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Inklusion Editorial Meine behinderte Zukunft - Essay Der Faschismus in den Köpfen Historische Inklusionserfolge? Zum ambivalenten Verlauf von Inklusionsprozessen in der Geschichte behinderter Menschen Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Bestandsaufnahme und aktuelle Perspektiven Inklusive Schulbildung in Deutschland. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Inklusive Bildung – und dann? Befunde aus der Studie „Inklusion in und nach der Sekundarstufe I in Deutschland“ (INSIDE) Inklusion als Menschenrecht? Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung in Deutschland

Inklusion als Menschenrecht? Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung in Deutschland

Theresia Degener Maria del Pilar Andrino Garcia

/ 15 Minuten zu lesen

Die UN-Behindertenrechtskonvention war Impulsgeberin für Inklusion als Menschenrecht. Dennoch gibt es bei ihrer Umsetzung in Deutschland erhebliche Mängel: Strukturelle Reformen sind nötig, besonders im Bildungs- und Gesundheitswesen.

Ist Inklusion ein (neues) Menschenrecht? Diese Frage stellt sich spätestens seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahre 2009 in Deutschland. Diese erste Menschenrechtskonvention des 21. Jahrhunderts hat wie keine andere Rechtsquelle die Debatte um Inklusion von behinderten Menschen beeinflusst und neue Akzente auch für das Völkerrecht allgemein gesetzt.

Inklusion als neues Menschenrecht, das in mehrere Richtungen transformativ wirkt? Wer die Debatten zur UN-BRK verfolgt, könnte dieser Einschätzung zustimmen. Aber gibt es Inklusion überhaupt als eigenständiges Menschenrecht? Weder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 noch die beiden grundlegenden UN-Pakte von 1966, die zusammen mit der Allgemeinen Erklärung die Internationale Menschenrechtscharta bilden, enthalten ein Menschenrecht auf Inklusion. Auch die UN-BRK selbst enthält keinen eigenständigen Artikel mit einem Menschenrecht auf Inklusion. Inklusion als Begriff erscheint in der UN-BRK vielmehr als Bestandteil verschiedener Normen: einmal als allgemeines Prinzip in Artikel 3, sodann als Bestandteil des Rechts auf selbstbestimmtes Leben im inklusiven Sozialraum nach Artikel 19 und weiter als Teil des Rechts auf Bildung nach Artikel 24 sowie des Rechts auf Arbeit nach Artikel 27.

Was also ist Inklusion? Ein eigenständiges Recht? Ein Prinzip? Ein Bestandteil anderer Menschenrechte? Und was ist daran neu? Schaut man auf die Entstehungsgeschichte der UN-BRK, die zwischen 2002 und 2006 in New York erarbeitet wurde, dann galt als allgemeines Versprechen, dass keine neuen Menschenrechte geschaffen werden. Das war die Voraussetzung für die breite Akzeptanz dieser neuen Menschenrechtskonvention, die bis heute anhält. Wenn also die Entstehungsgeschichte darauf hindeutet, dass Inklusion kein neues Menschenrecht ist, ist sie dann Bestandteil alter Menschenrechte? Und wenn ja, welcher?

Versteht man Inklusion als Teilhabe an der Gesellschaft, als Partizipations-, Mitwirkungs- und Zugangsrecht, dann könnten die klassischen Menschenrechte der politischen Partizipation und der kulturellen Partizipation, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den anderen Kern-Menschenrechtskonventionen ausgeformt wurden, als Anker dienen. Denkt man an die Inklusionsdebatte in Deutschland, dann bietet sich selbstverständlich auch das Recht auf Bildung für die Verortung an. Weit verbreitet ist die Vorstellung, Inklusion als übergreifendes Prinzip zu verstehen, das allen Menschenrechten inhärent sei. Dann wäre Inklusion ein Ausdruck des Universalitätsanspruchs aller Menschenrechte.

