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Die Ostpolitik 1969 bis 1973 | bpb.de

Die Ostpolitik 1969 bis 1973 Vorbedingung für KSZE und Deutsche Einheit

Bernd Rother

/ 17 Minuten zu lesen

Die Anerkennung des territorialen Status quo durch die Ostpolitik ermöglichte die KSZE. Die Verträge mit Polen und der Sowjetunion hielten die Tür zur Deutschen Einheit offen. Für die gegenwärtigen Herausforderungen bietet die Ostpolitik jedoch kaum ein Vorbild.

Mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 und noch mehr seit dem Überfall auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 ist die Ostpolitik erneut zu einem strittigen Thema der deutschen Politik geworden. Ähnlich heftig wie Anfang der 1970er Jahre wogt das Für und Wider hin und her. Die eine Seite sieht in ihr ein Beispiel, wie man auch heute noch Konflikte lösen könnte, und plädiert dafür, Russland diplomatische Angebote zur Beendigung des Krieges zu machen. Die andere Seite verweist darauf, dass vor 50 Jahren die Entspannung zwischen Ost und West auf dem Fundament hoher Verteidigungsausgaben ruhte – in der Bundesrepublik betrugen sie damals rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

„Sicherheit“ und „Zusammenarbeit“ waren nicht nur die zentralen Begriffe im Namen der blockübergreifenden Konferenzen in Helsinki ab 1973 (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE). Sie kennzeichnen auch wichtige Bestandteile der damaligen Ostpolitik von SPD und FDP. Sicherheit bedeutete zuallererst, die Abschreckungsfähigkeit der NATO zu gewährleisten. Sicherheit verlangte aber auch, den Frieden in Europa, der auf den eingefrorenen Blockgrenzen des Kalten Krieges beruhte, auf eine stabile Grundlage zu stellen, ihn krisenfest zu machen. Dem sollte eine künftige Zusammenarbeit dienen. In der Sprache der Ostpolitik hieß dies, eine „Annäherung“ zwischen Ost und West zu erreichen, um die Blockkonfrontation abzuschwächen.

Die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition ab Oktober 1969 bedeutete einen tiefen Einschnitt: Erstmals erkannte eine Bundesregierung den territorialen Status quo in Europa mit zwei deutschen Staaten an. Der Sicherung dieses Status diente ein umfangreiches Vertragswerk, dessen Abschluss die Schlusserklärung der KSZE bildete, die am 1. August 1975 in Helsinki unterzeichnet wurde.

Der Weg zur Ostpolitik

Die Geschichte der Ostpolitik begann nicht 1969, als Willy Brandt (SPD) zum Bundeskanzler gewählt wurde. Sie hatte eine Vorgeschichte, die schon vor der Abriegelung West-Berlins durch die DDR einsetzte. Dass erst der Mauerbau am 13. August 1961 das Nachdenken über eine neue Politik gegenüber dem Osten ausgelöst habe – diesen Mythos hat Brandt selbst mitgeschaffen, wenn er später davon sprach, es sei der Tag gewesen, an dem der Vorhang aufging und eine leere Bühne zeigte.

Tatsächlich begann das Nachdenken von Brandt und seinem engsten Mitarbeiter in diesen Fragen, Egon Bahr, über eine Alternative zum Kurs von CDU und CSU bereits früher. Ab Mitte der 1950er Jahre gelangten die beiden Sozialdemokraten zu der Einschätzung, dass die bisherige Politik des Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) in eine Sackgasse geführt habe; die Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 war nicht näher gerückt, stattdessen hatte sich die Teilung Deutschlands weiter vertieft. Ergänzend zu Adenauers Westpolitik sei nun auch eine Ostpolitik erforderlich.

Die „Neue Ostpolitik“, wie sie in Abgrenzung von früheren Politiken gegenüber der Sowjetunion oder dem Zarenreich häufig bezeichnet wurde, war auch die Antwort auf ein Angebot, das Nikita Chruschtschow, von 1953 bis 1964 Chef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), formuliert hatte. Er sprach in Anlehnung an Lenin von einer „friedlichen Koexistenz“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Das Angebot der Sowjetunion für eine friedliche Koexistenz war aber an eine Bedingung geknüpft: Bonn musste den territorialen Status quo in Europa anerkennen. Das war bisher nicht der Fall gewesen, die Bundesrepublik war im Gegenteil der einzige Staat in Europa, der die Grenzen revidieren wollte. Die Wiedergewinnung der „Ostgebiete“ und die Wiedervereinigung Deutschlands wolle man, so Bonn, auf friedlichem Wege erreichen. In Osteuropa und der Sowjetunion hegte man jedoch Zweifel an der Friedfertigkeit dieser Absichten, und dies nicht nur unter den politischen Eliten.

