Als der „Spiegel“ am 12. Oktober 2024 zur Frankfurter Buchmesse einen Kanon von 100 Romanen aus 100 Jahren veröffentlichte,
Drei Tage später befasste sich mit Ellen Kositza auch die prominenteste Literaturkritikerin der Neuen Rechten mit der „Spiegel“-Liste. Im Podcast „Am Rande der Gesellschaft“ kommt sie – gemeinsam mit ihrem Ehemann Götz Kubitschek sowie Erik Lehnert und dem AfD-Politiker Hans-Christoph Berndt – zu dem Schluss, dass es einen Gegenkanon braucht, der einen dezidiert „deutschen Standpunkt“ (Kubitschek) vertritt.
Wer heute „100 Jahre 100 Romane“ googelt, bekommt als zweiten Treffer den Antaios-Verlag angezeigt und mitgeteilt, dass dort die „Spiegel“-Liste „gesichtet und eine bessere danebengesetzt wurde“.
Kanonarbeit ist davon ein fester Bestandteil. Allein im Blog der „Sezession“ und im Antaios-Verlag sind seit 2009 zehn Lektürelisten veröffentlicht worden, die von der Kinderliteratur über deutschsprachige Lyrik bis zu Romanen der Weltliteratur reichen.
„Kulturelle Notwehr“. Zur Legitimierung neurechter Kanones
Rhetorische Grundlage neurechter Kanonarbeit ist die Behauptung, dass bestehende Kanones linksliberal, also primär ideologisch ausgerichtet seien. In einer 2022/23 in der „Sezession“ veröffentlichten sechsteiligen Artikelreihe zur Nachkriegsliteratur will der Literaturwissenschaftler Günter Scholdt einen „systematisch betriebenen metapolitischen Prozeß“ nachweisen, „der die Voraussetzung für den gegenwärtigen Bildungskanon und unser heute gängiges literarisches Geschichtsbild schuf“.
„Daß die deutsche Literatur nach NS- und Besatzungsherrschaft wieder aus der Politisierung entlassen wurde, ist eine Halbwahrheit. Denn die Befreiung von der offiziellen Zensur mündete bald in eine kommodere, aber letztlich kaum weniger bindende für alle, die Erfolg haben wollten oder wenigstens unbehelligt zu bleiben wünschten.“
Auffällig ist die geräuschlose Überblendung von Nationalsozialismus, alliierter Besatzung und Bundesrepublik, denen ein Unfreiheitskontinuum attestiert wird (in der „kommoderen Zensur“ klingt zudem die Rede von der DDR als einer „kommoden Diktatur“ an). Scholdts Kanonreflexion ist ein Paradebeispiel dafür, dass die neurechte Literaturgeschichtsschreibung stets eine „Doppelfunktion“ erfüllt, indem sie auf die „Etablierung eines Gegenkanons und auf die Popularisierung geschichtsrelativierender bzw. -revisionistischer Denkfiguren“
Humanismus und Rücksichtslosigkeit. Paradoxien neurechter Literaturpolitik
In neurechten Leselisten werden literarische Texte in der Regel nicht nur genannt, sondern auch kommentiert. Auffällig ist, dass diese Kommentare in zwei unterschiedliche ideologische Richtungen weisen. Auf der einen Seite wird der literarischen Bildung „im humanistischen Sinne“ und im Hinblick auf eine volle „Entfaltung der Persönlichkeit“
Ganz anders ausgerichtet sind die elliptischen Kommentare in der 2009 veröffentlichten „Lektüre-Liste 1: Romane“. Kubitschek bringt sein aus diesen Romanen abgeleitetes inneres „Koordinatensystem“ darin auf Begriffe wie „Dienst, Demut und preußischer Geist“, „Entschlossenheit“, „Laufschritt, Rücksichtslosigkeit“ und feiert „die Gnade, handeln zu dürfen, die Gnade der Aufopferung“.
Funktional ist diese für das gesamte Weltbild der Neuen Rechten charakteristische Widersprüchlichkeit insofern, als sie eine im Einzeltext zwar selektive, in der Kombination aber enorm breite Anschlussfähigkeit herstellt.
Die neurechte Kanonarbeit setzt mit diesem Spagat zwei der in Kubitscheks Augen wichtigsten metapolitischen Komplementärstrategien um: einerseits „in Grenzbereiche des gerade noch Sagbaren (…) provozierend vorzustoßen“ (und faschismusaffine Texte zu empfehlen), andererseits eine ausdrücklich als solche benannte „Selbstverharmlosung“ (als humanistisch Lesende) zu betreiben, um Sympathiegewinne zu erzielen und die „emotionale Barriere“
Kaperung und Korrektur. Der Gegenkanon
Der Gegenkanon „100 Jahre, 100 Romane“ vereint beide Strategien. Er will den Kontakt zum bildungsbürgerlichen Kanon halten und diesen zugleich ideologisch nach rechts verschieben. Dabei kommen in Bezug auf existierende Kanones zwei Leittaktiken zum Einsatz: die Kaperung, bei der bereits kanonisierte Texte ideologisch vereinnahmt werden, sowie die Korrektur, also das Tilgen und Ersetzen kanonisierter Werke, und zwar fast durchweg im Dienst einer neurechten Programmatik.
