Der 1. August 1975 ist als der Tag in die Geschichte eingegangen, an dem das Schlussdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet wurde. Können wir heute sagen, dass dieses in Helsinki beschlossene Abkommen nicht nur die internationale Politik maßgeblich beeinflusst, sondern auch innerhalb der sozialistischen Staaten, insbesondere in der Sowjetunion, Wirkung gezeigt hat?
Beim erneuten Lesen der 50 Jahre alten Schlussakte von Helsinki überkommt einen ein bitteres Gefühl. Das Putin-Regime bricht seit Jahren mit sämtlichen Prinzipien des Helsinki-Aktes: 2014 annektierte es die Krim, begann einen Krieg in der Ostukraine und führt seit 2022 einen umfassenden Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. Das Wort „Frieden“ ist in Russland nahezu tabu. Repressive Praktiken kehren zurück – nicht wie zur Breschnew-Zeit, sondern fast verblüffend stalinistisch. Bereits jetzt ist die Zahl der politischen Gefangenen höher als in der Breschnew-Ära. Und selbst die härtesten Urteile aus den 1960er bis 1980er Jahren sind im Vergleich mit den heutigen der Putin-Gerichte harmlos.
Das Schicksal der Dissidenten, die damals in sowjetischen Lagern zu Tode kamen, gewinnt heute wieder an erschreckender Aktualität. Der ukrainische Dichter Wassyl Stus, Mitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe, starb vor 40 Jahren in „Perm-36“ – einer sowjetischen Straflagerkolonie für „besonders gefährliche Staatsverbrecher“. In den steinernen Zellen, in denen die Temperatur kaum über 15 Grad Celsius stieg, saßen Anfang der 1980er Jahre politische Gefangene, darunter litauische und ukrainische Menschenrechtsaktivisten. Als wir in den 1990er Jahren mit der Menschenrechtsorganisation Memorial daran beteiligt waren, das Lager in ein Museum umzuwandeln, war ich selbst dort. Es war eine sehr bedrückende Erfahrung.
Dieses Erlebnis kam mir wieder in den Sinn, als ich über die Bedingungen las, unter denen der Oppositionelle Alexei Nawalny in heutigen Straflagern leiden musste. 2024 wurde er wie Stus in Gefangenschaft zu Tode gebracht. Es ist furchteinflößend, wenn man sich die Haftbedingungen für politische Gefangene in Putins Russland bewusst macht. Zugleich ist es bezeichnend für die aktuelle russische Geschichtspolitik, dass „Perm-36“ auch heute noch als Museum dient – seit 2014 allerdings unter neuer, linientreuer Führung mit entsprechend veränderter Ausrichtung.
Kehren wir zurück in die Vergangenheit. 1975 war die Menschenrechtslage in der Sowjetunion düster. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968 zerbrachen die letzten Hoffnungen auf einen möglichen demokratischen Wandel in Osteuropa. Die Intervention beendete nicht nur den „Prager Frühling“, sondern auch den Glauben der Andersdenkenden in der Sowjetunion, es könne in absehbarer Zeit eine Möglichkeit für Reformen im eigenen Land geben. Auch bei mir persönlich, damals noch am Anfang meines Lebensweges, schwand die Hoffnung auf Freiheit in Osteuropa. Wer es wagte, offen zu protestieren, dem drohte die Festnahme, Lagerhaft oder Verbannung. So erging es etwa den acht Demonstranten, die wenige Tage nach der Intervention in der Tschechoslowakei auf dem Roten Platz in Moskau gegen den Einmarsch protestierten: Alle wurden festgenommen und verurteilt – einige ins Exil geschickt, andere in Lager gesteckt oder für „geisteskrank“ erklärt und in psychiatrische Spezialkliniken zwangseingewiesen. Selbst die widersprüchliche Entstalinisierung unter Chruschtschow wurde gestoppt; das Thema des stalinistischen Terrors wurde erneut tabuisiert. Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn wurde nach der Veröffentlichung seines Buches „Der Archipel Gulag“ in einem Pariser Verlag 1973 zum „Staatsfeind Nummer 1“ erklärt und aus dem Land ausgewiesen.