Inklusion ist jedoch nicht nur als Prinzip, sondern auch als Bestandteil und zugleich Weiterentwicklung eines der ältesten und fundamentalsten Menschenrechte, dem Recht auf Gleichberechtigung, zu verstehen. Dieses Menschenrecht ist in den vergangenen siebzig Jahren seiner Existenz als Menschenrecht der Vereinten Nationen mehrfach verändert und weiterentwickelt worden.

So kennen wir verschiedene Konzepte der Gleichheit, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt haben, angefangen bei dem formalen Gleichheitskonzept, das auf dem aristotelischen Gedanken der gleichen Behandlung Gleicher sowie Ungleichbehandlung Ungleicher beruht. Ihm wurde insbesondere durch die feministische Rechtswissenschaft das materiale oder substanzielle Gleichheitskonzept zur Seite gestellt, welches auch die mittelbare Diskriminierung erfasst und die unterschiedlichen Lebenslagen sozialer Gruppen in den Blick nimmt. Und nun, mit der UN-BRK, haben wir ein neues Gleichheitsverständnis, das der Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seiner 2018 verabschiedeten Allgemeinen Bemerkung Nummer 7 zu Artikel 5 UN-BRK als „inklusive Gleichheit“ bezeichnet. Mit der inklusiven Gleichheit werden die neuen modernen Herausforderungen des Antidiskriminierungsrechts in Angriff genommen: Nicht nur die direkte, sondern auch die indirekte Benachteiligung wird ins Visier genommen, genauso wie die Verweigerung angemessener Vorkehrungen für behinderte Menschen, die im Einzelfall bauliche, zeitliche, kommunikative oder informationelle Anpassungen brauchen, oder die gruppenbezogene Barrierefreiheit. Zum Konzept der inklusiven Gleichheit gehört auch die Adressierung intersektionaler Diskriminierung wegen Behinderung und weiterer Gründe, wie zum Beispiel Geschlecht, Alter, sexuelle Identität, ethnischer Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Ableistische, also behindertenfeindliche Diskriminierung muss wie rassistische oder sexistische Diskriminierung durch eine Kombination von reaktiven Verboten und Geboten, sowie mit proaktiven Mitteln der Förderung und weiteren systematischen und prozessorientierten Maßnahmen adressiert werden. Inklusion als Menschenrecht ist damit die moderne Ausformung des Menschenrechts auf Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Staatenüberprüfung in Genf

Die Umsetzung und Überwachung der UN-BRK findet in allen Vertragsstaaten zweigleisig, auf nationaler und internationaler Ebene, statt. Die nach Artikel 33 UN-BRK zuständigen nationalen Stellen – das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die staatliche Koordinierungsstelle (Bundesbehindertenbeauftragter mit Inklusionsbeirat) und die nationale Monitoringstelle UN-BRK (Deutsches Institut für Menschenrechte) – haben in diesem System der nationalen Umsetzung und Überwachung unterschiedliche Rollen. Auf internationaler Ebene ist vor allem das Staatenberichtsverfahren nach Artikel 35 bis 39 UN-BRK das Herzstück der Überwachung. Die Vertragsstaaten müssen regelmäßig, zunächst alle zwei, dann alle vier Jahre, Staatenberichte vorlegen, die vom UN-BRK-Ausschuss, dem 18 unabhängige Expert*innen angehören, geprüft werden. Zum Prüfverfahren gehört eine öffentliche Anhörung mit den staatlichen Vertreter*innen und den weiteren nationalen Stellen. Die Prüfung endet mit den sogenannten Abschließenden Bemerkungen des UN-BRK-Ausschusses in Genf zum Umsetzungsstand der UN-BRK in diesem Land.

