Anfang September 2025 gab Katarzyna Wielga-Skolimowska, die künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, dem Deutschlandfunk ein Interview. Als Repräsentantin einer der größten nationalen Kulturförderanstalten Europas, die ein jährliches Budget von 30 bis 40 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt verwaltet, hat ihr Wort besonderes Gewicht. Der polnischen Theaterwissenschaftlerin, die nicht nur das Polnische Institut in Berlin geleitet, sondern auch ein Goethe-Institut in Saudi-Arabien aufgebaut hat, ging es im Interview neben den üblichen Kürzungsdystopien und Werbeblöcken in eigener Sache auch um die kulturelle Gestimmtheit in Deutschland. Also um die Frage, in welchem Bewusstsein sie das Land gerade nach Bedeutung suchen sieht.
Aus dem Hauptstadtstudio, „auf der einen Seite mit Blick auf das Parlament, auf der anderen mit Blick auf das Kanzleramt“, wie der Moderator ihre gemeinsame Beobachterposition mit nur halbherzig kaschiertem Zentrums-Stolz umschrieb, teilte Wielga-Skolimowska mit, für wie bedrohlich sie die Lage hält. Sich selbst zur „Kassandra“ ausrufend, warnte sie davor, dass „die Frage, wie unabhängig oder eigenständig die Kultureinrichtungen sind, auch in Deutschland kommen wird“.
Die Aufzählung der profilierten Kulturförderin klingt bedrohlich. Ist der Kulturkampf von rechts schon in vollem Gange? Nur die „schleichende Veränderung“ eben so „schleichend“, dass man ihre Fortbewegung nicht ernst genug nimmt? Die Beantwortung dieser Fragen kann man sich leicht oder etwas schwerer machen. Leicht kann man es sich machen, wenn man auf sie mit „ja“ oder „nein“ antwortet. Diejenigen, die sie bejahen, verweisen auf Fälle, in denen Kulturveranstaltungen das Geld gestrichen, Führungskräfte ausgewechselt, Auftritte prominenter Linksliberaler abgesagt oder in Landtagen martialisch klingende Anti-Diversitäts-Anträge von der AfD eingereicht werden.
Als paradigmatisches Beispiel für einen wachsenden politischen Druck von rechts auf die Kultur wird beispielsweise die Debatte um das „Osten“-Festival in Bitterfeld-Wolfen ins Feld geführt. Im Rahmen der Festival-Ausgabe 2024 stellte eine ukrainische Kunststudentin Attrappen von Molotowcocktails aus, um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu kommentieren, außerdem projizierte eine Leipziger Kunststudentin ein Kalb mit einem ins Fell rasierten Hakenkreuz auf eine Wand, um auf die „Normalisierung faschistischer/rassistischer Parolen“
Doch was heißt das genau: „erhebliche Angriffe“? Die Kuratoren rekurrieren dafür auf das Wahlprogramm der AfD in Sachsen-Anhalt. Darin heißt es: „Die vornehmste Aufgabe aller Kunst besteht darin, kulturelle Identität zu pflegen. Die deutsche Identität ist so auch das Resultat deutscher Kunst, vor allem der sich im öffentlichen Raum vollziehenden Bühnenkunst. Leider wird die Kunst unserer Tage dieser ihrer Verantwortung kaum noch gerecht – im Gegenteil. (…) Bestenfalls wird auf unseren Bühnen noch nichtssagende Unterhaltung, Abseitiges oder Internationales ohne Bezug zu unserem Land gezeigt. (…) Deshalb will die AfD mit Staats- und Steuergeld nur noch solche Kunst fördern, die ihrer eigenen deutschen Kultur grundsätzlich bejahend gegenübersteht. Wir sind (…) gewillt, auch massive Einschnitte zu vertreten. (…) Eine Agitation gegen das eigene Volk muss nicht durch den Staat, der aus diesem Volk besteht, finanziert werden.“
In ihrem Fall wahrscheinlich die Absage des Festivals. Davon kann aber keine Rede sein. Auf der Website wird jetzt schon die nächste Ausgabe im September 2026 angekündigt. Den Obstruktionsversuchen der AfD scheinen also jenseits der rabiaten Stimmungsmache bisher keine strukturellen Konsequenzen zu folgen. Im Gegenteil hat sogar eine strukturelle Weiterentwicklung stattgefunden: Seit dem Frühjahr 2025 gibt es ein Festivalbüro, das dauerhaft in Bitterfeld etabliert ist und durch ein Förderprogramm der Europäischen Union finanziert wird. Es scheint fast, als ob die von rechts rhetorisch attackierte Kultur mit einer trotzigen Institutionalisierung reagiert hätte.
