In der politischen Debatte richtet sich seit rund zehn Jahren der Blick verstärkt auf ländliche Räume. Gesellschaftliche Entwicklungen, insbesondere der demografische Wandel, und die Krisenerfahrungen der vergangenen Jahre haben zu diesem Aufmerksamkeitsschub beigetragen. Überdies wird die tatsächliche oder vermeintliche Spaltung der Menschen zwischen Stadt und Land, Arm und Reich oder Ost und West, die sich auch im Erstarken extremistischer, antidemokratischer und menschenverachtender Positionen zeigt, als bedrohlich wahrgenommen. Schon seit einigen Jahren werden deshalb Maßnahmen ergriffen und Programme aufgelegt, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade in ländlichen Räumen zu stärken. Das gilt auch für den Bereich der Kulturpolitik.
Inwiefern aber unterscheidet sich Kulturpolitik in ländlichen Räumen überhaupt von derjenigen in Städten? Diese Frage birgt eine ganze Reihe von Definitionsaufgaben: Wie werden ländliche Räume von städtischen abgegrenzt? Wer oder was ist hier mit „Kulturpolitik“ gemeint? Für die Entwicklung passgenauer Strategien zur Stärkung von Kulturschaffenden und kultureller Teilhabe in ländlichen Räumen ist zudem die Frage relevant, welche Kulturakteure
Zur Abgrenzung von ländlichen und urbanen Räumen
„Ländlichkeit“ ist eine uneindeutige Kategorie. Selbst die Raumforschung liefert keine allgemeingültige Definition für ländliche Räume.
Die Thünen-Typisierung bezieht auch Indikatoren zur sozioökonomischen Lage der ländlichen Kreisregionen ein. Die Daten zeigen, dass es grundsätzlich keinen Zusammenhang zwischen Ländlichkeit und sozioökonomischer Lage gibt: „Damit wird die theoretische Diskussion bestätigt, dass von Ländlichkeit nicht (mehr) auf bestimmte wirtschaftliche und soziale Merkmale geschlossen werden kann, um einen bestimmten Lebensstil oder die ‚Rückständigkeit‘ im Modernisierungsprozess zu erklären.“
Die angesprochenen Typisierungen wurden insbesondere für bundesweite Analysen im Rahmen der Politikberatung entwickelt.
Eine Kategorisierung der rund 10.800 selbstständigen Kommunen in Deutschland nach ihrem Urbanitäts- beziehungsweise Ländlichkeitsgrad ist zum einen enorm aufwendig, zum anderen verändert sich dieser durch Zu- und Abwanderung, durch Gewerbeansiedlungen oder neue Infrastruktur permanent. Eine Stadt- und Gemeindetypisierung, die das BBSR im Rahmen der „Laufenden Raumbeobachtung“ und gemessen an Einwohnerzahl und Zentralitätsgrad vornimmt, fasst die Kommunen zu rund 4.500 Gemeindeverbänden zusammen. Unterschieden werden Landgemeinden, Kleinstädte, Mittelstädte und Großstädte.
Die genannten Raumtypisierungen werden häufig in der anwendungsbezogenen Kulturforschung genutzt. Da sie die ländlichen Gebiete in Deutschland etwas unterschiedlich abgrenzen, sind auch die Forschungsergebnisse, etwa zum ländlichen Kulturpublikum oder zur kulturellen Infrastruktur, die sich zumeist auf Teilräume (Regionen oder Bundesländer) oder ausgewählte Kulturbereiche (zum Beispiel Theater oder Museen) beziehen, nicht immer miteinander vergleichbar.
In der kulturpolitischen Praxis wird häufig auf Obergrenzen der Einwohnerzahl zurückgegriffen – beispielsweise als Kriterium für die Antragsberechtigung bei Förderprogrammen. Diese liegen dann wahlweise bei 20.000, 30.000 oder 35.000 Einwohner*innen. Darunter fallen gleichermaßen kompakte Kleinstädte wie auch flächengroße Gemeinden mit 20 oder mehr eingemeindeten Dörfern, die jedoch sehr unterschiedliche Bedingungen für Kulturakteure aufweisen. Auch die Nähe oder Ferne zu Großstädten – deren Unternehmen, Universitäten oder Kreativmilieus auf die kulturelle Lage der umliegenden Gemeinden ausstrahlen – bleibt bei dieser Förderpraxis häufig unberücksichtigt, wodurch Projektträger mit sehr unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen in Konkurrenz um Fördermittel treten.