Zwei deutsche Staatenprüfungsverfahren fanden bislang statt, 2015 und 2023. In beiden Verfahren erntete Deutschland Lob, aber noch sehr viel mehr Kritik. Gelobt wurden zuletzt insbesondere die Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit und die gesetzlichen Reformen im Betreuungsrecht, dem Kinder- und Jugendhilferecht und in der Eingliederungshilfe (Bundesteilhabegesetz). Kritisiert wurde Deutschland insbesondere für seine segregierende Politik und seine Aussonderungsstrukturen in den Feldern Bildung, Wohnen und Arbeit. Förder- und Sonderschulen, Heime und besondere Wohneinrichtungen sowie Werkstätten für behinderte Menschen tragen seit Dekaden dazu bei, dass Inklusion in Deutschland scheitert. Gleichwohl wird behauptet, Inklusion finde statt, indem diese Exklusionseinrichtungen und ihre Dienstleistungen als Inklusionsmaßnahmen bezeichnet und gesetzlich legitimiert werden. Für diese Vereinnahmung des Inklusionsbegriffs wurden in der Anhörung deutliche Worte gefunden. So kritisierte der zuständige Experte des UN-BRK-Ausschusses Marcus Schefer diese systematische Aussonderung behinderter Menschen und deren rechtliche Legitimation durch deutsche Gesetze und deutsche Rechtsprechung als Separate-but-equal-Praxis. Damit zog er einen Vergleich zur rassistischen Doktrin „separate but equal“ der US-Rechtsprechung aus dem vorletzten Jahrhundert. Der Oberste Gerichtshof der USA hatte im Jahre 1896 in der Entscheidung Plessy v. Ferguson die „Rassentrennung“ zwischen weißer und schwarzer Bevölkerung mit ebendieser Doktrin legitimiert: Das Verbot für schwarze Menschen, sich in ein für Weiße vorbehaltenes Zugabteil zu setzen, sei keine Diskriminierung, sondern nur eine getrennte Gleichbehandlung. Schwarze Menschen könnten wie weiße Menschen die Züge benutzen, nur eben getrennt. Es dauerte fast 60 Jahre, bis die Separate-but-equal-Doktrin mit der Entscheidung Brown v. Board of Education 1954 fallen gelassen wurde.

Die Aussonderung behinderter Kinder und Jugendlicher aus dem deutschen Schulwesen mit der rassistischen Trennungspolitik der US-amerikanischen Südstaaten oder gar der Apartheidpolitik Südafrikas zu vergleichen, ist eine drastische Rhetorik, die stark emotionalisiert. Und doch ähnelt sie aber einer Rhetorik, die Sonderschulen, Wohnheime und Werkstätten für behinderte Menschen als Inklusion bewertet. Auch die deutsche Staatendelegation 2023 in Genf vertrat die Ansicht, deutsche Förderschulen gehörten zum inklusiven deutschen Bildungssystem. Bei vielen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, insbesondere denjenigen, die während der Staatenprüfung vor dem Palast der Vereinten Nationen ein Protestcamp organisierten, löste diese Rhetorik ähnlich starke Gefühle aus. „Schämt euch“ stand auf deren Bannern. Gemeint war und ist damit die systematische Aussonderung behinderter Kinder aus dem Regelschulsystem in Deutschland und eben diese Auffassung, dass die getrennte Bildung von behinderten Kindern in deutschen Sonder- und Förderschulen Ausdruck eines inklusiven Bildungssystems im Sinne der UN-BRK sei.

Die Abschließenden Bemerkungen des UN-BRK-Ausschusses aus dem Jahre 2023 greifen die Kritikpunkte aus der ersten Staatenprüfung auf. Zu alten Themen, wie der ungenauen deutschen Übersetzung der UN-BRK oder der fehlenden Gewaltschutzstrategie, gesellen sich neue, wie das Thema der Triage oder die diskriminierende Praxis gegenüber behinderten Personen mit Flucht- und Migrationshintergrund.