Vibe Shift?
Bei der oft emotional gestellten Frage, ob wir in Deutschland gerade einen „Shift“ zu einer rechten Kulturdominanz erleben, muss man sich zunächst einmal nüchtern vor Augen führen, dass die beiden Seiten zueinander in einem Missverhältnis stehen. Anders gesagt: Drohung steht gegen Struktur. Während von rechts gedroht, eingeschüchtert und rhetorisch angegriffen wird (und das wird es!), kann die von rechts attackierte Kultur bislang nach wie vor auf Fördermittel zugreifen, ihre Programmhoheit behaupten und strukturelle Rahmen setzen. Viel hat bei der Rede vom rechten Kulturkampf also mit einer Vorstellung davon zu tun, was passieren könnte – weniger mit dem, was gerade passiert. Denn anders als etwa in den Vereinigten Staaten, Ungarn oder Italien, wo rechte Kulturpolitik tatsächlich umgesetzt wird – wobei sich diese Umsetzung bislang vornehmlich auf die Auswechslung von Führungspersönlichkeiten zu beschränken scheint –, sind hierzulande noch keine harten Fakten eines rechten Strukturwandels zu konstatieren.
Also gibt es Angriffe, aber keine Treffer? So einfach ist die Sache ebenfalls nicht. Denn auch das bloße „Nein“ auf die Frage nach einem rechten Kulturwandel führt nicht weit genug. Vermehrt ist inzwischen nämlich die Rede von einem „vorauseilenden Gehorsam“, den manche Kulturinstitutionen üben würden, um einer etwaigen Kritik von rechts zuvorzukommen. Das ist ein heikler, weil empirisch schwer fassbarer Umstand. Die Frage etwa, ob ein Theater oder Museum sein Programm aus Furcht vor einem kommenden rechten Zeitgeist anpasst oder weil es sich schlicht für den italienischen Futurismus oder eine Adaption von Ernst-Jünger-Texten interessiert – ob also Opportunismus oder Diversitätsinteresse dahinterstehen –, lässt sich nicht leicht beantworten. Konkrete Beispiele für eine solche Verschiebung im Programm lassen sich noch nicht anführen. Einen Sonderfall stellen vielleicht manche ostdeutschen Bühnen dar, die seit einiger Zeit auffällig offensiv die DDR-Kulturgeschichte ins Schaufenster stellen und damit möglicherweise auf retrospektive Sehnsüchte ihres Publikums reagieren. So wird beispielsweise eine Adaption des Romans „Spur der Steine“ von Erik Neutsch an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt/Oder zu einer kleinen Feierstunde der ostdeutschen Identitätssuche, „untermalt mit mitreißender Musik von den Puhdys, Karussell, Karat, Renft und vielen anderen“.