Vor diesem düsteren Hintergrund erschien die Unterzeichnung des Helsinki-Abkommens im Sommer 1975 wie ein Lichtblick – ein Hoffnungsschimmer, dass der Kalte Krieg nicht weiter eskalieren würde, dass es keine Neuauflage der Berlin-Krise von 1958 bis 1961 oder der Kubakrise von 1962 geben würde. Auch mit der „neuen Ostpolitik“ von Willy Brandt verbanden sich gewisse Erwartungen. Nichtsdestotrotz bestand jedoch kein Zweifel daran, dass die sowjetische Führung vor allem deshalb an der Helsinkier Konferenz teilnahm, um die politischen und territorialen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges sowie die Nachkriegsordnung in Europa endgültig festzuschreiben. Moskau hoffte auf internationale Anerkennung seiner Grenzen und der faktischen Kontrolle über die Länder des Ostblocks – in der Annahme, dass die inneren Verhältnisse der Sowjetunion ein reines Binnenproblem bleiben würden, unbeachtet vom Westen. Doch es kam anders.
Die drei „Körbe“
Für die Konferenz wurden drei Verhandlungspakete vorbereitet, die als „Körbe“ bezeichnet wurden – ein Begriff, der sich bis heute gehalten hat. Der erste Korb betraf die Unverletzlichkeit der Grenzen, der zweite wirtschaftliche und handelsbezogene Vereinbarungen. Für die sowjetische Führung war der erste Korb von größter Bedeutung – er enthielt die Bestätigung der Nachkriegsgrenzen, die Europa in Ost und West teilten. In diesem Zusammenhang kam ihr besonders eine Klausel entgegen, wonach die USA die gewaltsame Eingliederung Litauens, Lettlands und Estlands in die Sowjetunion 1940 nicht anfochten. Dieser Passus wurde auch von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten übernommen – was Proteste im Westen auslöste, da die sowjetische Besetzung dieser Länder damit indirekt legitimiert wurde. Schließlich gab es noch den dritten Korb – den humanitären, in dem es um Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit und Religionsfreiheit ging. Gerade dieser Abschnitt wurde überraschenderweise zur Grundlage für die Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern.
Als die Mitglieder des Politbüros der KPdSU kurz vor Unterzeichnung des Abkommens dessen vollständigen Text zu sehen bekamen, waren sie äußerst besorgt. Sie befürchteten, dass die Vereinbarungen eine gefährliche Einladung zu Einmischungen internationaler Kräfte in die sowjetische Innenpolitik sein könnten. Doch der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko überzeugte das Politbüro, dass die humanitären Forderungen des Westens nur leere Worte auf Papier seien, die niemand wirklich ernst nehme. Diese (Fehl-)Einschätzung gab den Ausschlag für die Zustimmung zur Unterzeichnung. Es wurde beschlossen, die humanitären Passagen des Abkommens innerhalb der Sowjetunion nur vage zu thematisieren. Man hoffte, dass sie unbeachtet bleiben würden. Offenbar ging auch die KGB-Führung davon aus, dass es sich bei den Menschenrechtlern nur um eine unbedeutende Minderheit handelte und keine ernsthafte Protestwelle zu erwarten sei. Auch im Westen betrachtete man die Helsinki-Bestimmungen eher als symbolische Geste gegenüber den demokratischen Kräften, die sich über die Verfolgung von Dissidenten in der Sowjetunion empörten.
Eine der Bestimmungen des Helsinki-Abkommens war allerdings die Verpflichtung, die Dokumente in den Zeitungen aller Teilnehmerstaaten zu veröffentlichen. In der Sowjetunion wurden die Inhalte der Vereinbarungen in der zentralen Parteizeitung „Prawda“ veröffentlicht. Diese Veröffentlichung sollte sich für den Kreml als verhängnisvoll erweisen: Nun forderten die Dissidenten laut und öffentlich Freiheit – und zwar nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern auf Grundlage jener Vereinbarungen, zu denen sich die sowjetische Regierung in Helsinki selbst verpflichtet hatte.
Entstehung der Helsinki-Bewegung
Bereits in den ersten Monaten nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki zeigten sich die Probleme, mit denen die sowjetische Führung neuerdings konfrontiert war. Es gab jetzt internationale Instanzen, an die sich Beschwerdeführer wenden konnten. Das Menschenrechts- beziehungsweise Dissidentenmilieu war zwar noch schwach, konnte sich nun aber auf die internationalen Verpflichtungen der Sowjetunion aus dem Helsinki-Abkommen berufen. Sogar andere Unterzeichnerstaaten der Schlussakte konnten Beschwerde einreichen, wenn die Sowjetunion gegen die im dritten Korb festgeschriebenen Menschenrechte verstieß – im Extremfall sogar unter Androhung von Sanktionen.
