des gemeinsamen Lernens für diese Gruppe wird bislang allerdings kontrovers diskutiert. Einerseits wird etwa die Sorge geäußert, dass sich Lehrkräfte im inklusiven Unterricht überwiegend um Schüler:innen mit SPF kümmern müssen und Schüler:innen ohne SPF weniger Aufmerksamkeit erhalten und sich von ihren Lehrkräften weniger unterstützt fühlen könnten. Andererseits wird unter anderem angenommen, dass das Lernen mit Gleichaltrigen mit unterschiedlichsten Bedarfen die Entwicklung der Sozialkompetenzen von Schüler:innen ohne SPF fördern könnte. Die INSIDE-Daten zeigen, dass es hinsichtlich dieser Aspekte weder Vor- noch Nachteile für Schüler:innen ohne SPF gibt. Sie nehmen die Beziehung zu ihren Lehrkräften als wertschätzend und unterstützend wahr – unabhängig davon, ob und wie viele ihrer Mitschüler:innen einen SPF haben und in welchen Bereichen diese Förderbedarfe bestehen. Auch für die Entwicklung der Sozialkompetenzen von Schüler:innen ohne SPF ist es unerheblich, ob sie gemeinsam mit Gleichaltrigen mit SPF lernen oder nicht. Gute Beziehungen zwischen den Schüler:innen einer Klasse und zwischen Lehrkräften und ihren Schüler:innen tragen dazu bei, dass sich die Sozialkompetenzen von Schüler:innen ohne SPF verbessern. Die Ergebnisse der INSIDE-Studie können damit – zumindest in dieser Hinsicht – die Sorge vor negativen Folgen von Inklusion nehmen.

Übergänge am Ende der Sekundarstufe I

Um die nachschulische Entwicklung von inklusiv lernenden Schüler:innen betrachten zu können, wurde in INSIDE auch untersucht, welche Wege die Jugendlichen nach der Sekundarstufe I einschlagen. Hierfür wurden beispielsweise verschiedene Übergangsmöglichkeiten am Ende der Sekundarstufe I erfasst, unter anderem die Übergänge in eine weiterführende Schule oder eine berufliche Lebenssituation. Da die Datenerhebung erst im Frühjahr 2025 abgeschlossen wurde, liegen hierzu bislang nur vorläufige Befunde vor. Dabei zeichnet sich folgendes Bild ab: Die allermeisten Jugendlichen, die an INSIDE teilgenommen haben, besuchten nach der neunten Klasse zunächst weiterhin eine Schule. Von denjenigen Jugendlichen, die die Schule bereits verlassen hatten, machten die meisten eine betriebliche Ausbildung oder besuchten eine Berufsschule. Viele Jugendliche waren aber auch noch auf der Suche nach dem nächsten Ausbildungsabschnitt oder machten zum Zeitpunkt der Erhebung „nichts“.

Dabei gab es teilweise Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne SPF. Demnach machten Jugendliche ohne SPF etwas häufiger entweder eine Ausbildung oder „nichts“ als Jugendliche mit SPF. Dafür nahmen diejenigen mit SPF häufiger an berufsvorbereitenden Maßnahmen teil als Jugendliche ohne SPF. Einerseits scheinen also viele Jugendliche mit SPF bereits in einem nachschulischen Hilfesystem aufgefangen zu sein. Andererseits weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Jugendliche ohne SPF, die nach dem neunten Schulbesuchsjahr die Schule verlassen, mitunter keine Anschlussorientierung haben und dass es strukturierter Maßnahmen für eine bessere nachschulische Orientierung auch für diese Jugendlichen bedarf.

Zukunft der inklusiven Schulbildung

Inklusion und damit soziale Partizipation ist ein wichtiger Wert unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Zu einer Umstellung des Schulsystems hin zu Inklusion und Partizipation hat sich Deutschland rechtlich verpflichtet. Schulische Inklusion ist dabei aber ein komplexes Unterfangen und zählt zu den größten Schulreformvorhaben der vergangenen Jahrzehnte. Daher wird Inklusion durchaus kontrovers diskutiert. Das betrifft zum einen die grundlegende Debatte darüber, was Inklusion im Bildungssystem überhaupt bedeutet. Zum anderen gibt es unterschiedliche Sichtweisen, ob und wie Inklusion an allgemeinen Schulen in Deutschland konkret realisiert werden kann. Um hierzu eine umfassende Informationsbasis zu schaffen, wurden im Rahmen der INSIDE-Studie bundesweit über einen längeren Zeitraum empirische Daten gesammelt.

Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, wie unterschiedlich Inklusion in Deutschland umgesetzt wird. Die Schulen haben verschiedene Ausgangslagen und Herangehensweisen hinsichtlich des gemeinsamen Unterrichtens von Schüler:innen mit und ohne SPF. Und auch die Ziele gelungener Inklusion sind verschieden: einerseits geht es um die soziale Partizipation und die Kompetenzen von Schüler:innen mit SPF, andererseits um die Schüler:innen ohne SPF beziehungsweise um alle Schüler:innen. Zudem wird eine unüberschaubare Vielzahl an Bedingungen für eine „gelingende Inklusion“ diskutiert. Zu manchen dieser Gelingensbedingungen liegen nun empirische Befunde vor, wie etwa die Organisation des Schullebens, Formen der Unterrichtsgestaltung, von denen alle Schüler:innen profitieren und bei denen möglichst die Nachteile Einzelner ausgeglichen werden können, sowie die Zusammenarbeit der verschiedenen Lehr- und Fachkräfte. Weitere Gelingensbedingungen fokussieren darauf, wie sich Schüler:innen mit und ohne SPF besser entwickeln können. Hierzu wurden exemplarisch die soziale Partizipation und überfachlichen sowie sozialen Kompetenzen von Schüler:innen mit und ohne SPF betrachtet. Die Befunde spiegeln dabei Momentaufnahmen wider, die den Prozess der Umsetzung von Inklusion, die Reichweite der schulischen Reform und die damit einhergehenden Entwicklungen nur in Ansätzen streifen. Im Großen und Ganzen zeigen die Ergebnisse der INSIDE-Studie aber, dass sich viele Schulen bereits erfolgreich auf den Weg zur Umsetzung von Inklusion gemacht haben. Dennoch gibt es zahlreiche Ansatzpunkte, um inklusive Bildung weiter zu stärken und zu verbessern.

Inklusion ist ein Prozess, und wissenschaftliche Erkenntnisse wie diejenigen aus der INSIDE-Studie können genutzt werden, um über diesen Transformationsprozess zu informieren und ihn zu optimieren. Um weitere wissenschaftliche Auswertungen zu ermöglichen, werden die INSIDE-Daten im Sommer 2025 auch als Scientific Use File über das Forschungsdatenzentrum des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe der weltweiten Wissenschaftscommunity zur Verfügung gestellt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung, Bielefeld 2018; dies., Bildung in Deutschland 2024: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu beruflicher Bildung, Bielefeld 2024.

  2. Vgl. Jonna M. Blanck, Die vielen Gesichter der Inklusion. Wie SchülerInnen mit Behinderung unterrichtet werden, unterscheidet sich innerhalb Deutschlands stark, WZBrief Bildung 30/2015, Externer Link: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:101:1-201507211072; Cornelia Gresch/Poldi Kuhl/Lena Külker, Ausgewählte schulische Ausgangslagen und organisatorische Gestaltungsformen von Inklusion an Grundschulen in Deutschland, in: Cornelia Gresch et al. (Hrsg.), Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen, Wiesbaden 2020, S. 179–211.

  3. Das diesem Beitrag zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter den Förderkennzeichen IN1503A, IN1503B, IN1503C und IN1503D gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor:innen.

  4. Vgl. Cornelia Gresch et al., Schulische Ausgangslagen und organisatorische Gestaltungsformen von Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 10/2021, S. 484–507.

  5. Vgl. Monja Schmitt/Cornelia Gresch/Amelie Labsch, Challenges in Sampling Students With and Without Special Educational Needs in Inclusive Settings, in: Survey Methods: Insights from the Field 2/2023, o.S., Externer Link: https://surveyinsights.org/?p=17319; Cornelia Gresch et al., Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland – Erkenntnisinteresse, Forschungsdesign und Datengrundlage der INSIDE-Längsschnittstudie, in: dies. (Hrsg.), Inklusion in der Sekundarstufe I in Deutschland. Erfolgsfaktoren und Herausforderungen (i.E.).

  6. INSIDE bietet ein breites Informationsangebot, um verschiedene Inklusionsverständnisse sowie Herangehensweisen zur Kategorisierung von SPF abzubilden; den hier angeführten Studien, die auf Daten des INSIDE-Projekts basieren, liegen teilweise unterschiedliche Herangehensweisen zugrunde, die in den jeweiligen Studien explizit nachvollzogen werden können.

  7. Vgl. Gresch et al. (Anm. 4).

  8. Vgl. Tony Booth/Mel Ainscow, Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung, Weinheim–Basel 2019.

  9. Vgl. Petra Stanat et al. (Hrsg.), IQB-Bildungstrend 2022. Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster 2023.