Festzuhalten ist: Allgemeine Aussagen über Kultur in ländlichen Räumen erfassen immer nur Teile einer vielgestaltigen Wirklichkeit. Die ländlichen Gebiete Deutschlands sind höchst heterogen und keineswegs prinzipiell sozioökonomisch schwach. Zwischen kleinen Weilern und Dörfern in dünn besiedelten Gebieten und Großstädten oder Metropolregionen spannt sich ein weites Feld vielfältiger ländlicher Räume auf, das kulturpolitisch gestaltet wird und werden muss. In der kulturpolitischen Debatte über gute Strategien für ländliche Kulturentwicklung ist somit immer auch zu reflektieren, auf welche Raumausdehnung und welchen konkreten Raum sich diese beziehen.
Kulturpolitische Akteure im Mehrebenensystem
Nach dem Grundgesetz haben die Kommunen im Rahmen ihres Selbstverwaltungsrechts für das „kulturelle Wohl“ der Einwohnerschaft zu sorgen (Artikel 28 Absatz 2 GG) und teilen sich diese kulturpolitische Verantwortung mit den Ländern (Artikel 30 GG). Diese verpflichten sich in ihren Verfassungen zum Schutz, zur Pflege und zur Förderung von Kunst und Kultur und weisen dafür in der Regel eine gemeinsame Verantwortung von Land, Bezirken, Kreisen und Gemeinden aus. Während die Kommunen mit ihren Bürger*innen und deren Organisationen die lokale Kultur gestalten, widmen sich die Länder überlokalen Kulturaufgaben von landesweiter Bedeutung. Es handelt sich also im Hinblick auf die kulturpolitischen Akteure um ein – auch gesetzlich gestaltetes – interdependentes Mehrebenensystem.
Seitens des Bundes sind insbesondere Fördermittel für den Denkmalschutz, für Stadtentwicklung oder bauliche Infrastruktur sowie Programme wie „Aller.Land“ (2024–2030) oder der Vorgänger „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“ (2015–2024) für ländliche Kommunen und Regionen relevant.
Wie die ländlichen Gemeinden und Städte ihre kulturpolitische Rolle in diesem als „kooperativer Kulturföderalismus“ bezeichneten Geflecht der staatlichen Kulturpolitik ausfüllen, ist ihnen überlassen; denn Kultur ist eine freiwillige Leistung. Zwar befürwortet der Deutsche Städte- und Gemeindebund die Freiwilligkeit der kommunalen Kulturaufgaben, da nur so die kulturelle Vielfalt mit Bezug zu den Orten sichergestellt werden könne. Dennoch betont er ebenso, dass die Städte und Gemeinden „in der Pflicht [stehen], Kulturangebote als feste[n] Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge zu fördern“.
Die Lage der Kulturhaushalte als wesentliche Basis der kommunalen Kulturarbeit ist regional äußerst unterschiedlich: Nicht alle ländlichen Gemeinden in Deutschland sind finanzschwach. Es hilft jedoch wenig, von Kommunen mehr Engagement für Kultur zu verlangen, wenn die personellen und finanziellen Ressourcen dafür fehlen. Aber nicht immer ist eine schlechte kommunale Finanzlage der limitierende Faktor bei der Ausgestaltung der kulturellen Aufgaben, vielmehr ist dies auch eine Frage der Prioritäten in den politischen Gremien und Verwaltungen.
Je kleiner Städte und Gemeinden sind, desto weniger ausdifferenziert sind die kommunalen Verwaltungen und die politischen Ausschüsse. Kulturelle Belange werden meist in Ausschüssen für Schule, Sport oder Tourismus mit behandelt, spielen jedoch angesichts ihrer geringen finanziellen Ausstattung eher eine marginale Rolle.