Bereits 1955 sagte Brandt „ja zur Koexistenz, wenn sie Entspannung bedeutet“. Sie dürfe aber nicht gleichgesetzt werden mit „geistiger Neutralität“. Die ideologische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus sollte fortgesetzt werden. Zugleich zeigte er sich bereit, die polnische Westgrenze anzuerkennen: „Realpolitisch“ gehe es „um die Wiedervereinigung der deutschen Menschen, wo sie heute leben“. Dieser Satz war fortan eine der Standardformulierungen von Brandt. Anders und klarer gesagt hieß dies: Unter dem Stichwort „Wiedervereinigung“ ging es Brandt seither nicht um die Restauration der Grenzen von 1937, sondern um den Zusammenschluss von Bundesrepublik und DDR.

Wandel durch Annäherung?

Die rhetorische Formel, die am häufigsten mit der Brandt’schen Ostpolitik assoziiert wird, ist jedoch nicht „friedliche Koexistenz“, sondern „Wandel durch Annäherung“. Diese wurde 1963 von Egon Bahr in einer Furore machenden Rede in Tutzing geprägt. Was er dort vortrug, war zwar mit seinem Chef abgesprochen, aber Brandt selbst verwendete die Formel nie, sah dieser doch die Gefahr, dass „Wandel durch Annäherung“ zu leicht als Anbiederung des Westens an den Osten missverstanden werden könnte. Tatsächlich sollte, so auch Bahrs Vorstellung, der Wandel nur im Osten erfolgen. Beide gingen davon aus, dass die Erfordernisse einer modernen Industriegesellschaft auch im Ostblock allmählich zu einer Relativierung kommunistischer Dogmen und zu mehr Freiheit in Politik und Ökonomie führen würden. Diesen Wandel sollte der Westen befördern, indem er den Druck von außen auf die kommunistischen Regime lockerte.

Der Wandel im Osten würde sehr langsam voranschreiten und müsse von innen kommen. Dies war die Lehre von Brandt und Bahr aus den Ereignissen 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn – die Sowjetunion hatte die dortigen Volksaufstände mit militärischer Gewalt niedergeschlagen. Den Sturz des Kommunismus von außen hielten sie daher für ausgeschlossen. 1977 bekräftigte Brandt dies: „Die Politik der Entspannung ist (…) nicht entwickelt (…) worden als eine Strategie zur Abschaffung kommunistischer Regime.“ Das war nicht Ausdruck einer Naivität gegenüber Moskau, sondern einer realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse.

Die Strategie der Entspannung durch kleine Schritte fand bereits während Brandts Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin Anwendung: Durch das Passierscheinabkommen vom Dezember 1963 konnten über eine Million Menschen aus West-Berlin Freunde und Verwandte im Ostteil der Stadt besuchen. Der Senat unter Führung von Brandt hatte rechtliche Bedenken beiseitegeschoben und direkt mit Ost-Berlin verhandelt, um diesen kleinen Schritt zur Verbesserung des Lebens der Menschen zu ermöglichen.

Große Koalition

Ende 1966 trat die SPD mit der CDU/CSU in die erste „Große Koalition“ der Bundesrepublik ein. Brandt wurde Außenminister und Vizekanzler, Bahr Chef des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes. Dort schuf er die gedanklichen Grundlagen der künftigen Deutschland- und Ostpolitik, wenn die SPD dereinst die Regierung anführen würde: „Ohne die drei Jahre der Großen Koalition wäre der Grundriß für die Ostpolitik nicht entworfen worden; er erlaubte den unmittelbaren Start zur operativen Umsetzung im Kanzleramt (…).“ Der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko habe später „nicht einen einzigen Punkt aufwerfen [können], den wir nicht vorher durchdacht hatten“.