Von Jean-Raspail- oder Ayn-Rand-Schwerpunkten an bundesdeutschen Theatern hört man allerdings bislang nichts. Und auch das Programm der in Deutschland staatlich subventionierten Literaturhäuser, Hochschulen oder öffentlich-rechtlichen Medienanstalten scheint sich bisher einem etwaigen rechten Zeitgeist noch nicht angepasst zu haben. Dass kulturelle Institutionen, die vom Staat finanziert werden, nach politischen Machtwechseln hier und da neue Leitungspersönlichkeiten bekommen, ist an sich kein Grund für Nervenzusammenbrüche. Dass Intendantinnen mit einem rechten Parteibuch – wie etwa die neue Leiterin des venezianischen Opernhauses La Fenice – dabei mit größerem Zweifel betrachtet werden als vergleichbare Persönlichkeiten mit einem linken Moralausweis, mag im Angesicht der verbrecherischen Inbesitznahme von Kultur durch rechte Politik im vergangenen Jahrhundert sinnfällig scheinen – im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit heute ist es nicht. Überhaupt stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Warnung vor einem rechten Kulturwandel und eine fehlende eigene politische Standortbestimmung zueinander stehen.
Progressive Weltanschauung als Norm
Kehren wir dafür noch einmal kurz zum eingangs erwähnten Interview mit der Leiterin der Bundeskulturstiftung zurück. Dort berichtet sie an einer Stelle eindrücklich von erschreckenden Einflussnahmen der rechten polnischen Regierung auf ihre kuratorische Tätigkeit als Leiterin des Polnischen Kulturinstituts in Berlin, gibt explizit Auskunft über die Verfahrensweise einer rechten Kulturpolitik, die sich offenbar vor allem dadurch auszeichnet, unliebsame Personen auf rote Listen zu setzen. Interessant ist im Zusammenhang einer fehlenden eigenen Standortbestimmung die Art, wie Wielga-Skolimowska den Vorgang beschreibt: „Man versucht, die, die man als progressiv betrachtet, was immer das auch heißt, Olga Tokarczuk oder andere, einfach nicht einzuladen.“
In der rhetorischen Parenthese „was immer das auch heißt“ offenbart sich eine Strategie der verweigerten Zeichensetzung, die das Linksliberale als unpolitische Norm inszeniert. Eine Strategie, die sich selbst und ihr Publikum daran gewöhnt hat, dass kulturelle Institutionen und Praktiken mit einem Standort assoziiert sind, der nicht gesondert ausgewiesen werden muss. In der lässig als lästige Konvention abgetanen Praxis der politischen Vorzeichensetzung offenbart sich ein Begriff vom Politischen, der die progressive Weltanschauung als Norm konstruiert und jede Abweichung von ihr für einen Systemfehler hält. Dadurch wird willentlich übersehen, dass beispielsweise jemand wie die Schriftstellerin Olga Tokarczuk, die schon in ihrem Wikipedia-Eintrag mit Berufung auf internationale Zeitungen als „a leftist and a feminist“
Vielleicht ist das der eigentliche Streitpunkt unseres gegenwärtigen Kulturkampfes: dass die einen ihre ideologische Positionierung eindeutig zu erkennen geben, während die anderen ihren politischen Standort hinter Normbehauptungen verstecken. Sich in gewisser Weise zu fein dafür sind, ihre Gesinnungsposition zu erklären, nach dem Motto: Das ist doch eh klar. Wir sind an einem deutschen Theater. 2025!
Aus der Wissenschaft kommt der Gedanke einer Standortabhängigkeit jeder Wirklichkeitsbeschreibung – die Klärung der eigenen Beobachterposition gehört mittlerweile zum Handwerkszeug erkenntnistheoretisch informierter Forschung. Im deutschen Kulturbetrieb scheint dieses Handwerkszeug allerdings nicht in Gebrauch zu sein. Stattdessen versichert man sich gegenseitig seiner politischen Unabhängigkeit, weil man das Linksliberale stillschweigend zur Norm erklärt hat. Eine Norm, die sich nicht erklären muss. Deshalb hält man es beispielsweise für selbstverständlich, dass ein Theater mit einem linksliberal-progressiv orientierten Rechercheverbund wie „Correctiv“ kooperiert, aber für skandalös, wenn ein migrationskritischer Regisseur wie Alvis Hermanis dort engagiert wird.