Die Abschließenden Bemerkungen aus 2015 wurden erneut bestätigt, erweitert und nuanciert. Als Hauptthemen lassen sich vier Themenfelder identifizieren: Dringender Handlungsbedarf sieht der Ausschuss in Bezug auf das Recht auf selbstbestimmtes Leben, also den Bereich Wohnen, sowie in Bezug auf die Rechte auf inklusive Bildung und inklusive Beschäftigung. Die Empfehlungen zu diesen Rechten werden als dringende Angelegenheiten identifiziert. Wie schon 2015 empfiehlt der UN-BRK-Ausschuss auch die Aufhebung der Aussonderung von behinderten Menschen in Heimen und besonderen Wohneinrichtungen, in Sonder- und Förderschulen oder in Werkstätten. Nuancierter als noch 2015 wird eine personenzentrierte Inklusionsstrategie angemahnt. Die aussondernden Strukturen können nicht parallel weitergeführt werden – das sagt der UN-BRK-Ausschuss deutlich und unter Bezugnahme auf seine Allgemeinen Bemerkungen sowie neuen Leitlinien zu diesen Themenfeldern. Mit Verweis auf die Istanbul-Konvention wird zudem eine intersektionale Gewaltschutzstrategie als dringende Maßnahme angemahnt.

Ergebnisse der zweiten Staatenprüfung

Nach Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes ist die UN-BRK durch Ratifikation Teil der deutschen Rechtsordnung geworden. Damit steht sie auf gleicher Stufe wie das Neunte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX), also über den Landesgesetzen und unterhalb des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem entschieden, dass die UN-BRK als Auslegungshilfe zur Interpretation der Grundrechte herangezogen werden muss. Damit steht sie in gewissem Sinne also sogar über den allgemeinen anderen Bundesgesetzen, wie dem SGB IX oder dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG).

Nach Artikel 20 Absatz 3 GG ist „die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden“, was bedeutet, dass die Bundes- und Landesregierungen und alle Behörden an die UN-BRK unmittelbar gebunden sind. Außerdem gilt bei uns als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Daraus ergibt sich für die Exekutive wiederum die Pflicht völkerrechtsfreundlichen Verhaltens.

In mehreren Entscheidungen zur UN-BRK entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die UN-BRK verbindliches Recht ist und auch zur Auslegung der Grundrechte heranzuziehen ist. Diese Verbindlichkeit sieht es allerdings nicht für die Dokumente des UN-BRK-Ausschusses. Diese sind sogenanntes soft law im Völkerrecht und jedenfalls in der deutschen Rechtsprechung zu berücksichtigen.

Aus völkerrechtlicher Sicht gilt, dass der UN-BRK-Ausschuss von den Vereinten Nationen mit der internationalen Überwachung betraut worden ist. Damit hat seine Meinung im Rahmen des internationalen Monitorings mehr Gewicht als die eines jeden anderen menschenrechtlichen Fachausschusses der Vereinten Nationen oder sonst eines Menschenrechtsorgans. Die Ausschussmitglieder werden gemäß Artikel 34 Absatz 5 UN-BRK in geheimer Wahl von den Vertragsstaaten aus einer Liste, die sie selbst zusammengestellt haben, gewählt. Gemäß Artikel 37 UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, mit den UN-BRK-Ausschussmitgliedern zusammenzuarbeiten. Nach Artikel 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969, die Deutschland ebenfalls ratifiziert hat, gilt der Grundsatz Pacta sunt servanda – Verträge sind nach Treu und Glauben einzuhalten. In Artikel 27 des Wiener Übereinkommens heißt es weiter, dass sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen kann, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. Daraus ergibt sich die völkerrechtliche Pflicht, die Umsetzung der Empfehlungen aus den Abschließenden Bemerkungen zumindest ernsthaft zu prüfen. Einen Fahrplan dafür liefern die Ergebnisse der BRK-Konferenz, die nach der Staatenprüfung vom Bundesbehindertenbeauftragten und dem Deutschen Institut für Menschenrechte im Februar 2024 organisiert und dokumentiert wurde. Für den Bereich der medizinischen Versorgung lässt sich beispielhaft diskutieren, wie eine Umsetzung der UN-BRK in Deutschland aussehen müsste.