Der Regierungsalltag gestaltete sich für die SPD weniger erfreulich. Immer wieder stießen ihre Initiativen für eine deutschland- und ostpolitische Erneuerung auf christdemokratische Vetos. In zwei entscheidenden Fragen war die Union nicht bereit, voranzugehen: bei der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen und bei der Unterzeichnung des von den USA und der Sowjetunion ausgehandelten Atomwaffensperrvertrags. Die Union fürchtete, das Abkommen könne auch die friedliche Nutzung der Kernenergie durch die Bundesrepublik einschränken. Für Moskau war die westdeutsche Unterschrift aber ein Muss, um Bonn trauen zu können. Vergeblich warb Brandt bei Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) für diesen Schritt. Dieser war dazu nur bereit, wenn der Osten ihn durch Gegenleistungen honorieren würde.

Ohne die Anerkennung der Grenzen, so Brandt, drohe die Isolierung im westlichen Lager. Auf dem Parteitag der SPD in Nürnberg im März 1968 erklärte er, er sei zur „Anerkennung beziehungsweise Respektierung der Oder-Neiße-Linie“ bereit. Mit dieser mehrdeutigen Formulierung sollte getestet werden, wie bundesdeutsche Politik, Medien und Bevölkerung, aber auch die Ostblockstaaten auf mögliche Kursänderungen der SPD reagieren würden. Zugleich war sie Ausdruck einer Suchbewegung von Brandt, Bahr und anderen Sozialdemokraten, deren Alternative zur bisherigen Politik noch nicht in allen Einzelheiten feststand. Der Testballon erbrachte jedoch keine Klärung. Der Union ging Brandts Satz zu weit, den osteuropäischen Regierungen reichte er nicht aus.

Der Kurs der Christdemokraten entfremdete die Bundesrepublik zunehmend von ihren Alliierten und diente im Osten dazu, das Gespenst einer militärischen Aggression aufrechtzuerhalten, mit dem die Sowjetunion als vermeintlich einzige Schutzmacht für Polen und die Tschechoslowakei bedingungslose Disziplin einforderte. Nach dem Wahlsieg von SPD und FDP im September 1969 stand die neue Regierung somit vor der Aufgabe, unhaltbar gewordene Positionen zu räumen.

Ostpolitischer Neubeginn

Die internationalen Entwicklungen begünstigten den Neustart. Die USA waren schon seit der Präsidentschaft von John F. Kennedy ab 1961 an einer Détente mit der Sowjetunion interessiert, um die Gefahr eines Atomkriegs zu bannen. Die Kubakrise im Oktober 1962 hatte drastisch vor Augen geführt, wie groß diese Gefahr war. Ende der 1960er Jahre verstärkte sich das Interesse der Vereinigten Staaten an besseren Beziehungen zur Sowjetunion noch einmal, denn der Krieg in Vietnam führte zu enormen Belastungen und schwächte die Hegemonie der USA. Die Sowjetunion hatte derweil ihren Block durch die Intervention in der Tschechoslowakei im August 1968 wieder fest im Griff. Aus gesicherter Position war mehr an Verhandlungen möglich als während einer Phase interner Herausforderungen.

Ob Moskau aus Angst vor China – Anfang März 1969 war es zu einem Grenzgefecht gekommen – zu größeren Entspannungsschritten als bisher bereit war, muss offenbleiben. In den sowjetischen Akten gibt es keinen Beleg dafür. Es ist aber gesichert, dass der Kreml ein Interesse am Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen hatte, um die eigene malade Ökonomie zu modernisieren. Auch deshalb suchte KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew, der 1964 Chruschtschow gestürzt hatte, bessere Beziehungen zum Westen.

In seiner ersten Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 brach Willy Brandt als neuer Bundeskanzler mit einem Tabu und sprach von zwei Staaten in Deutschland, die aber füreinander kein Ausland sein könnten. Zugleich erklärte er seine Bereitschaft zu Verhandlungen über einen Gewaltverzicht mit der Sowjetunion und Polen. Die erste Hürde, die es für die neue Regierung zu überspringen galt, war im November 1969 der Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag. Der nächste Schritt waren Verhandlungen mit der Sowjetunion und Polen. In realistischer Einschätzung der Machtverhältnisse entschied sich die sozialliberale Regierung, zuerst in Moskau vorstellig zu werden. Warschau gegenüber signalisierte sie, dass dies keine erneute deutsch-sowjetische Verständigung über die Köpfe der Polen hinweg einläuten werde. In beiden Fällen ging es insbesondere um den territorialen Status quo in Europa.