Bei aller berechtigten Furcht vor einem drohenden rechten Einfluss auf die Kultureinrichtungen in diesem Land: Hat man sich in der Vergangenheit in gleicher Weise vor einem politischen Druck von links gefürchtet? Oder sind das nach wie vor zwei unterschiedliche Maßeinheiten? Heißt Einfluss von rechts auszuüben, die Kultur als solche zu bekämpfen? Bedrohen Kleine Anfragen der AfD gleich die Kunstfreiheit im Großen? Entwertet ein despektierlicher Anwurf gegen das Bauhaus schon unsere Erzählung von der deutschen Moderne?
Kultur und Demokratie
Die daraus abgeleitete Frage lautet, ob es eine Unterscheidung zwischen demokratiefreundlichen und demokratiefeindlichen Formen der Kultur gibt. Die Kuratoren des „Osten“-Festivals sind in dieser Sache entschieden: „Wir denken: ja, in einer Demokratie werden eher demokratiefördernde Projekte unterstützt, während Fackelmärsche und Sonnenwendfeiern nicht so gut ankommen.“ Interessant. Das würde bedeuten, dass eine Demokratie nur solche Kultur fördern sollte, die ihr selbst zugutekommt. Ein recht funktionalistischer Ansatz – und einer, der sich in seiner Begründungsstruktur am Ende gar nicht so sehr von dem „grundsätzlich bejahenden“ Kulturwunsch der AfD unterscheidet. In beiden Fällen wird die Kultur als Mittel zum Zweck in den Dienst genommen. Ein Mittel, das etwas unterstützen und bejahen soll – entweder die liberale Demokratie oder ein bierselig-banales Deutschlandgefühl.
Die Kultur sagt aber nicht „ja“ oder „nein“. Das unterscheidet sie fundamental von anderen Sphären, in denen der Dezisionismus den Ton angibt. Nein, Kultur in ihrer produktiven Form ist eine Störung jeder Klarheit und Entschiedenheit. Sie verwischt und übermalt, verführt und temperiert. Wenn Demokratie eine Kultur braucht, dann nicht als Steigbügelhalterin, sondern als Gegenüber. Nicht als untergeordnete, sondern als bedingende Instanz. Nicht eine Ansammlung von ästhetischen Produktlinien, die zur Erbauung des richtigen politischen Charakters dienen, sondern eine Bedingung des Charakters selbst. Die Kultur ist am Ende das, was unserem Blick auf die Wirklichkeit Bedeutung verleiht. Oder ihm zumindest suggeriert, dass er dazu imstande ist, Bedeutung festzustellen. Da geht es um weit mehr als um politische Vorzeichen, da geht es um Prägung und Bewusstsein. Um Lebensweise. Die Kultur ist größer als die politische Vernunft. Sie entlastet den Menschen bestenfalls von seinen tagesaktuellen Überzeugungen und führt ihn ins Offene der Selbstreflexion hinaus. Dort kann er die eigentlichen Dimensionen der Verhältnisse erkennen, in denen er lebt, träumt und denkt. Deshalb verbirgt sich hinter dem schnell ausgerufenen Kulturkampf in Wahrheit ein langes Ringen um Bedeutungen.