  10. Vgl. Birgit Lütje-Klose, Schulische Inklusion und sonderpädagogische Professionalität. Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung, in: Daria Ferencik-Lehmkuhl et al. (Hrsg.), Inklusion digital! Chancen und Herausforderungen inklusiver Bildung im Kontext von Digitalisierung, Bad Heilbrunn 2023, S. 17–32.

  11. Vgl. Katrin Böhme/Robert Reggentin/Cornelia Gresch, Einstellung von Lehrkräften zum Einsatz digitaler Medien für die Differenzierung im Fachunterricht in inklusiven Lerngruppen der Sekundarstufe I, in: Gresch et al. (Anm. 5).

  12. Vgl. Andreas Hinz, Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 9/2002, S. 354–361; Jacquelin Kluge/Michael Grosche, Hängen die disziplinären Selbstverständnisse von Lehrkräften in inklusiven Schulen von ihrer kokonstruktiven Kooperation ab?, in: Empirische Pädagogik 4/2021, S. 356–377.

  13. Vgl. Jacquelin Kluge et al., Welche individuellen und schulischen Merkmale unterstützen die kokonstruktive Kooperation von Regelschul- und sonderpädagogischen Lehrkräften in inklusiven Schulen der Sekundarstufe I?, in: Gresch et al. (Anm. 5).

  14. Vgl. Lena Külker/Amelie Labsch/Michael Grosche, Entwicklung und Evaluation eines Fragebogens zur Selbsteinschätzung der sozialen Partizipation von Schüler*innen in der Sekundarstufe I, in: Empirische Sonderpädagogik 4/2021, S. 312–327; Amelie Labsch/Lena Külker/Michael Grosche, Die Selbsteinschätzung der sozialen Partizipation von Schüler*innen in der Sekundarstufe I. Welche Rolle spielen sonderpädagogische Förderbedarfe der Schüler*innen und Merkmale der Lehrkräfte?, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 1/2025, S. 5–27.

  15. Vgl. Michael Grosche et al., Entwicklung der sozialen Partizipation von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen und Schüler*innen ohne sonderpädagogische Förderbedarfe im Verlauf der Sekundarstufe I, in: Gresch et al. (Anm. 5).

  16. Vgl. Cornelia Gresch/Lena Nusser, Schulische Rahmenbedingungen und überfachliche Kompetenzen in inklusiven Klassen, in: Empirische Sonderpädagogik 2/2023, S. 157–176.

  17. Vgl. Afroditi Kalambouka et al., The Impact of Placing Pupils With Special Educational Needs in Mainstream Schools on the Achievement of Their Peers, in: Educational Research 4/2007, S. 365–382; Nienke M. Ruijs/Thea T.D. Peetsma, Effects of Inclusion on Students With and Without Special Educational Needs Reviewed, in: Educational Research Review 2/2009, S. 67–79.

  18. Vgl. Amelie Labsch/Monja Schmitt/Marianne Schüpbach, Nehmen Schüler*innen ohne sonderpädagogische Förderbedarfe in inklusiven Klassen die Beziehung zu ihren Lehrkräften anders wahr als ihre Peers in nicht-inklusiven Klassen?, in: Zeitschrift für Pädagogik 6/2023, S. 811–831.

  19. Vgl. Amelie Labsch/Monja Schmitt/Verena Hofmann, Wie entwickeln sich einzelne Dimensionen von Sozialkompetenzen von Schüler*innen ohne sonderpädagogische Förderbedarfe in inklusiven Klassen?, in: Gresch et al. (Anm. 5).

  20. Vgl. Cornelia Gresch/Ines Reißenweber/Michael Grosche, Was machen Jugendliche mit und ohne sonderpädagogische Förderbedarfe nach Verlassen der Schule?, Ergebnisse aus der INSIDE-Studie Frühjahr 2025, www.inside-studie.de/Portals/0/Flyer_Broschueren/INSIDE II_Ergebnisbroschüre 2025_final.pdf.

  21. Siehe Externer Link: https://www.inside-studie.de.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Amelie Labsch, Cornelia Gresch, Michael Grosche, Katrin Böhme für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg und Co-Leiterin des INSIDE-Projekts.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin und Co-Leiterin des INSIDE-Projekts.

ist Professor für Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt Lernen an der Bergischen Universität Wuppertal und Co-Leiter des INSIDE-Projekts.

ist Professorin für Inklusionspädagogik mit dem Schwerpunkt Sprache an der Universität Potsdam und Co-Leiterin des INSIDE-Projekts.