Ich erinnere mich sehr gut an den Eindruck, den die Helsinki-Vereinbarungen aus dem dritten Korb auf mich machten, als sie in der „Prawda“ veröffentlicht wurden. Denn dort stand:
„Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen. In diesem Rahmen werden die Teilnehmerstaaten die Freiheit des Individuums anerkennen und achten, sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu einer Religion oder einer Überzeugung in Übereinstimmung mit dem, was sein Gewissen ihm gebietet, zu bekennen und sie auszuüben.“
Natürlich hegten nur wenige die Hoffnung, dass die sowjetische Führung nun tatsächlich beginnen würde, Menschenrechte einzuhalten. Einige Menschenrechtler betrachteten die Helsinki-Vereinbarungen gar als Rückschritt im Vergleich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Andere befürchteten, dass ein Appell an die Schlussakte von Helsinki als eine Aufgabe der eigenen Position interpretiert werden könnte – nach dem Motto: Von einem kommunistischen Regime sei ohnehin kein Respekt vor Menschenrechten zu erwarten, und ein solcher Bezug würde bloß Heuchelei legitimieren.
Und dennoch: Menschenrechtsaktivisten hatten jetzt die Möglichkeit, gegenüber Behörden ihren Forderungen mit dem Verweis auf Helsinki mehr Nachdruck zu verleihen und die sowjetische Führung auf diese Weise unter Druck zu setzen. Als dem Physiker und Dissidenten Andrei Sacharow im Dezember 1975 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, nutzte er seine Nobelpreisvorlesung, um auf genau diese Möglichkeit hinzuweisen. Zugleich erinnerte er an die herrschenden Zustände in der Sowjetunion und die Notwendigkeit eines langen Atems:
„Die Schlussakte der Konferenz von Helsinki hat die Prinzipien der Meinungsfreiheit erneut bekräftigt. Doch es bedarf eines langen und beharrlichen Kampfes, damit diese Bestimmungen nicht nur deklarativen Charakter behalten. In der Sowjetunion werden heute viele Tausend Menschen wegen ihrer Überzeugungen strafrechtlich und außergerichtlich verfolgt – wegen ihres religiösen Glaubens und des Wunsches, ihre Kinder im religiösen Geist zu erziehen; wegen des Lesens und Verbreitens (…) von Literatur, die den Behörden unerwünscht ist, (…) und wegen Versuchen, das Land zu verlassen. Besonders schwer wiegt aus moralischer Sicht die Verfolgung jener, die sich für andere Opfer von Ungerechtigkeit einsetzen, die nach Öffentlichkeit streben, insbesondere durch das Verbreiten von Informationen über Gerichtsverfahren und die Verfolgung von Menschen mit abweichenden Meinungen sowie über Haftbedingungen. Der Gedanke ist unerträglich, dass gerade in diesem Moment, da wir uns zu einer feierlichen Zeremonie in diesem Saal versammelt haben, Hunderte und Tausende von Gewissensgefangenen schwerer, jahrelanger Haft ausgesetzt sind, an Hunger leiden (…). Sie zittern vor Kälte, Feuchtigkeit und Erschöpfung in dunklen Zellen und sind gezwungen, einen unaufhörlichen Kampf um ihre Menschenwürde zu führen (…).“
Sacharows Anregung wurde von seinen Mitstreitern in der Menschenrechtsbewegung aufgegriffen, allen voran vom Physiker und Menschenrechtler Juri Orlow. Er besprach sie mit mehreren Moskauer Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten und entwickelte ein Format, um sie praktisch umzusetzen. So entstand die „Öffentliche Gruppe zur Förderung der Beschlüsse von Helsinki in der UdSSR“, besser bekannt als Moskauer Helsinki-Gruppe, deren Gründung am 12. Mai 1976 auf einer Pressekonferenz in der Moskauer Wohnung von Sacharow bekannt gegeben wurde. Die Moskauer Helsinki-Gruppe verband auf äußerst effiziente und professionelle Weise eine Vielzahl von Aufgaben, die zuvor von verschiedenen Menschenrechtsinitiativen separat erfüllt worden waren: die Sammlung und Veröffentlichung von Informationen über politische Verfolgung und Protestaktionen in der Sowjetunion, die Erstellung analytischer Berichte sowie die Unterstützung politischer Gefangener.
