Kulturelle Teilhabe ist als UN-Menschenrecht verankert und zugleich selbstverständlicher Bestandteil im Leben eines jeden Menschen. Legt man einen breiten anthropologischen, alltags- und populärkulturellen Kulturbegriff zugrunde, dann hat jeder und jede an Kultur teil und prägt sie mit: Wie wir uns kleiden, wie wir uns einrichten, wie wir unsere Freizeit gestalten – all das sind kulturelle Aktivitäten. In Deutschland wird Kultur und kulturelle Teilhabe hingegen häufig implizit auf die als „legitim“ geltenden,
Kulturelle Teilhabe in diesem engeren, auf den Kultursektor bezogenen Sinne lässt sich nach drei Teilhabeformen unterscheiden: als Teilhabe als Publikum und Rezipient:in von künstlerischen und kulturellen Angeboten, als aktive Teilhabe als Amateur oder Hobbykünstler:in und als Teilhabe im Sinne einer partizipativen Mitbestimmung über kulturelle Angebote.
Ein wesentliches Ziel kultureller Teilhabe ist kulturelle Bildung. Die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur wird meist als Teil allgemeiner Bildungsprozesse verstanden, gleichzeitig ist kulturelle Bildung oft Voraussetzung für kulturelle Teilhabe, etwa, wenn es um komplexere Kunst- und Kulturformen geht.
Kulturelle Teilhabe soll neben individuellen Bildungsprozessen also auch soziale Integration ermöglichen, Menschen ein Gefühl von Identität und Zugehörigkeit vermitteln und, mehr noch, zur Mitgestaltung in einer demokratischen Gesellschaft befähigen. Sie wirkt sowohl auf der individuellen Ebene (Empowerment) als auch auf der sozialen und gesellschaftlichen (Zusammenhalt) sowie der politischen Ebene (Mitbestimmung). Angesichts drohender Gefährdungen der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung wird kulturelle Teilhabe so zu einem bedeutenden Faktor bei der Frage, wie sich die liberale Demokratie sichern und bewahren lässt. Nicht zuletzt dürfte Teilhabegerechtigkeit in Zeiten sinkender öffentlicher Budgets auch zu einem wichtigen Faktor für die Legitimierung der mit rund 15 Milliarden Euro jährlich im internationalen Vergleich sehr hohen Kulturförderung in Deutschland werden.
Empirische Dimensionen kultureller Teilhabe
Anders als in vielen anderen europäischen Ländern gibt es in Deutschland keine regelmäßigen offiziellen Befragungen oder Studien zu den kulturellen Aktivitäten der Bevölkerung. Was wissen wir also über die unterschiedlichen Formen kultureller Teilhabe der Bürger:innen?
Aus einer aktuellen Repräsentativbefragung des Meinungsforschungsinstituts Forsa für die Liz Mohn Stiftung im Rahmen des „Relevanzmonitors Kultur“ lassen sich folgende Erkenntnisse über die kulturellen Aktivitäten der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland ab 18 Jahren gewinnen:
Das am häufigsten genutzte Kulturangebot ist der Kinobesuch; 52 Prozent aller Befragten hatten mindestens einmal innerhalb der vergangenen 12 Monate einen Film in einem Lichtspielhaus gesehen. Ausstellungen besuchten im gleichen Zeitraum 44 Prozent, Rock- und Popkonzerte 39 Prozent, Theater 29 Prozent, klassische Konzerte 22 Prozent, Musicals 16 Prozent und Opern-, Ballett- oder Tanzaufführungen 14 Prozent.
Bildung erweist sich als zentraler Einflussfaktor auf kulturelle Teilhabe.
Obwohl die „hochkulturellen“ Angebote der Theater, Opern und Museen nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung regelmäßig wahrgenommen werden, gelten Kunst- und Kulturorganisationen einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung gleichwohl als gesellschaftlich wertvoll und unverzichtbar. So sind 81 Prozent der Bürger:innen davon überzeugt, dass Kulturangebote wesentlich zur Förderung der Demokratie beitragen, und 74Prozent meinen, dass Kulturangebote allen Menschen den Zugang zu Bildung und Wissen ermöglichen.
Allerdings zeigen sich erste Anzeichen, dass bei nachwachsenden Generationen die Legitimität der staatlichen Kulturförderung nachlässt. Jüngere Bürger:innen befürworten im Vergleich zu den älteren zu deutlich geringeren Anteilen eine fortgesetzte hohe öffentliche Förderung der Theater.