Was heißt das konkret zurückbezogen auf Deutschland im Jahr 2025? Unverkennbar ist, dass das Selbstbewusstsein rechter Bedeutungsansätze auch in diesem Land größer wird. Dass das Linksliberale als Norm an Selbstverständlichkeit einbüßt. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Veränderungsdynamik die Seiten gewechselt hat. Die Suggestion des wirklichen Wechsels, seit jeher ein attraktives Bindemittel des Politischen, ist von links nach rechts gewandert. Darin ist ein entscheidender Kulturwandel zu erkennen. Die Linken finden sich als Bewahrer ihrer Fortschrittstradition wieder, während ihr Besitzstand von rechtsrevolutionärem Denken angegriffen wird. Nonkonformismus, der ehemals stolze Bewusstseinsbegriff der Progressiven, ist inzwischen zum Signum der Rechten geworden. Die Linke ist im Würgegriff des Liberalismus an die Macht gekommen und hat sich im Verlauf zur Konvention entwickelt. Eine Konvention, die es verlernt hat, für sich und ihre Veränderungsabsichten zu werben. Die Herausforderung für das progressive Denken besteht darin, dass ein Werben für die in der Vergangenheit durchgesetzten Veränderungen keinen Reiz darstellt. Stattdessen aber so zu tun, als wären all diese Veränderungen selbstverständlich, wirkt ebenfalls provozierend. Es müsste also ein Weg gefunden werden, um die Bewahrung von Veränderung zum Programm eines besseren Morgens zu erklären.
Kulturkampf? Bedeutungswandel!
Vielleicht liegt genau hier ein Potenzial unseres Themas, das durch den martialischen Begriff des Kulturkampfes verdeckt wird: dass von Neuem über die Behauptungskraft politischer Ideen nachgedacht werden könnte. Und zwar nicht in erster Linie im Rahmen der Lieferanten-Logik einer Politik, die die „Probleme ihrer Bürger löst“ wie eine Sanitärfirma, die einen verstopften Abfluss reinigt. Die Probleme sind nicht in erster Linie das Problem. Die Bedeutungen, die sich wandeln, sind es. Kulturkampf heißt Bedeutungswandel – und einen solchen können wir auch in Deutschland in mancherlei Hinsicht wahrnehmen.
Zu den neuen Bedeutungen, die das alte Leitdifferenzen-Ehepaar links und rechts für sich beansprucht, kommen die innovativen Disruptionen, die im kulturellen Hallraum des Digitalen spürbar sind. Hier ändern sich Bedeutungen gerade quasi im Minutentakt. Im Angesicht des revolutionären Impacts der Künstlichen Intelligenz auf unser Bewusstsein scheint sich ein ganzer Normenhaushalt von seinen traditionellen Vorstellungen einer verantwortlichen Wissensvermittlung lösen zu müssen. Mit der technologischen Revolution öffnet sich das Feld für eine gänzlich neue Kultur. Für gänzlich neue Bedeutungen, die man altehrwürdigen Kategorien wie Wissen, Meinung oder Prägung beimisst.
Die optimistische Sicht auf diesen Bedeutungswandel wäre, dass der technologische Fortschritt die Chance für eine Rückkehr zu einem vor-funktionalen, ganzheitlichen Bildungskonzept bietet, einem Konzept, das dem aufgesplitterten und formalistischen Menschenbild etwas entgegensetzt. Das dabei hilft, die bislang geförderten Fähigkeiten des Auswendiglernens und der Wissensverwaltung durch Kulturtechniken der Suche und des Staunens abzulösen, sodass es bald weniger um Fakten als um Fantasie, weniger um Rechthaben als um Reflexion gehen könnte.
Die pessimistische Sicht hingegen meint zu erkennen, dass sich hinter der Technologie eine Ideologie verbirgt, die zivilisationszerstörerisch wirkt. Die sich als neue Kulturtechnik ausgibt, in Wahrheit aber im Zusammenspiel mit rechtsrevolutionären Anschauungen zu einer tatsächlichen Zerstörung des Fundamentes führt, auf dem wir noch meinen, für immer sicher stehen zu können. Ob die „Zoom-Gesellschaft“, die den bedeutungsarmen Kriterien der Effizienz und Distanz folgt, gewappnet ist, dem etwas entgegenzusetzen?