Inklusion im Gesundheitswesen

Vorneweg sei betont: Wäre eine inklusive Gesundheitsversorgung bereits realisiert, wären die nachfolgenden Reflexionen obsolet. Medizinische Leistungen würden in einem inklusiven Gesundheitswesen unabhängig von Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, kognitiven und körperlichen Fähigkeiten, sexueller Orientierung, Religion oder Weltanschauung und sozialer Herkunft erbracht. Gesundheitsbezogene Differenzierungen innerhalb dieser Diversitätsdimensionen wären in einer inklusiven Gesundheitsversorgung dort erforderlich, wo innerhalb der Regelversorgung auch heute spezifische Fachdisziplinen differenzierte Herangehensweisen erfordern – etwa in der Pädiatrie (altersbezogen) oder der Gynäkologie (geschlechtsspezifisch).

Die Alltagsrealität zeigt jedoch, dass ein inklusives Gesundheitswesen schon daran scheitert, dass ableistische Strukturen und damit einhergehende gesellschaftliche und medizinische Verständnisse von Behinderung vorliegen. Ableismus bezeichnet eine Sichtweise, die bestimmte körperliche und kognitive Merkmale als normativ setzt und dadurch Menschen mit Behinderung systematisch benachteiligt und ihre gesellschaftliche und damit auch gesundheitliche Teilhabe einschränkt oder gänzlich verhindert.

In Bezug auf das Recht auf Gesundheit nach Artikel 25 UN-BRK äußert der UN-BRK-Ausschuss Besorgnis über fehlende Barrierefreiheit von Gesundheitseinrichtungen und den Mangel an qualifizierten Fachkräften im Gesundheitswesen, die in der Kommunikation in barrierefreien Methoden und Formen geschult sind. Besorgt ist der Ausschuss ebenso über die mangelnde Gesundheitsversorgung von Menschen mit kognitiver und/oder psychosozialer Behinderung in Deutschland. Auch werden Rechtsvorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zur Sicherstellung informierter Einwilligungen in barrierefreien Formaten vor jedem medizinischen Eingriff angemahnt. Zu den Empfehlungen des Ausschusses gehören Maßnahmen zur Herstellung von Verfügbarkeit und Barrierefreiheit von diskriminierungsfreien Gesundheitsdienstleistungen in allen Bundesländern, insbesondere für behinderte Frauen und in ländlichen Gebieten, sowie regelmäßige Schulungen von Fachkräften im Gesundheitswesen „im Hinblick auf die Menschenrechte, die Menschenwürde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen“.

Medizinische Versorgung

Menschen mit Behinderung positionieren sich gegen eine Exklusion, sowohl im Allgemeinen als auch im Gesundheitswesen. Irreführende Nomenklaturen einer „inklusiven Medizin“ verdecken aber mitunter, dass die allgemeine Regelversorgung flächendeckend inklusiv und damit diskriminierungsfrei ausgestaltet sein muss. Es ist nicht akzeptabel, dass Diagnosen wie Krebs, chronische Erkrankungen oder Sinnesbeeinträchtigungen bei Menschen mit Behinderung weiterhin signifikant später gestellt werden, nicht selten mit dem Verweis auf eine unzureichende Untersuchbarkeit infolge vermeintlich fehlender Compliance (Behandlungsbereitschaft der Betroffenen).

Hoffnungsvoll erschien in diesem Zusammenhang der vom Bundesministerium für Gesundheit initiierte und 2024 veröffentlichte „Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“. Dieser weist jedoch in einem zentralen Aspekt erhebliche Defizite auf: Er orientiert sich nicht an der UN-BRK, sondern folgt weiterhin einem medizinisch-defizitorientierten Modell. Infolgedessen wird Beeinträchtigung per se als Defizit konstruiert. Allein diese Perspektive wirkt systematisch inklusiven Entwicklungsprozessen entgegen und verhindert deren nachhaltige Umsetzung.

