Im Jahr 2009 hat sich Deutschland durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu einem inklusiven Bildungssystem verpflichtet. Seither lernen Schüler:innen mit und ohne sonderpädagogische Förder- beziehungsweise Unterstützungsbedarfe (SPF) zunehmend gemeinsam an allgemeinen Schulen.
In dem Forschungsprojekt „INSIDE – Inklusion in und nach der Sekundarstufe I in Deutschland“ wurden diese verschiedenen Ausgangslagen und Rahmenbedingungen schulischer Inklusion näher untersucht.
„Inklusion“ bezieht sich dabei nicht allein auf Schüler:innen mit SPF. Einem offenen Inklusionsverständnis folgend umfasst dieser Begriff alle Schüler:innen und die gesamte Organisation der Schule. Das schulische Miteinander soll so gestaltet sein, dass alle Schüler:innen gut lernen können, sich wohlfühlen und gut in ihre Klasse eingebunden sind. Die Erforschung von Inklusion bezieht daher neben schulorganisatorischen Faktoren und den Schüler:innen selbst auch die Rolle von Lehrkräften, Schulleitungen, weiterem pädagogischen Personal und den Eltern mit ein.
Im Forschungsprojekt INSIDE wurden zunächst im Jahr 2018 bundesweit insgesamt 1014 Schulleitungen an allgemeinen Schulen der Sekundarstufe I zu den schulischen Rahmenbedingungen und der Umsetzung von Inklusion befragt.
Die Befragung von inklusiv lernenden Schüler:innen und weiteren Personen, die am Gestaltungsprozess eines inklusiven Schulalltags beteiligt sind, ermöglicht es, aus unterschiedlichen Blickwinkeln und auf verschiedenen Ebenen Gelingensbedingungen schulischer Inklusion zu identifizieren. Im Folgenden werden ausgewählte Forschungsergebnisse aus der Studie vorgestellt, die verschiedene Aspekte der Rahmenbedingungen zur Umsetzung von Inklusion in der Sekundarstufe I an allgemeinen Schulen in Deutschland, Lehr- und Fachkrafthandeln im inklusiven Unterricht sowie Folgen des inklusiven Lernens für Schüler:innen mit und ohne SPF beleuchten.
Schulische Rahmenbedingungen
Die Rahmenbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten in Schulen zur Umsetzung von Inklusion unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht.
Hinsichtlich des ersten Aspekts der inklusiven Strukturen zeigten sich in INSIDE beispielsweise deutliche Unterschiede zwischen den beteiligten Schulen in der Zusammensetzung der Schüler:innenschaft. Mehr als 60 Prozent aller Schulleitungen der Sekundarstufe I, die an INSIDE teilnahmen, gaben an, dass an ihrer Schule keine oder nur sehr wenige Schüler:innen mit SPF unterrichtet werden. Hingegen wurden an etwa 22 Prozent der Schulen hohe oder sehr hohe Anteile von Schüler:innen mit SPF berichtet – häufig hatten an diesen Schulen mehr als 10 Prozent aller Schüler:innen einen SPF. Weiterhin gaben fast 40 Prozent der befragten Schulleitungen an, dass ihre Schule überhaupt nicht barrierefrei gestaltet ist, während 20 Prozent der Schulen als völlig barrierefrei eingestuft wurden. Auch sind die Schulen ganz unterschiedlich mit räumlichen Möglichkeiten ausgestattet, etwa einem zusätzlichen Teamraum für die Lehrkräfte oder einem separaten Raum für Fördermaßnahmen.
Neben den inklusiven Strukturen unterscheiden sich die Schulen auch hinsichtlich des zweiten Aspekts – der inklusiven Praktiken – bei der Gestaltung des Schullebens. Beispielsweise gab rund die Hälfte aller befragten Schulleitungen an, dass an ihrer Schule Schüler:innen mit SPF 90 Prozent oder mehr Zeit im gemeinsamen Unterricht verbringen. Es gibt aber auch allgemeine Schulen, an denen Schüler:innen mit SPF völlig separiert von anderen Schüler:innen lernen. Auch die Zusammenarbeit des Schulpersonals wird von den Schulen auf verschiedene Weise organisiert. Die befragten Schulleitungen stimmten zu etwa 40 Prozent eher oder völlig zu, dass der Unterricht an ihren Schulen verlässlich in Mehrfachbesetzung erfolgt – also beispielsweise mit zwei Lehrkräften, die den Unterricht gemeinsam gestalten. An mehr als 20 Prozent der teilnehmenden Schulen gibt es hingegen keinerlei Mehrfachbesetzung.