Schon kurz nach der Unterzeichnung der Schlussakte entstanden auch in anderen osteuropäischen Ländern Helsinki-Gruppen, unter anderem in der Ukraine, in Litauen und in Georgien. Sie dokumentierten Menschenrechtsverletzungen und übermittelten Informationen in den Westen, wobei sie sich auf die Helsinki-Bestimmungen stützten, die ihnen politische und internationale Legitimität verliehen. Rund um die Moskauer Gruppe bildeten sich zudem spezialisierte Gruppen, wie das „Christliche Komitee zum Schutz der Rechte der Gläubigen“, die „Arbeitskommission zur Untersuchung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken“ sowie die „Initiativgruppe zum Schutz der Rechte von Behinderten“.
Durch diese Aktivitäten wurde der Kampf für Menschenrechte in der Sowjetunion zu einem wichtigen Bestandteil internationaler Politik. Zudem entstanden auch außerhalb der Sowjetunion derartige Gruppen, etwa in Polen das „Komitee zum Schutz der Arbeiter“ und in der Tschechoslowakei die Bewegung „Charta 77“. Dank ihres Mutes und ihrer Beharrlichkeit bildeten sich erste Risse im Eisernen Vorhang, durch die die gesammelten Informationen über die Verfolgung von Dissidenten und die begangenen Menschenrechtsverletzungen an eine internationale Öffentlichkeit dringen konnten. In der Sowjetunion selbst führte der Aufschwung der Menschenrechtsbewegung zur Entstehung vielfältiger kultureller, religiöser und sozialer Initiativen: Es entstanden mehrere illegale religiös-philosophische und literarische Zeitschriften, die im Samisdat, also im Selbstverlag im Untergrund, verbreitet wurden.
Die Reaktion des KGB auf die Belebung der Menschenrechts- und Protestbewegung war brutal. Die Repressionen begannen bei den Helsinki-Gruppen. Am 20. Januar 1977 übermittelte der KGB-Vorsitzende Juri Andropow dem Zentralkomitee der KPdSU eine ausführliche Denkschrift unter dem Titel „Über Maßnahmen zur Unterbindung der verbrecherischen Aktivitäten von Orlow, Ginsburg, Rudenko und Venclova“.
Die schwierigste Zeit begann Anfang der 1980er Jahre, nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, der Verbannung von Sacharow nach Gorki (heute Nischni Nowgorod) und dem scheinbaren Zusammenbruch der internationalen Entspannungspolitik. Doch es zeigte sich: Am dunkelsten ist es stets kurz vor der Morgendämmerung.
Hoffnung auf Freiheit – und Abschied von Helsinki
Die Hoffnung auf Freiheit lebte wieder auf, als Michail Gorbatschow 1985 in der Sowjetunion die Führung übernahm und seine Glasnost-Politik der Offenheit und Transparenz einleitete. Sacharow wurde aus der Verbannung zurückgeholt und forderte die Freilassung weiterer politischer Gefangener. 1989, auf dem Höhepunkt der Perestroika, nahm die Moskauer Helsinki-Gruppe ihre Tätigkeit wieder auf – wiederbelebt von aus Lagern, Exil und Emigration zurückgekehrten Dissidenten. An ihrer Spitze stand Ljudmila Alexejewa, eine der Gründerinnen der Gruppe, die ebenfalls ins Exil gedrängt worden war. Einige von ihnen, allen voran Sacharow, beteiligten sich zudem an der Gründung von Memorial, einer weiteren unabhängigen Organisation, deren Ziel es war, den Opfern von Massenunterdrückung und Menschenrechtsverletzungen durch Aufklärung über die Verbrechen historische Gerechtigkeit zukommen zu lassen.