Am Beispiel der Barrierefreiheit in Gesundheitseinrichtungen wird deutlich, dass der Aktionsplan bestenfalls gute Absichten formuliert, jedoch keine verbindlichen Standards zur Förderung von Inklusion etabliert. Dabei wäre es zum Beispiel im Rahmen der Neuzulassung von Arztpraxen ohne Weiteres möglich, Barrierefreiheit verpflichtend vorzuschreiben. Für bereits bestehende Praxen hätten „angemessene Vorkehrungen“ gemäß Artikel 2 der UN-BRK eingefordert werden können. Dadurch wären zumindest erste rechtlich bindende Regelungen sowie Sanktionen in Gesetzgebungsverfahren und Zulassungsverordnungen verankert worden. Das wäre ein notwendiger Schritt, um Menschen mit Behinderung zumindest eine Auswahlmöglichkeit unter barrierefreien medizinischen Einrichtungen zu eröffnen.

Zudem berichten Menschen mit Behinderung vermehrt, bei der Anmeldung als Neupatient*in abgewiesen zu werden. Vermutete Ursachen sind unter anderem ein erhöhter zeitlicher und arbeitsbezogener Aufwand bei gleichzeitig fehlender Gegenfinanzierung. Eine besondere Problematik zeigt sich bei der Transition ins Erwachsenenleben. Viele junge Menschen mit Behinderung verbleiben über ihre Volljährigkeit hinaus in der pädiatrischen Versorgung, da sie in der Erwachsenenmedizin keinen adäquaten Anschluss finden. Spätestens im Wartezimmer, umgeben von Kindern, wird spürbar, wie sehr strukturelle Barrieren ihre Selbstbestimmung einschränken.

In dieser Übergangsphase und darüber hinaus leisten Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB, nach Paragraf 119c SGB V) einen wichtigen Beitrag. Als interdisziplinär organisierte Fachambulanzen begleiten sie auch die Transition und gewährleisten eine fachmedizinische Versorgung. Auch wenn diese Einrichtungen nicht inklusiv sind, fungieren sie, analog zu anderen Fachambulanzen, als Schnittstelle zwischen niedergelassener Ärzteschaft, weiteren Fachdisziplinen und stationären Einrichtungen. Sie ermöglichen eine fachlich fundierte Zuarbeit und koordinierte Überleitung, beispielsweise im Rahmen des Aufnahme- und Entlassmanagements bei Krankenhausaufenthalten, wodurch die Qualität der medizinischen Versorgung verbessert wird. Äquivalent arbeiten Sozialpädiatrische Zentren (SPZ, nach Paragraf 119 SGB V) in der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit (drohender) Behinderung.

Die Bedeutung struktureller Barrieren und Diskriminierungserfahrungen in der medizinischen Versorgung sei an dieser Stelle abschließend anhand von zwei Beispielen veranschaulicht. Zum einen kritisieren Frauen mit Behinderung seit Jahren den Mangel an barrierefreier gynäkologischer Versorgung. Häufig mangelt es an geeigneten Untersuchungsstühlen für Rollstuhlnutzer*innen sowie an barrierefrei zugänglichen Räumlichkeiten. Darüber hinaus wird die selbstbestimmte Sexualität von Frauen mit Behinderung in der ärztlichen Praxis immer wieder infrage gestellt – häufig gefolgt von pauschalen Empfehlungen gegen einen möglichen Kinderwunsch. Anstelle einer barrierefreien, individuellen, respektvollen und ressourcenorientierten Beratung überwiegen Hinweise auf genetische Risiken sowie die generelle Infragestellung der elterlichen Kompetenz.