Die Diskrepanz zwischen eigener Nutzung und dem bislang mehrheitlich noch sehr positiven Image von Kulturangeboten in der Bevölkerung forciert die Frage, wie öffentlich geförderte Kultureinrichtungen für deutlich mehr Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Interessen zu relevanten Orten für das eigene Leben werden könnten.
Diskurse über kulturelle Teilhabe
Der Begriff der kulturellen Teilhabe ist in kulturpolitischen Programmen, in den Selbstdarstellungen von Kulturorganisationen und im Diskurs der kulturellen Bildung omnipräsent. Unter den Artikeln auf der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online (kubi-online) etwa, der größten Publikationsplattform für kulturelle Bildung in Deutschland, ist das Thema Teilhabe und Partizipation vor Diversität und Transformation am häufigsten vertreten.
In der Bundesrepublik wurde das Thema bereits Ende der 1970er Jahre mit Hilmar Hoffmanns Forderung einer „Kultur für alle“
In der DDR wurde Kunst und Kultur eine zentrale Rolle bei der Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten beigemessen. Der Staat sorgte flächendeckend über Kitas, Schulen, Universitäten, Betriebe und Freizeitaktivitäten des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) dafür, dass vor allem die von der SED befürwortete Kunst und Kultur in alle Bereiche des Lebens und Arbeitens integriert war.
International veränderten die in England entstandenen Cultural Studies den Diskurs um kulturelle Teilhabe. Sie wandten sich ab Anfang der 1970er Jahre gegen eine Hierarchisierung von legitimen und weniger legitimen Kulturformen und plädierten für die gleichwertige Anerkennung populärer Kultur, die für einen Großteil der Bevölkerung bedeutsam und attraktiv ist.
Pierre Bourdieu zeigte erstmals 1979 auf breiter empirischer Basis, wie die Rezeption bestimmter hochkultureller Veranstaltungen zur sozialen Distinktion beiträgt. Die tief verankerte, über das Elternhaus entwickelte Kenntnis kultureller Codes, die erst zu einer Rezeption bestimmter Kulturformen befähigt, akkumuliert sich zu „kulturellem Kapital“, das sich dann auch als soziales Kapital erweist. „Sowohl über die Anerkennung und Kanonisierung dessen, was legitimer Weise als kulturell wertvoll gilt, als auch über Aneignungspraxen, die als angemessen betrachtet werden, befinden jene, welche über die entsprechenden Dispositionen, in Form von sozialer Herkunft, kulturellem und sozialem Kapital, verfügen. Die Liebe zur Kunst erscheint dabei als Erwähltheit, die wie eine unsichtbare und unübersteigbare Schranke diejenigen, die dieses Zeichen tragen, von jenen trennt, die nicht über den legitimen Geschmack verfügen.“
Der Kultursoziologe Gerhard Schulze knüpft an Bourdieus Überlegungen zu den Unterschieden kultureller Praktiken durch „Klassismus“ an, spricht aber nicht mehr von „Klassen“, sondern von sozialen Milieus, die er nach Lebensstilen differenziert – und die durchlässiger seien als die traditionellen Milieus.
In der Debatte um kulturelle Teilhabe in Deutschland zeigen sich vor allem zwei zentrale Argumentationsstränge. Zum einen geht es um chancengerechte Teilhabe, zum anderen um die Diversität der Angebote.
Chancengerechte kulturelle Teilhabe
Zwar ist das Recht auf kulturelle Teilhabe in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert, in Deutschland findet es jedoch im Grundgesetz, anders als etwa in der französischen Verfassung, keine Erwähnung. Dennoch ließe sich aus dem Befund ungleich verteilter Teilhabechancen in der Bevölkerung, die stark vom jeweiligen sozialen und Bildungshintergrund des Elternhauses abhängen, die Forderung ableiten, dass der Staat hier tätig werden und für einen gleicheren Zugang sorgen muss.