Wenn sich ländliche Kommunen keine nennenswerte Kulturförderung – geschweige denn eine*n Kulturbeauftragte*n – leisten (können), kommt den Landkreisen eine besondere Bedeutung zu: Neben der Trägerschaft von Kultureinrichtungen, eigenen Kulturveranstaltungen und niedrigschwelliger Kulturförderung können sie für überkommunales Kulturmanagement sorgen, das die Träger der vielfältigen Kulturformen in ländlichen Räumen unterstützt, berät und vernetzt.
Neben den Landkreisen sind die Länder für finanzschwache Kommunen wichtig, in programmatischer und in finanzieller Hinsicht. In seinem „Monitoring Kulturfinanzen“ stellte das Service Center Kultur MV 2022 beispielsweise fest, dass „die Förderung des Landes [Mecklenburg-Vorpommern] in ländlich verorteten Einrichtungen 47% der Gesamtförderung [ausmacht]; bei Kulturträgern in der Stadt dagegen nur 26%“.
Zu den kulturpolitischen Akteuren gehören auch Spartenverbände, regionale Organisationen, die Kirchen beziehungsweise Religionsgemeinschaften sowie Stiftungen, die seit den 1990er Jahren im Sinne der Cultural Governance verstärkt in die Politikgestaltung der Länder und des Bundes einbezogen werden. Landesverbände für Soziokultur, für Freie Darstellende Künste, für Kulturelle Bildung oder Amateurtheater oder regionale Institutionen in kommunaler Trägerschaft entwickeln mit Landesmitteln gesonderte Förderprogramme für Kultur in ländlichen Räumen. Die Länder beschreiten diesen Weg allerdings in unterschiedlicher Intensität: Während beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern erst seit Kurzem kleinere Fördermaßnahmen mithilfe von Landesverbänden umsetzt, ist diese Praxis in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen längst etabliert.
Unter dem Stichwort „Kulturpolitik in ländlichen Räumen“ reicht es also nicht, die Lokalpolitik in ländlichen Gemeinden in den Blick zu nehmen. Im Gegenteil: Die Palette der in ländlichen Regionen wirkenden kulturpolitischen Akteure einschließlich der Förderer und Verbände ist vielfältig und wandelt sich beständig. Insbesondere ländliche, strukturschwache Kommunen und Regionen sind auf kulturpolitische Ambitionen und fördernde Maßnahmen anderer Akteure angewiesen.
Kulturpolitische Strategien für vitale ländliche Räume
Umso wichtiger ist die wissensbasierte und in partizipativen Formaten entwickelte Kulturpolitik, die von regionalen Akteuren – Landkreisen oder regionalen Institutionen – und Landeskulturministerien organisiert wird. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages setzte mit ihrem Schlussbericht 2007 dafür ein viel beachtetes Zeichen.
Sowohl der Mehrebenendialog zwischen Bund, Ländern, regionalen Akteuren und Kommunen als auch der ressortübergreifende Austausch sind bis heute anerkannt wichtige, aber hoch komplexe Unterfangen, in denen die Ressourcenausstattung der beteiligten Akteure eine große Rolle spielt. Kulturpolitik generell und noch einmal mehr kulturpolitische Akteure in ländlichen Räumen gehören in diesem Geflecht nicht zu den stärksten Akteuren. Die Hoffnung ruht daher auf politischen Leitzielen wie der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im ganzen Land und der Anerkennung von Kultur als Faktor für Lebensqualität oder gar als Bestandteil der Daseinsvorsorge. Doch darüber besteht kein politischer Konsens. Die Interpretationen, worin gleichwertige Lebensverhältnisse bestehen und wie sie herzustellen sind, unterscheiden sich beträchtlich. Das Handlungsfeld Kultur wird zwar in Strategiepapieren von Bund, Ländern und Regionen berücksichtigt, erhält aber oftmals nicht den Stellenwert, den Vertreter*innen von Kultur und Kulturpolitik sich wünschen.
In den kulturpolitischen Strategien der Länder jedoch hat die Stärkung von Kultur in ländlichen Räumen in den vergangenen fünf Jahren deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen.