Verträge von Moskau und Warschau

Die Gespräche mit der Sowjetunion fanden im Sommer 1970 einen erfolgreichen Abschluss, die mit Polen im November desselben Jahres. Im Moskauer Vertrag vereinbarten beide Seiten, auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander zu verzichten, die bestehenden Grenzen in Europa zu achten und die „Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und [die] Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ „heute und künftig“ als „unverletzlich“ zu betrachten. Die Sowjetunion hatte verlangt, dass die Grenzen in den Verträgen als unveränderbar definiert werden sollten, die westdeutsche Seite konnte aber durchsetzen, dass sie als unverletzlich beschrieben wurden. „Unveränderbar“ hätte eine Vereinigung von Bundesrepublik und DDR unmöglich gemacht, „unverletzlich“ erlaubte eine Änderung von Grenzen im Konsens der Beteiligten, wie dies 1990 geschah. Die Tür zur Deutschen Einheit blieb damit auch nach Vertragsschluss offen.

Im Vertrag mit Polen rangierte die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze noch vor dem Gewaltverzicht. In seiner Ansprache aus Warschau nach Unterzeichnung des Vertrages ging Brandt unter anderem auf die Vertreibung von Deutschen aus den Ostgebieten ein: „Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht anerkennen oder Gewalttaten rechtfertigen. Er bedeutet nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren.“ Die Verständigung mit der polnischen Regierung sei „keine Politik des Verzichts, sondern eine Politik der Vernunft“. Bereits in seiner Fernsehrede von Moskau aus hatte Brandt nach Unterzeichnung des Vertrages mit der Sowjetunion betont: „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.“

Mit ihrer Unterzeichnung traten die Verträge von Moskau und Warschau jedoch noch nicht in Kraft. Dazu bedurfte es der Zustimmung des Bundestages. Die Ratifizierung sollte im Mai 1972 erfolgen, doch verfügte die Regierung nun nicht mehr über eine Mehrheit im Parlament. Zu viele SPD- und FDP-Abgeordnete waren zur Opposition übergelaufen, teils aus Protest gegen die Ostpolitik, teils wegen der Gesellschaftsreformen. Die sozialliberale Koalition nahm deshalb Verhandlungen mit CDU und CSU auf. Sie führten zu einer gemeinsamen Entschließung, deren Adressaten die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges waren. Der vereinbarte Text bekräftigte die Vorläufigkeit der Grenzen, die erst in einem Friedensvertrag endgültig fixiert werden könnten. Er wurde von 491 Abgeordneten gebilligt, fünf enthielten sich, Gegenstimmen gab es keine. Obwohl die Entschließung die Forderungen der Opposition erfüllte und die westlichen Verbündeten die Ratifizierung dezidiert wünschten, konnten sich CDU und CSU bei der entscheidenden Abstimmung am 17. Mai 1972 nicht dazu durchringen, dem Moskauer und dem Warschauer Vertrag zuzustimmen. 248 Abgeordnete, genau die Hälfte der Mandate, befürworteten beide Verträge. Der allergrößte Teil der Unionsabgeordneten enthielt sich der Stimme, eine kleine Gruppe lehnte beide ab – was die Ratifizierung freilich nicht verhindern konnte.

Die Vorbereitung der KSZE gehörte ebenfalls zu den selbstgestellten Aufgaben der sozialliberalen Regierung – während die Opposition aus CDU und CSU die Konferenz rundweg ablehnte. Bei einem informellen Treffen mit KPdSU-Generalsekretär Breschnew auf der Krim im September 1971 erreichte Brandt, dass Moskau auch der Teilnahme von Kanada und den USA zustimmte; eine Spaltung des westlichen Lagers war damit abgewendet. Bei der geplanten Zusammenkunft in Helsinki sollte es um die Sicherheit in Europa gehen, die für den Westen nur gemeinsam mit den Nordamerikanern gewährleistet werden konnte.