So entstand das Gefühl, dass der wahre Geist des Helsinki-Abkommens endlich zur Geltung kommen und Europa tatsächlich zu einem „gemeinsamen Haus“ (Gorbatschow) werden würde. Die Vereinbarungen von Helsinki wurden nun rückblickend als frühe Vorboten des Zerfalls der Sowjetunion gesehen. Es schien, als hätte Russland endlich den Weg zur Verwirklichung des Dreiklangs aus Frieden, Fortschritt und Menschenrechten eingeschlagen, von dem auch Sacharow in seiner Nobelpreisrede gesprochen hatte. Doch so schwer es heute auch zu begreifen ist: Die historische Chance, die Russland damals bekam, wurde vertan. In den 1990er Jahren, die für viele Menschen in Russland eine Zeit schwerer Wirtschaftskrisen, des Chaos, der Arbeitslosigkeit, der kriminellen Auseinandersetzungen und der Korruption wurde, rückte die Idee von Demokratie und Freiheit wieder in den Hintergrund. Stattdessen empfanden viele den Zusammenbruch der Sowjetunion als Folge einer Verschwörung feindlicher Kräfte und das Ende des Kalten Krieges als eine Niederlage vor dem Westen.
Die Welle dieser Gefühle wurde verstärkt durch die Tschetschenienkriege ab Mitte der 1990er Jahre, die mit zunehmender Dauer immer grausamer wurden. In dieser Gemengelage erwarteten viele Russen eine starke Hand, die die Ordnung wiederherstellen sollte, und wählten Putin im März 2000 zu ihrem Präsidenten. Illusionen über Putin waren allerdings auch im Westen noch weit verbreitet. Nach und nach wurde jedoch klar, dass die Idee einer freiheitlichen Demokratie in Russland durch einen neuen Nationalismus verdrängt wurde. Die antiwestlichen Gefühle verstärkten sich, das eigene Land wurde erneut zur belagerten Festung erklärt, und alles nationale Unglück wurde als Ergebnis der Intrigen und Machenschaften des „kollektiven Westens“ dargestellt.
Die Signale aus dem Kreml in Richtung Ausland wurden immer aggressiver. Die baltischen Staaten wurden zu Erben des Nazismus erklärt, und nach der Orangen Revolution auf dem Kyjiwer Maidan von 2004 wurde auch die Ukraine beschuldigt, Nazismus und antirussische Stimmung zu schüren. Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 enthielt bereits direkte Drohungen gegen den Westen und die NATO.
Innenpolitisch setzten die russischen Behörden zunehmend auf die Anwendung von Gewalt und die brutale Unterdrückung von Protesten. 2012 wurde nach Massendemonstrationen gegen Wahlbetrug ein Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet, um gegen die Zivilgesellschaft vorzugehen. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden nach der Annexion der Krim 2014 zunächst Memorial und dann die Moskauer Helsinki-Gruppe zu ausländischen Agenten erklärt. Im Dezember 2021, kurz vor dem Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine, löste der Oberste Gerichtshof Memorial schließlich auf, nach Kriegsbeginn auch die Moskauer Helsinki-Gruppe.
Durch die direkte militärische Aggression gegen die Ukraine hat Russland zahlreiche internationale Verträge verletzt, was den Ausschluss Russlands aus dem Europarat und seinen Organisationen und Institutionen zur Folge hatte. Dies bedeutete auch das Ende der Beteiligung Russlands am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und am wichtigsten europäischen internationalen Vertrag, der Konvention zum Schutz der Menschenrechte. Im Krieg gegen die Ukraine werden massive Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen, wie es sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa nicht mehr gegeben hat. Im eigenen Land greift das Putin-Regime zu brutalen Repressionsmethoden: Schon beim geringsten Protest werden Menschen verhaftet, und für ein paar Antikriegssprüche oder kritische Internetbeiträge können drakonische Strafen verhängt werden.
Die Ziele, die das Putin-Regime heute verfolgt, sind jedoch viel weitreichender und gefährlicher als die Eroberung der Ukraine oder die Kontrolle der eigenen Zivilgesellschaft. Die Bedrohung geht weit darüber hinaus: Putin deklariert den Krieg gegen die Ukraine als Krieg gegen den „kollektiven Westen“, gegen Europa und gegen das, was in der Kremlpropaganda höhnisch als „europäische Werte“ bezeichnet wird – und das sind Demokratie und Menschenrechte. Putins Regime ist gegen alle humanistischen Werte gerichtet.
Es ist heute kaum möglich, sich Putins Russland als zukünftigen Teil des demokratischen Europas vorzustellen. Der humanitäre Geist der Schlussakte von Helsinki ist völlig verbannt. Aber ich bin überzeugt, dass die Wiederbelebung Russlands, wenn sie denn jemals möglich sein könnte, mit der Wiederbelebung dieses Geistes beginnen wird.