Zum anderen wurden im Kontext der Covid-19-Pandemie bestehende strukturelle Missstände im Gesundheitswesen besonders im Kontext der Triage-Thematik deutlich. Ein gesellschaftlicher und fachlicher Diskurs entfaltete sich erst infolge eines wegweisenden Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021. Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung bei Triage-Entscheidungen nicht benachteiligt werden.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Inklusion im Gesundheitswesen gegenwärtig weder hinreichend umgesetzt noch systematisch geplant wird. Spätestens an diesem Punkt wird die Notwendigkeit einer konsequenten Umsetzung des menschenrechtsbasierten Modells der UN-BRK deutlich und damit auch die Dringlichkeit, ableistische Denkmuster abzulegen. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang die unverändert gültigen Einschätzungen der UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Catalina Devandas Aguilar: „Ein Leben mit Behinderung ist genauso lebenswert wie jedes andere Leben. Jeder Mensch verfügt über eine einzigartige Kombination einmaliger Eigenschaften und Erfahrungen, die ihn wertvoll und unersetzlich machen. Das Leben von Menschen mit Behinderungen ist menschliches Leben, dem eben deshalb Würde innewohnt. Menschen mit Behinderungen können ein erfülltes Leben haben und all das genießen, was dem Leben Bedeutung verleiht. Sie haben die gleichen Wünsche und Ziele wie alle anderen Menschen, möchten Freundschaften schließen, eine Arbeit finden, in einer eigenen Wohnung leben, eine Familie gründen und Träume verwirklichen. Menschen mit Behinderungen bringen Talente und Vielfalt in die Gemeinschaften ein, in denen sie leben, und bereichern diese. Sicherlich sind sie bei der Verwirklichung ihrer Ziele mit größeren Hürden konfrontiert als andere Menschen. Aber ihre Bemühungen und Leistungen tragen dazu bei, eine inklusivere und vielfältigere Gesellschaft aufzubauen – zum Wohl aller Menschen.“

Fazit

Inklusion als Menschenrechtsprinzip und als Menschenrecht auf inklusive Gleichberechtigung ist eine der Innovationen, die mit der UN-BRK in die deutsche Rechtsordnung und ins Völkerrecht Einzug gehalten haben. Die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland verläuft jedoch schleppend, weil traditionelle Sondereinrichtungen und etablierte Formen der Leistungserbringung erhalten werden und fälschlicherweise als Inklusion beschönigt werden. Das widerspricht der UN-BRK und der Rechtspraxis des UN-BRK-Ausschusses. Die zweite Staatenprüfung vor dem UN-BRK-Ausschuss 2023 zeigte deutlich, wie wenig Inklusion und wie viel Exklusion durch Segregation in Deutschland realisiert wird. Am Beispiel der medizinischen Versorgung lassen sich diskriminierende und ableistische Strukturen, die einer Umsetzung der UN-BRK im Wege stehen, aufzeigen. Die Abschließenden Empfehlungen des UN-BRK-Ausschusses aus der zweiten Staatenprüfung werden von der Leitung der Monitoringstelle UN-BRK als „Leitlinien für die Inklusionspolitik des nächsten Jahrzehnts“ eingestuft. Der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel erinnert daran, dass die Umsetzung der UN-BRK nicht verhandelbar ist, weil sich Bund und Länder dazu verpflichtet haben: „Inklusion ist ein Menschenrecht und Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal für ein modernes und demokratisches Land.“ Die Dokumentation der Ergebnisse der BRK-Konferenz im Anschluss an die Staatenprüfung könnte zusammen mit den Leitlinien zur Deinstitutionalisierung des UN-BRK-Ausschusses und dem Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderung zum Thema Transformation von Dienstleistungen für behinderte Menschen als Fahrpläne dienen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Theresia Degener, Die UN-Behindertenrechtskonvention – Ansatz einer inklusiven Menschenrechtstheorie, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge 1/2019, S. 487–508.

  2. Vgl. dies./Franziska Witzmann: Der Kampf um die Behindertenrechtskonvention. Ein steiniger Weg zu inklusiver Freiheit und inklusiver Gleichheit, in: Zeitschrift für Disability Studies 2/2023, S. 1–26.