Berlin-Abkommen und Verträge mit der DDR

Zu den Zielen der Deutschland- und Ostpolitik der sozialliberalen Regierung gehörte, die Freiheit und Überlebensfähigkeit West-Berlins dauerhaft zu sichern. Am rechtlichen Status der Gesamtstadt sollte nicht gerüttelt werden. Ihm zufolge übten die Alliierten die Kontrolle über Berlin aus, nicht die Bundesregierung und auch nicht die DDR. Im März 1970 begannen die Gespräche der Vier Mächte. Strittig war bereits, worüber man eigentlich verhandelte: über ganz Berlin, so die Position Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, oder über West-Berlin, was die Sowjetunion forderte. Im allgemeinen Teil des Textes sprach man daher vom „betreffenden Gebiet“, ohne nähere Definition.

In der Vereinbarung, die im August 1971 erzielt wurde, bekräftigten die Westalliierten, dass ihre Sektoren keinen konstitutiven Teil der Bundesrepublik bildeten, dass aber die „Bindungen“ zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik aufrechterhalten und entwickelt werden sollten. Im Teil II („Bestimmungen, die die Westsektoren Berlins betreffen“) erkannte die Sowjetunion das Recht der Bundesrepublik an, West-Berlin international zu vertreten und dessen Bürger konsularisch zu betreuen. Im weiteren Text ging es um die Verkehrsverbindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin, die ohne Behinderungen vonstattengehen sollten. Dies zu gewährleisten, wurde den „zuständigen deutschen Behörden“ auferlegt. Erstmals seit 1952 sollten West-Berliner wieder die ganze DDR und nicht nur Ost-Berlin besuchen dürfen.

Im November 1972 erzielte die Bundesregierung auch eine Einigung mit der Führung der DDR. Beide Seiten erkannten sich nun als Staaten an, allerdings nicht völkerrechtlich. Die DDR war für die Bundesrepublik auch in Zukunft kein Ausland, die gegenseitigen Repräsentanzen hießen folgerichtig nicht „Botschaften“, sondern „Ständige Vertretungen“. Die Abkommen mit der DDR erleichterten den Reiseverkehr, aber nur in einer Richtung, nämlich von West nach Ost. Der sogenannte Grundlagenvertrag vom September 1973 machte dann auch den Weg frei für den Beitritt beider Staaten zu den Vereinten Nationen.

Bundestagswahl 1972: Plebiszit für die Ostpolitik

Durch die Wechsel mehrerer Bundestagsabgeordneter der sozialliberalen Koalition zur Unionsfraktion schien es im Frühjahr 1972 so, als könnte die Opposition den Kanzler stürzen. Zur allgemeinen Überraschung aber scheiterte am 27. April 1972 das Konstruktive Misstrauensvotum in geheimer Abstimmung. Wie sich später herausstellte, hatte die DDR zwei Abgeordnete der Union bestochen, um die Ostpolitik zu retten. Am Tag darauf lehnte der Bundestag in offenem Votum den Haushaltsentwurf der Regierung ab. Weder die Koalition noch die Opposition verfügten über eine Mehrheit. Angesichts des Patts war es unausweichlich, den Bundestag neu zu wählen. Der Urnengang am 19. November 1972 geriet zu einem Plebiszit über den eingeschlagenen Reformkurs und die Deutschland- und Ostpolitik der sozialliberalen Regierung. Die SPD überflügelte erstmals die Unionsparteien, und auch die FDP gewann kräftig hinzu.

Es gab also keinen Grund für die erneuerte sozialliberale Koalition, den Kurs zu ändern. In seiner Regierungserklärung im Januar 1973 bekannte sich Brandt zur Einheit der deutschen Nation, aber vor der Einheit der Nation rangiere die Wahrung des Friedens. Im Verhältnis zur DDR meinte der alte und neue Kanzler, Verbesserungen erkennen zu können. Die erweiterten Besuchsmöglichkeiten förderten den Zusammenhalt des deutschen Volkes. An zusätzlichen Verbesserungen für die Menschen werde man arbeiten, auch an einer vertieften Zusammenarbeit mit Osteuropa auf den Gebieten der Wirtschaft und der Kultur sowie in Wissenschaft und Technik. Die NATO und die Anwesenheit von US-Streitkräften blieben Grundlage der Sicherheit der Bundesrepublik, die Stärke der Bundeswehr gelte es zu erhalten.