Schließlich kann als dritter Aspekt die inklusive (Schul-)Kultur in den Blick genommen werden. Hier unterscheiden sich Schulen unter anderem bei der Zusammenarbeit in Teams. Beispielsweise berichteten etwa 80 Prozent der teilnehmenden Schulleitungen, dass es Klassen- oder Jahrgangsteams gibt, fachübergreifend zusammengearbeitet wird und bei Problemen gemeinsame Lösungsstrategien gesucht werden. An fast 60 Prozent der Schulen sind feste Zeiten für Besprechungen im Team vorgesehen. Gegenseitige Unterrichtsbesuche mit dem Ziel eines kollegialen Feedbacks finden hingegen nur an etwa einem Viertel der Schulen statt. Neben der Zusammenarbeit in Teams wurde auch die Reflexionskultur untersucht. Eine kritische und systematische Reflexion der eigenen Praxis gilt als wichtiges Kriterium guter inklusiver Schulen, da auf dieser Basis ein beständiger Entwicklungsprozess stattfinden kann. Dass auch hier deutliche Unterschiede zwischen den Schulen bestehen, verdeutlicht Abbildung 1. So stimmten beispielsweise rund 70 Prozent der befragten Schulleitungen der Aussage (eher) zu, dass sie regelmäßige interne Evaluationen durchführen, und in 80 Prozent der Schulen wird die eigene Praxis (eher) systematisch hinterfragt, während dies bei den übrigen Schulen (eher) nicht zutrifft.
Lehr- und Fachkrafthandeln im inklusiven Unterricht
Schüler:innen unterscheiden sich stark in ihren Lernvoraussetzungen, ihren Lernbedürfnissen sowie ihren Erfolgen im Kompetenzerwerb.
Eine Gestaltungsmöglichkeit besteht darin, dass Lehrkräfte Unterrichtsinhalte für Schüler:innen unterschiedlich aufbereiten und beispielsweise für verschiedene Schüler:innen unterschiedlich schwierige Aufgaben zum selben Thema entwickeln, je nachdem, was die Schüler:innen schon können. Eine solche Herangehensweise wird als Differenzierung bezeichnet. Im Rahmen der INSIDE-Studie wurden Lehrkräfte dazu befragt, wie gut sie sich unter anderem durch ihre Ausbildung auf verschiedene Maßnahmen der Differenzierung im inklusiven Unterricht vorbereitet fühlen und ob sie sich zutrauen, inklusiven Unterricht zu gestalten. Wie Abbildung 2 verdeutlicht, gaben ungefähr drei Viertel der befragten Lehrkräfte an, sich aufgrund ihrer universitären Lehramtsausbildung oder durch Fort- und Weiterbildungen gut auf die Differenzierung von Unterrichtsinhalten und -materialien vorbereitet zu fühlen. Auf eine individuelle Förderung von Schüler:innen mit SPF und auch auf eine differenzierte Bewertung von Lernerfolgen fühlten sich hingegen nur etwa die Hälfte der Lehrkräfte gut vorbereitet. Diese Befunde geben Aufschluss darüber, welche Aspekte schulischer Inklusion für Lehrkräfte in ihrem pädagogischen Handeln noch nicht selbstverständlich sind.
Um Unterrichtsinhalte an die individuellen Lernvoraussetzungen und -bedürfnisse der Schüler:innen anzupassen, können digitale Medien nützlich und entlastend sein.
Neben der Differenzierung von Unterricht wird der Kooperation von Lehrkräften eine hohe Bedeutung für eine erfolgreiche Umsetzung schulischer Inklusion beigemessen. Damit ist gemeint, dass Regelschullehrkräfte und Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung gemeinsam für alle inklusiv lernenden Schüler:innen zuständig sind.