In Zeiten der emotionalen Rückhaltlosigkeit und politischen Spaltung gewinnt der griechische κοινωνία-Gedanke erneut an Anziehungskraft. In einer aktualisierten Version unterstreicht er die Wichtigkeit der Teilhabe. Nur wer sich als Mensch im Gegenüber erkennt, kann ein verantwortungsbewusster Bürger werden. Die Fähigkeit zur Herstellung von Nähe könnte bald zur wichtigsten Überlebenstechnik werden, um den politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen zu können.
Erinnerung und Gegenwart
In Deutschland ist die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Kultur seit dem Ende des terroristischen Nazi-Regimes und der Bewusstwerdung des Menschheitsverbrechens Holocaust eng verbunden mit dem Verhältnis von Erinnerung und Gegenwart. Welchen ethisch bindenden Wert hat die Vergegenwärtigung des geschichtlich Fatalen in unserer Zeit? Es scheint, dass auch hier ein Bedeutungswandel stattfindet. Das zeigt sich nicht nur in Umfragen der Claims Conference, die ein erschütterndes Unwissen der jungen Generation über die Shoah feststellen.
Während unter Kulturstaatsministerin Claudia Roth und vor allem unter ihrem Ministerialdirektor Andreas Görgen aus dem Kolonialismus-Turn eine Menge moralpolitischer Profit geschlagen wurde, setzt das Kultur-Kapitel im jüngsten Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD andere Schwerpunkte. Da wird beispielsweise die „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ gleich neben die „Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Verbrechensherrschaft“ gestellt.
Aber auch von anderer Seite wird die linksliberale Hegemonie über die Erinnerungskultur infrage gestellt. Die Frage etwa, inwieweit „Israel“ gerade zu einem strategischen Interessensfeld rechter Kulturpolitik wird, ist nicht leicht zu beantworten und bedürfte einer eigenen umfangreichen Reflexion. Was aber klar scheint, ist, dass auch hier ein Bedeutungswandel der politischen Vorzeichen stattfindet. „Weil die Linke sich abkehrt, finden Juden heute Trost bei den Rechten“,
Autonomie statt Autarkie
Bedeutungswandel also, wohin man schaut. Das, was wir mit dem Begriff des Kulturkampfes bezeichnen und damit in den überschaubaren Bereich kultureller Fehden um Gendersterne und Diversitätsleitfäden einordnen wollen, berührt in Wahrheit das weite Feld eines sich fundamental wandelnden Bewusstseins. Eines Bewusstseins, das sich seines eingeübten Verhältnisses zur Demokratie nicht mehr sicher scheint. Das zumindest die linksliberale Hegemonie über das politische Denken infrage stellt und Fortschrittlichkeit nicht mehr als einzige Norm, sondern als eine Möglichkeit unter anderen sieht. Eines Bewusstseins schließlich, das die Standortbestimmung auch von jenen verlangt, die sich unter dem Deckmantel der Neutralität an den dominierenden Zeitgeist anschmiegen. Dass dieser Zeitgeist auch in Deutschland bald nicht mehr nach links, sondern eben nach rechts ausschlagen könnte, scheint inzwischen denkbar. Die Kultur müsste daher schon jetzt daran arbeiten, sich von ihren politischen Hegemonialkräften zu emanzipieren. Müsste versuchen, zum Bollwerk einer eigenen Ordnung und Ethik zu werden. Sich selbstbewusst als Gegenüber der politischen Weltanschauung zu präsentieren. Sich keiner Funktionslogik unterzuordnen, keiner Lobby genügen zu wollen, sondern nach Bedeutungen Ausschau zu halten, die höher liegen als die politischen Tagesthemen.
Wäre es nicht denkbar, sich die Kultur in ähnlicher Weise wie das Recht als eine zumindest teilweise von den politischen Volatilitäten unabhängige Sphäre vorzustellen? Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., hat bei seinem denkwürdigen Streitgespräch mit dem politischen Philosophen Jürgen Habermas im Januar 2004 darauf verwiesen, dass etwa auch die Idee der Menschenrechte nicht verständlich sei „ohne die Voraussetzung, dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind“.