Die Opposition hielt an der Ablehnung der Brandt’schen Ostpolitik fest. Selbst dem Beitritt zu den Vereinten Nationen wollte die Mehrheit der Unionsfraktion nicht zustimmen, weshalb im Mai 1973 Rainer Barzel als ihr Vorsitzender zurücktrat. CDU und CSU sprachen sich auch weiterhin gegen die geplante KSZE aus, konnten den Beginn in Helsinki aber nicht mehr verhindern. Zu weit waren die Entwicklungen dafür fortgeschritten – durch die Ostpolitik ab 1969 waren wichtige Streitpunkte zwischen Ost und West aus dem Weg geräumt und interne Differenzen auf westlicher Seite überwunden worden. Kurz gesagt: ohne Ostpolitik keine KSZE.

Beginn einer Abhängigkeit?

Begleitend zur Entspannung auf der politischen Ebene wurden die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ost und West vertieft. Die Sowjetunion bot ihre Rohstoffe, zum Beispiel Erdgas, im Tausch gegen moderne Maschinen und ganze Fabriken an. Verlängerte dies die Lebensdauer der kommunistischen Diktaturen? Kurzfristig wirkten die Geschäfte wie ein Pflaster auf einer Wunde. Aber die zugrundeliegenden Dysfunktionalitäten des Systems wurden nicht beseitigt. Im Gegenteil: „Der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft begann in der Phase ihrer Prosperität Anfang der 1970er-Jahre und der unverhofft sprudelnden Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft, die wesentlich durch die Verträge mit Bonn möglich geworden waren.“ Reformen der Planwirtschaft unterblieben, die Devisenzuflüsse aus den Krediten verbargen die strukturellen Probleme des Wirtschaftssystems.

Die westdeutschen Gasimporte gerieten zu Zeiten der Ostpolitik noch nicht zu einer Gefahr für die Sicherheit. 1973 kamen lediglich fünf Prozent der deutschen Gasimporte aus der Sowjetunion. Auch später änderte sich daran nichts Grundsätzliches. 1982 lag der Anteil sowjetischen Erdgases am westdeutschen Verbrauch bei gerade einmal 20 Prozent. Zudem hatte die Bundesregierung im Mai 1980 eine Obergrenze von 30 Prozent für Gas aus der Sowjetunion beschlossen. Erzählungen, dass sich die Bundesrepublik mit der Ostpolitik in eine Abhängigkeit von russischem Gas begeben hätte, sind also nicht zutreffend: Zu Zeiten der Ostpolitik begann zwar der Bezug von sowjetischem Gas, eine Abhängigkeit bedeutete das damals aber noch nicht.

Ostpolitik und Einheit der Nation

Schon bald nach dem Rücktritt von Brandt im Mai 1974 schloss sich das window of opportunity wieder, in dem die Ostpolitik möglich gewesen war. Hätte die Union 1972 obsiegt, wäre diese Chance womöglich ungenutzt verstrichen. Ende der 1970er Jahre verschärfte sich der Kalte Krieg wieder.

Nach dem Verlust der Regierungsmacht im Oktober 1982 fürchtete die SPD um die Zukunft der Ostpolitik. Deshalb nahm sie intensive Beziehungen zu den kommunistischen Staatsparteien auf, obwohl bald klar wurde, dass der neue Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) keine wichtigen Veränderungen vornahm. In einer „Nebenaußenpolitik“ erarbeiteten Sozialdemokraten aus der Opposition heraus gemeinsam mit Ostblockvertretern Entwürfe für weitere Entspannungsabkommen. Nicht wenige kritisierten dies als übermäßige Nähe zum Kommunismus, zumal die Kontakte der SPD-Führung zu den Dissidenten in Osteuropa spärlich blieben. Brandt sprach in dieser Zeit von der „Lebenslüge Wiedervereinigung“. Dass er damit nur die Illusion meinte, es gebe ein Zurück zu den Vorkriegsgrenzen, zeigte sich 1989/90. Prononcierter als alle anderen westdeutschen Sozialdemokraten trat er für die Einheit Deutschlands ein, die am 3. Oktober 1990 erreicht wurde.

Aber welchen Beitrag hatte die Ostpolitik tatsächlich zur deutschen Einheit geleistet? Sie sollte, so beschrieb es Brandt rückblickend, den Zusammenhalt der Nation wahren, die Tür zur Einheit Deutschlands offenhalten und schließlich auch „den dritten Weltkrieg verhindern“. Um diese Ziele zu erreichen, war man bereit, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen, sprich: die bestehenden Grenzen in Europa anzuerkennen.