  3. Vgl. Wolfhard Schweiker, Prinzip Inklusion. Grundlagen einer interdisziplinären Metatheorie in religionspädagogischer Perspektive, Göttingen–Bristol 2017, S. 82f.

  4. Vgl. Gudrun Wansing, Der Inklusionsbegriff in der Behindertenrechtskonvention, in: Antje Welke (Hrsg.), UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen, Berlin–Freiburg/Br. 2012, S. 93–103; Valentina Della Fina/Rachele Cera/Giuseppe Palmisano, The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities. A Commentary, Cham 2017; Tarek Naguib et al. (Hrsg.), UNO-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Bern 2023, Rn. 22; Sarah Arduin, Article 3: General Principles, in: Ilias Bantekas/Michael Ashley Stein/Dimitris Anastasiou (Hrsg.), The Convention on the Rights of Persons with Disabilities. A Commentary, Oxford 2018, S. 84–105.

  5. Vgl. Ute Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1996²; Susanne Baer, Würde oder Gleichheit? Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Baden-Baden 1995; Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen, Tübingen 2021.

  6. Vgl. UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD), CRPD/C/GC/7, General Comment No. 7 on the Participation of Persons with Disabilities, Including Children with Disabilities, Through Their Representative Organizations, in the Implementation and Monitoring of the Convention, angenommen auf seiner zwanzigsten Tagung (27. August–21. September 2018).

  7. Vgl. CRPD, CRPD/C/DEU/CO/2-3, Abschließende Bemerkungen zum kombinierten zweiten und dritten periodischen Bericht Deutschlands, angenommen auf seiner neunundzwanzigsten Tagung (14. August–8. September 2023), Ziff. 4.

  8. Vgl. ebd., Ziff. 29–44, Ziff. 53–56, Ziff. 61–62.

  9. Vgl. US Supreme Court, Homer A. Plessy v. Ferguson, 163 U.S. Ct. 573, 18.5.1896.

  10. Vgl. US Supreme Court, Oliver Brown et al. v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. Ct. 483, 17.5.1954.

  11. Vgl. CRPD (Anm. 7), Ziff. 75.

  12. Vgl. ebd.

  13. Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 128, 282 (Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug); BVerfGE 160, 79 (Behinderung in der Triage).

  14. Vgl. BVerfGE 142, 313 (Zwangsbehandlung).

  15. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen/Deutsches Institut für Menschenrechte (DIM), „Neuer Schwung für die UN-BRK in Deutschland: Wie weiter nach der zweiten Staatenprüfung?“ am 27. Februar 2024, Externer Link: https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/
    PublikationenErklaerungen/240318_UNBRK_Doku.pdf
    .

  16. Vgl. CRPD (Anm. 7), Ziff. 57.

  17. Ebd., Ziff. 58.

  18. Vgl. BVerfGE (Anm. 13).

  19. Report of the Rapporteur on the Rights of Persons with Disabilities. Thematic Study on the Impact of Ableism in Medical and Scientific Practice, A/HRC/43/41, 17.12.2019, zit. nach Übersetzung von Silke Rasche-Walther, Ziff. 74, S. 20.

  20. Vgl. Beauftragter der Bundesregierung/DIM (Anm. 14), S. 6.

  21. Ebd., S. 3.

  22. Vgl. ebd.

  23. Vgl. Jana Offergeld, Leitlinien zur Deinstitutionalisierung. Vorgaben des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum Abbau von Sondereinrichtungen, Berlin 2023.

  24. Vgl. Transformation der Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen. Bericht des Sonderberichterstatters über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, A/HRC/52/32, 27.12.2022.

Lizenz

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ist Professorin i.R. für Recht und Disability Studies an der Evangelischen Hochschule Bochum. Sie war Mitglied des UN-BRK-Ausschusses.

ist promovierte Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Weiterbildungen in Medizinischer Genetik sowie in der Medizin für Menschen mit Behinderung.