Schüler:innen mit und ohne SPF
Ein weiteres Hauptaugenmerk der INSIDE-Studie lag darauf, inwiefern Inklusion und inklusive Unterrichtspraktiken vorteilhaft für die individuelle schulische und nachschulische Entwicklung von Schüler:innen mit und ohne SPF sind – oder ob es sogar negative Auswirkungen gibt. Ein wichtiger Aspekt der individuellen Entwicklung von inklusiv lernenden Schüler:innen ist ihre soziale Partizipation am Schul- und Unterrichtsgeschehen – unter anderem deshalb, weil Inklusion Kindern und Jugendlichen dazu verhelfen soll, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Im Rahmen der Studie beantworteten Schüler:innen daher Fragen dazu, wie sie sich im Klassenverbund integriert fühlen und das soziale Miteinander in ihrer Klasse wahrnehmen. Die Auswertungen der Daten zeigen, dass Schüler:innen mit SPF ihre soziale Partizipation als geringer einschätzen als ihre Mitschüler:innen ohne SPF.
Auch der Erwerb überfachlicher Kompetenzen gilt als wichtiger Indikator dafür, ob Schüler:innen mit und ohne SPF von einem inklusiven Bildungssystem profitieren können. Damit sind etwa Selbstkompetenzen (wie Selbstvertrauen), lernmethodische Kompetenzen (etwa die Anwendung von Lernstrategien) sowie soziale Fähigkeiten (wie ein konstruktiver Umgang mit Konflikten) von Schüler:innen gemeint. Diese überfachlichen Kompetenzen tragen dazu bei, am gemeinsamen Leben in der Gesellschaft teilzuhaben und sich weiteres Wissen anzueignen.
Vertiefende Analysen zeigen zudem, dass sich verschiedene schulische Rahmenbedingungen – beispielsweise eine kleine Klassengröße oder der Anspruch von Lehrkräften, die Selbstständigkeit ihrer Schüler:innen zu fördern – positiv auf die überfachlichen Kompetenzen aller Schüler:innen auswirken. Es gibt aber auch Unterschiede in den Zusammenhängen: Die Anwesenheit sonderpädagogischer Lehr- beziehungsweise Fachkräfte im Unterricht trägt etwa dazu bei, dass Schüler:innen mit SPF bessere lernmethodische Kompetenzen entwickeln und dadurch auch die Unterschiede zwischen Schüler:innen mit und ohne SPF verringert werden. Gleichzeitig werden Schüler:innen mit SPF jedoch geringere Selbstkompetenzen zugeschrieben, wenn eine sonderpädagogische Lehrkraft im Unterricht anwesend ist. Ob sonderpädagogische Lehrkräfte vermehrt in Klassen mitarbeiten, in denen Schüler:innen mit geringeren Selbstkompetenzen lernen, oder ob die Schüler:innen durch die Anwesenheit sonderpädagogischer Lehrkräfte weniger Selbstkompetenzen erwerben, ist mit den INSIDE-Daten jedoch nicht beantwortbar.
Nach einem weiten Inklusionsverständnis profitieren möglichst alle Schüler:innen von einem inklusiven Bildungssystem – auch diejenigen ohne SPF. Über Vor- oder Nachteile des gemeinsamen Lernens für diese Gruppe wird bislang allerdings kontrovers diskutiert. Einerseits wird etwa die Sorge geäußert, dass sich Lehrkräfte im inklusiven Unterricht überwiegend um Schüler:innen mit SPF kümmern müssen und Schüler:innen ohne SPF weniger Aufmerksamkeit erhalten und sich von ihren Lehrkräften weniger unterstützt fühlen könnten. Andererseits wird unter anderem angenommen, dass das Lernen mit Gleichaltrigen mit unterschiedlichsten Bedarfen die Entwicklung der Sozialkompetenzen von Schüler:innen ohne SPF fördern könnte.
Übergänge am Ende der Sekundarstufe I
Um die nachschulische Entwicklung von inklusiv lernenden Schüler:innen betrachten zu können, wurde in INSIDE auch untersucht, welche Wege die Jugendlichen nach der Sekundarstufe I einschlagen. Hierfür wurden beispielsweise verschiedene Übergangsmöglichkeiten am Ende der Sekundarstufe I erfasst, unter anderem die Übergänge in eine weiterführende Schule oder eine berufliche Lebenssituation. Da die Datenerhebung erst im Frühjahr 2025 abgeschlossen wurde, liegen hierzu bislang nur vorläufige Befunde vor.