Eine stärkere Beachtung fand im Zuge dieser Diskussion auch das Thema Inklusion, verknüpft mit der Frage des Abbaus von Barrieren beim Zugang zu kulturellen Einrichtungen und der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen. In fast allen Kulturorganisationen gibt es mittlerweile eine erhöhte Sensibilität für diese Fragen und vielfältige Maßnahmen, um Teilhabe zu verbessern. Auch die Stärkung kultureller Teilhabemöglichkeiten in strukturschwachen ländlichen Räumen, in denen es oft wenige öffentliche Kulturangebote gibt, spielt hier eine Rolle, unter anderem im Rahmen des bundesweiten Förderprogramms „Trafo“. Dabei zeigt sich auch, dass kulturelle Aktivitäten in ländlichen Regionen vor allem auf ehrenamtlichem Engagement beruhen, dem ein deutlich breitenkulturelles Verständnis zugrunde liegt.
Diversität als Voraussetzung für kulturelle Teilhabe
Verstärkt seit den 2010er Jahren – Stichwort: Einwanderungsgesellschaft – wird das Thema kulturelle Teilhabe in Verbindung mit der Frage nach mehr Diversität in der Ausrichtung des öffentlich geförderten Kulturangebotes diskutiert.
Unter dem Stichwort Digitalisierung wird im Diskurs um kulturelle Teilhabe zunehmend auch die Frage erörtert, inwiefern die vielfältigen neuen digitalen Kulturorte eine barrierearme Teilhabe, flexible Zugänglichkeit, Orientierung an individuellen Interessen und Partizipation ermöglichen oder möglicherweise zum Verlust sinnlicher Erfahrung und zur Isolation in Filterblasen – und damit zu weniger kultureller Öffentlichkeit – führen. Digitalisierung forciert die Pluralisierung kultureller Interessen und setzt die traditionellen Kultureinrichtungen damit gleichzeitig unter Druck.
Kulturpolitisch bewegt sich der Diskurs um kulturelle Teilhabe zwischen den Polen einer „Demokratisierung von Hochkultur“ im Sinne einer Heranführung möglichst vieler an die von gesellschaftlichen Eliten und künstlerisch-kulturellen Expert:innen definierten und öffentlich geförderten „legitimen“ Angebote einerseits und dem Konzept der „Kulturellen Demokratie“ andererseits, bei dem die Bürger:innen nicht von bestimmten Kulturformen wie Museen, Theatern oder klassischer Musik überzeugt werden sollen, sondern auf Basis eines breiten, nicht normativen Kulturbegriffs mitentscheiden können, welche Kulturformen für sie wichtig sind und vom Staat finanziert werden sollen.
Strukturen und Strategien zur Ermöglichung kultureller Teilhabe
Kulturelle Teilhabe wird hier verstanden als die Option, unabhängig vom sozialen oder kulturellen Hintergrund an einem breiten Spektrum kultureller Aktivitäten und Veranstaltungen aktiv oder rezeptiv teilzuhaben und Kunst und Kultur als bereichernden Teil des persönlichen und gemeinschaftlichen (Zusammen-)Lebens zu nutzen. Auf Basis der diskutierten empirischen Erkenntnisse und kulturpolitischen Diskurse lassen sich folgende Strategien für eine chancengerechtere kulturelle Teilhabe formulieren:
Auf der Ebene des Subjekts ermöglichen frühe positive Erfahrungen mit vielfältigen Formen von Kunst und Kultur durch verschiedene Mittlerinstanzen Zugänge und stimulieren so kulturelle Selbstbildungsprozesse. Der kulturellen Bildung wird in Deutschland seit den 2000er Jahren eine wachsende Bedeutung zugemessen, was sich unter anderem in Förderprogrammen und Kooperationen zwischen dem Kultur- und dem Bildungssektor zeigt sowie in einem starken Aufwuchs an Stellen für Kulturvermittlung in den staatlich geförderten Einrichtungen.
Förderprogramme wie „Kultur macht stark“, die in ihren Strukturen vor allem auf Kinder und Jugendliche mit niedrigen Teilhabechancen ausgerichtet sind und mit denen diese an ihren Alltagsorten erreicht werden können, gehören hier ebenso dazu wie kontinuierliche Kulturangebote im freiwilligen Bereich der Ganztagsschulen. Aber auch Kooperationen des Kultursektors mit anderen Bildungseinrichtungen, Sportvereinen, sozialen Einrichtungen und Betrieben oder die ressortübergreifende Zusammenarbeit von Kultur-, Bildungs- und Sozialpolitik sind hier förderlich. Gutscheinsysteme können Teilhabe ganz konkret stimulieren, etwa ein „Kulturpass“ für Jugendliche, der für unterschiedliche kulturelle Angebote entsprechend der eigenen Interessen eingelöst werden kann.