Diese Ziele betreffen prinzipiell das aktuelle Kunst- und Kulturschaffen von Profis und Laien, das kulturelle Erbe und die Kulturelle Bildung. Ein vielfältiges und qualitätsvolles Kulturangebot schließt die kulturelle Eigentätigkeit und das bürgerschaftliche Engagement ein. Es werden also nicht nur als spezifisch ländlich wahrgenommene Kulturformen in den Blick genommen – wie Brauchtum oder Breitenkultur, auch wenn diese nach wie vor kulturpolitisch eine große Rolle spielen. Vielmehr stellen die kulturpolitischen Strategiepapiere regelmäßig die Vielfalt der kulturellen Teilhabemöglichkeiten als Notwendigkeit für die Stärkung demokratischer Gemeinwesen und von Weltoffenheit und Toleranz heraus.
Empirisch kann nicht für jedes Dorf und jede Region ein kulturell vielfältiges Angebot festgestellt werden. Dennoch zeigen exemplarische Bestandserhebungen zur kulturellen Lage in ländlichen Regionen eine prinzipiell vielfältige Kulturlandschaft, die rezeptive wie partizipative Kulturangebote und -aktivitäten zwischen Tradition und Innovation umfasst.
Kulturelle Regionalentwicklung
Abschließend sollen drei zentrale strategische Ansätze herausgestellt werden, mit denen die Länder und auch der Bund gemeinsam mit regionalen und lokalen Akteuren, insbesondere auch den Kommunen und Kreisen, die kulturpolitischen Ziele zur Stärkung des Kulturschaffens und der kulturellen Teilhabe in ländlichen Räumen verfolgen. Dies sind zum einen regionale Kulturbüros, zum anderen die Konzepte der „Dritten Orte“ und der „regionalen Ankerpunkte“. Bei diesen Strategien handelt es sich um programmatisch-konzeptionelle Förderungen für Kultur in ländlichen Räumen, die – mehr noch als die Förderung einzelner Personen, Institutionen oder Projekte – regionale Strukturen stärken und so als Beiträge zur kulturellen Regionalentwicklung verstanden werden können.
In fast allen Bundesländern gibt es inzwischen regionale Förder-, Vernetzungs- und Beratungsstellen für Kultur.
Durch Übertragung des soziologischen Konzeptes der Dritten Orte von Ray Oldenburg
Während das Konzept der Dritten Orte darauf zielt, die Kultureinrichtungen als Orte der Identifikation und der lokalen Demokratie zu erhalten und weiterzuentwickeln, hat das Konzept der kulturellen Ankerpunkte darüber hinaus eine stärker regionale Ausrichtung. Systematisch wird dieser Ansatz derzeit in Brandenburg verfolgt: Mit dem Programm „Regionale kulturelle Ankerpunkte“ werden seit 2019 inzwischen 16 Kultureinrichtungen, Initiativen und Kollektive von Kulturschaffenden (in jedem Landkreis mindestens eine) über sechs Jahre seitens des Kulturministeriums gefördert, damit sie ihren Aktions- und Wirkungsradius regional erweitern. Fördervoraussetzung war ein positives Votum des betreffenden Landkreises, in dem sie ihren Sitz haben.
Alle drei Förderstrategien der Länder setzen auf die Einbeziehung von Kommunen und/oder Landkreisen, um ein öffentlich wahrnehmbares regionales beziehungsweise lokalpolitisches Bekenntnis zu den Kulturakteuren und – so die Hoffnung – ein dauerhaftes finanzielles Engagement für sie zu erwirken. Auch die Bundesprogramme TRAFO und Aller.Land setzen mit mehrjährigen Förderungen ländlicher Regionen auf diese Aktivierung kommunaler Ressourcen. Sie haben unbestritten kulturpolitische Reflexions- und Entwicklungsprozesse angestoßen, sowohl auf regionaler als auch auf Landesebene. Die Verstetigung gerade in finanz- und strukturschwachen Regionen, die diese kulturellen Akteure besonders brauchen, bleibt jedoch weiterhin eine Herausforderung.