Dabei gab es teilweise Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne SPF. Demnach machten Jugendliche ohne SPF etwas häufiger entweder eine Ausbildung oder „nichts“ als Jugendliche mit SPF. Dafür nahmen diejenigen mit SPF häufiger an berufsvorbereitenden Maßnahmen teil als Jugendliche ohne SPF. Einerseits scheinen also viele Jugendliche mit SPF bereits in einem nachschulischen Hilfesystem aufgefangen zu sein. Andererseits weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Jugendliche ohne SPF, die nach dem neunten Schulbesuchsjahr die Schule verlassen, mitunter keine Anschlussorientierung haben und dass es strukturierter Maßnahmen für eine bessere nachschulische Orientierung auch für diese Jugendlichen bedarf.
Zukunft der inklusiven Schulbildung
Inklusion und damit soziale Partizipation ist ein wichtiger Wert unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Zu einer Umstellung des Schulsystems hin zu Inklusion und Partizipation hat sich Deutschland rechtlich verpflichtet. Schulische Inklusion ist dabei aber ein komplexes Unterfangen und zählt zu den größten Schulreformvorhaben der vergangenen Jahrzehnte. Daher wird Inklusion durchaus kontrovers diskutiert. Das betrifft zum einen die grundlegende Debatte darüber, was Inklusion im Bildungssystem überhaupt bedeutet. Zum anderen gibt es unterschiedliche Sichtweisen, ob und wie Inklusion an allgemeinen Schulen in Deutschland konkret realisiert werden kann. Um hierzu eine umfassende Informationsbasis zu schaffen, wurden im Rahmen der INSIDE-Studie bundesweit über einen längeren Zeitraum empirische Daten gesammelt.
Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, wie unterschiedlich Inklusion in Deutschland umgesetzt wird. Die Schulen haben verschiedene Ausgangslagen und Herangehensweisen hinsichtlich des gemeinsamen Unterrichtens von Schüler:innen mit und ohne SPF. Und auch die Ziele gelungener Inklusion sind verschieden: einerseits geht es um die soziale Partizipation und die Kompetenzen von Schüler:innen mit SPF, andererseits um die Schüler:innen ohne SPF beziehungsweise um alle Schüler:innen. Zudem wird eine unüberschaubare Vielzahl an Bedingungen für eine „gelingende Inklusion“ diskutiert. Zu manchen dieser Gelingensbedingungen liegen nun empirische Befunde vor, wie etwa die Organisation des Schullebens, Formen der Unterrichtsgestaltung, von denen alle Schüler:innen profitieren und bei denen möglichst die Nachteile Einzelner ausgeglichen werden können, sowie die Zusammenarbeit der verschiedenen Lehr- und Fachkräfte. Weitere Gelingensbedingungen fokussieren darauf, wie sich Schüler:innen mit und ohne SPF besser entwickeln können. Hierzu wurden exemplarisch die soziale Partizipation und überfachlichen sowie sozialen Kompetenzen von Schüler:innen mit und ohne SPF betrachtet. Die Befunde spiegeln dabei Momentaufnahmen wider, die den Prozess der Umsetzung von Inklusion, die Reichweite der schulischen Reform und die damit einhergehenden Entwicklungen nur in Ansätzen streifen. Im Großen und Ganzen zeigen die Ergebnisse der INSIDE-Studie aber, dass sich viele Schulen bereits erfolgreich auf den Weg zur Umsetzung von Inklusion gemacht haben. Dennoch gibt es zahlreiche Ansatzpunkte, um inklusive Bildung weiter zu stärken und zu verbessern.
Inklusion ist ein Prozess, und wissenschaftliche Erkenntnisse wie diejenigen aus der INSIDE-Studie können genutzt werden, um über diesen Transformationsprozess zu informieren und ihn zu optimieren. Um weitere wissenschaftliche Auswertungen zu ermöglichen, werden die INSIDE-Daten im Sommer 2025 auch als Scientific Use File über das Forschungsdatenzentrum des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe der weltweiten Wissenschaftscommunity zur Verfügung gestellt.