Was den Zusammenhalt der Nation angeht, gelang es in drei Schritten, die Grenze durchlässiger zu gestalten. Der erste war das Passierscheinabkommen von 1963. Der zweite Schritt folgte 1972/73 durch die Verträge mit der DDR, der dritte mit erheblich erweiterten Besuchsmöglichkeiten auch von Ost nach West ab Mitte der 1980er Jahre. Die Schritte eins und zwei waren Resultat der Brandt’schen Ostpolitik, Schritt drei geht auf westdeutscher Seite auf das Konto von Kohl, der von den vorherigen Schritten erheblich profitierte. Durch die vermehrten Kontakte über die Blockgrenzen hinweg erfuhren immer mehr Menschen im Osten, dass der Westen in puncto Freiheit und Wohlstand weit vorne lag. Die Legitimität der SED-Herrschaft wurde dadurch geschwächt.

Die Chance auf die Einheit der Nation konnte gewahrt werden, indem in allen relevanten Verträgen die Unverletzlichkeit der Grenzen garantiert wurde, was die Angst der Nachbarn vor Deutschland deutlich reduzierte. Polnische Oppositionelle erklärten bereits Mitte der 1980er Jahre, dass es nur natürlich wäre, wenn beide Teile Deutschlands wieder zusammenkämen. Auch dass die Sowjetunion 1990 ihre Zustimmung zur Vereinigung gab, lag ganz wesentlich daran, dass die Bundesrepublik in Moskau dank der Ostpolitik nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die Verhinderung eines dritten Weltkrieges gelang ebenfalls. Doch hatte es dazu der Ostpolitik bedurft? Vermutlich eher nicht: Die Angst vor der Selbstauslöschung der Menschheit beherrschte auch ohne sie die Entscheider in Ost und West.

Für die innere Liberalisierung in den kommunistischen Staaten schuf die Ostpolitik ein günstiges Umfeld – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Grundlegende Änderungen im Innern konnten nicht von außen bewirkt werden; dies war ein Kernelement der Ostpolitik. Dass mit Michail Gorbatschow an der Staats- und Parteispitze der Sowjetunion der Wandel das Zentrum erfasste, übertraf die kühnsten Hoffnungen, die Bahr und Brandt 1962/63 formuliert hatten.

Blaupause für heute?

Kann der Blick zurück auf die Ostpolitik helfen, Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen im Verhältnis zu Russland zu finden? Dies ist nur bedingt eine geschichtswissenschaftliche Frage, eher eine historisch informierter Politikanalyse.

Die Ostpolitik war nur möglich, weil die antagonistischen Kräfte zu Kompromissen bereit waren. Das fehlt heute. Manche meinen, die Lösung bestünde darin, wie in der Ostpolitik die Realitäten anzuerkennen. Gegenwärtig sind die beiden wichtigsten Realitäten, dass Russland der Aggressor ist und dass die Vereinigten Staaten dies leugnen. Anerkennung der Realitäten im Sinne der Ostpolitik bedeutet nicht, dass über die Köpfe der Ukrainer hinweg entschieden wird. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Im Sinne von Brandts Ostpolitik wäre es, Russland aufzufordern, die Realitäten von 1991 anzuerkennen und die damals festgelegten Grenzen der Ukraine zu respektieren.

Die Eckpunkte von Brandts Außenpolitik – die kleinen Schritte, die Identifizierung partieller Interessenkongruenz bei Fortdauer des Antagonismus im Großen, die Berücksichtigung der Interessen des Gegenübers und der Respekt vor den mittelgroßen und den kleinen Staaten – sind in gewisser Weise überzeitlich und sollten auch heute zum Instrumentenkasten diplomatischer Akteure und Entscheidungsträger gehören. Aber die internationale Ordnung, die zwischen 1947 und 1949 entstand und den Rahmen für die Ostpolitik bildete, besteht heute nicht mehr. Russland setzt auf militärische Expansion, und die Vereinigten Staaten haben unter Präsident Donald Trump die westliche Wertegemeinschaft aufgekündigt. Eine neue Epoche hat begonnen.

ist promovierter Historiker und war bis 2020 Mitarbeiter der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Er gehört dem Geschichtsforum der SPD an.