Hinsichtlich der Gelingensbedingungen solcher Programme gilt: „Kulturelle Bildung muss so vielfältig sein, wie die Interessen und Talente der Menschen. Ebenso wichtig ist eine große Vielfalt an Kooperationsformen. (…) Kulturelle Bildung bietet so unterschiedliche Möglichkeiten an Ausdrucksformen, dass auch für jeden unmusikalischen Rhythmuslegastheniker mit zwei linken Händen und einer Rot-Grün-Blindheit genügend Aneignungs- und Ausdrucksformen verbleiben. Denn sich kulturell oder künstlerisch auszudrücken ist ein menschliches Grundbedürfnis der Selbstvergewisserung, der Orientierung, des Erforschens der eigenen Wirklichkeit, der Neugier und des Gestaltenwollens: von den Höhlen von Lascaux bis zu Medienkunst und Urban Art.“
Auf Ebene der Kulturorganisationen erhöhen Strategien einer konsequenten Publikums- und Teilhabeorientierung einschließlich der damit verbundenen Veränderung von Programmen, Formaten, Kommunikation, Zielsetzungen, internen Strukturen und Personal die Zugänglichkeit für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Viele Kultureinrichtungen in Deutschland richten sich aktuell durch teilhabeorientierte Audience Development- und Kulturvermittlungsstrategien deutlich stärker an den Interessen bislang nicht erreichter Publikumsgruppen aus und fühlen sich vermehrt auch für soziale und gesellschaftliche Aufgaben zuständig. Kulturvermittlung hat als ganzheitliches Konzept mit Aufmerksamkeitsmanagement zu tun, mit nahbarer und verständlicher Kommunikation und mit dem Aufbau neuer Partnerschaften mit Sozial- und Bildungseinrichtungen, bis hin zur Realisierung gemeinsamer Aktionen im Bereich künstlerisch-ästhetischer und kultureller Gestaltung.
Auf kulturpolitischer Ebene ließe sich Teilhabe über klare Zielvorgaben und Prioritätensetzungen für staatlich geförderte Kulturorganisationen fördern, um so ein breiteres und vielfältigeres Publikum zu erreichen. Dazu gehören auch verbindliche Vorgaben für Kooperationen zwischen diesen Organisationen und Bildungseinrichtungen sowie die strukturelle Verankerung kultureller Bildungsaktivitäten für alle Schüler:innen als Voraussetzung für eine chancengerechte kulturelle Teilhabe. Denn einer der wesentlichen Gründe für ungleiche kulturelle Teilhabe liegt neben ungleichen Bildungschancen in einem kulturpolitischen System, das bislang vor allem auf die Stärkung künstlerischer Produktion setzte und erst in jüngerer Zeit auch verbindliche Vorgaben für kulturelle Bildung, Vermittlung und Teilhabeorientierung macht.
Potenziale für Demokratiefähigkeit
Kulturelle Teilhabe bietet Potenziale für soziale und politische Teilhabe, kann individuelle Perspektiven erweitern, Lebensqualität und den persönlichen Gestaltungsradius erhöhen und auch Empathie für andere Lebensweisen stimulieren. Dass Kunst und Kultur gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern können, ist eine der Begründungen für die staatliche Kulturförderung in Deutschland – auch und gerade angesichts der sozialen, ökonomischen und kulturellen Spaltungstendenzen in der Gesellschaft und der Bedrohung demokratischer Gesellschaftsordnungen. Die Künste können mit ihrem Potenzial, Mehrdeutigkeit zuzulassen und Gesellschaft in ihren verschiedenen Wahrheiten zu zeigen und emotional erfahrbar zu machen, entscheidend dazu beitragen, Ambiguitätstoleranz zu erlernen – eine entscheidende Kompetenz für Demokratiefähigkeit.
In Zeiten, in denen Kultur eher als Kampfarena wahrgenommen wird, mag es schwierig erscheinen, Menschen unterschiedlicher sozialer, kultureller und politischer Hintergründe, die sonst kaum mehr miteinander sprechen, zusammenzubringen. Dennoch ist eine übergroße Mehrheit der Bürger:innen davon überzeugt, dass Kulturangebote wertvolle Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen und Menschen über Grenzen und Unterschiede hinweg verbinden können.