Die Kaperungstaktik wird in der Liste der 100 Romane insbesondere in den ersten Jahrgängen, also in der Zeit der Weimarer Republik, genutzt. Hier weist der Gegenkanon zumindest im Hinblick auf die berücksichtigten Autor:innen weitgehende Übereinstimmungen mit der „Spiegel“-Liste auf: Die ersten Autoren sind Thomas Mann, Franz Kafka und Arthur Schnitzler. Ein prototypisches Beispiel der Kaperung ist Kubitscheks Kommentierung von Kafkas „Prozeß“:
„Gegen die Verfügung Kafkas entschied der Nachlaßverwalter Max Brod, die Manuskripte zu veröffentlichen. Bedenken Sie bitte, wie jemand Kafkas Roman noch einmal neu und anders lesen muß, nachdem er in die Mühlen der Justiz geriet und im anonymen Verwaltungsstaat von Tür zu Tür irrt, ohne jemals jemanden anzutreffen, der nicht nur ein Rädchen ist, sondern umfänglich Bescheid weiß. ‚Mauer aus Kautschuk‘ hat Armin Mohler das genannt: keinen Hebelpunkt finden können …“.
Der Kommentar konzentriert sich auf die Rezeption des Romans und läuft dabei auf den selbsterklärten Faschisten Armin Mohler zu, den wichtigsten Vordenker der Neuen Rechten. Die explizite Leseempfehlung (Kafka) wird also mit einer impliziten (Mohler) verkoppelt. Mohlers Rede von einer „Mauer aus Kautschuk“ gehört zu den Lieblingszitaten der „Sezessions“-Autoren und wird immer dort aufgerufen, wo man der liberalen Demokratie eine Immunisierung gegenüber rechter Kritik vorwirft und eine Parallelisierung von DDR und BRD vornimmt.
Bei der ideologischen Eingemeindung Kafkas handelt es sich um eine Variante der von Kubitschek neben Diskursverschiebung und Selbstverharmlosung als dritte metapolitische Strategie empfohlenen „Verzahnung“. Ist damit eigentlich gemeint, einen neurechten Gedanken dadurch sagbar zu machen, dass man auf unbedenkliche „Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten oder wenigstens etwas Ähnliches“,
Schon die Vereinnahmung nicht-rechter Kanones geht mit korrigierenden Eingriffen einher. So findet sich in Kubitscheks Monatsgedichten oder seiner ersten „Roman-Liste“ von 2009 keine einzige Autorin. Die Liste „Hundert Jahre, hundert Romane“ enthält zwar auch Autorinnen, reduziert deren Anteil aber von 31 Prozent im „Spiegel“-Kanon auf unter 10 Prozent – ein erstes Ziel der neurechten Korrektur des Kanons besteht in dessen Vermännlichung.
Zweitens fällt auf, dass sich der historische Schwerpunkt deutlich verschoben hat. Während im „Spiegel“ für die Jahre 1933 bis 1945 nur vier Romane genannt werden, listet der Gegenkanon hier 22 Texte. Bemerkenswert ist das auch insofern, als von neurechter Seite der offiziellen Erinnerungspolitik sowie den Medien regelmäßig eine überproportionale Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus vorgeworfen wird (so auch in der berühmten Metapher Alexander Gaulands, der NS sei nur ein „Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“). Im Kanonvergleich gilt das Gegenteil: Keiner anderen Periode schenkt die Sezessionsliste eine mit den Jahren 1933–1945 vergleichbare Beachtung. Offensichtlich soll die Zeit des Nationalsozialismus nicht (mehr) bagatellisiert, sondern umgedeutet werden.
Das gilt zum einen im Hinblick auf die Biografien der aufgenommenen Personen. Haben die auf der „Spiegel“-Liste für 1933 bis 1945 genannten Autor:innen allesamt außerhalb Deutschlands geschrieben, verzeichnet der Gegenkanon in der überwiegenden Mehrheit Personen, die sich rückblickend der „Inneren Emigration“ zurechneten, sich also auf unterschiedliche Weise mit den Lebensverhältnissen im NS arrangierten. Darüber hinaus enthält die Liste mehrere Autoren, die sich emphatisch zum NS bekannten (etwa Arnolt Bronnen), dessen Kulturpolitik in hohen Funktionen mitgestalteten (Edwin Erich Dwinger), Lobgedichte auf Hitler verfassten (Gerd Gaiser) oder die Propagandamedien belieferten (Joachim Fernau). In der Kommentierung wird dies in der Regel verschwiegen – und wo Ellen Kositza die NS-Verstrickung von Autoren doch erwähnt (zum Beispiel bei James Krüss), geschieht dies in enger Verbindung mit einem besonders emphatischen Lob ihrer davon offensichtlich unberührten literarischen Qualitäten. Unverkennbar ist das Bemühen, Autor:innen wieder kanon- und salonfähig zu machen, die ihr Leben und/oder Schreiben in den Dienst des Nationalsozialismus stellten.
Mit der Fokussierung der Jahre 1933–45 geht auch eine thematische Schwerpunktsetzung einher. Auffällig viele Texte verhandeln Kriegserlebnisse und haben Soldaten als Protagonisten, auf der gesamten Liste ist es knapp ein Viertel. Wie wichtig es zum Beispiel Erik Lehnert ist, dass in der Auswahl „ein Loblied auf den anständigen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs“ enthalten ist, zeigt seine Entscheidung für den Roman „08/15“ des frühen NS-Anhängers Hans Hellmut Kirst: Wenn Lehnert selbst eingesteht, dass es sich hier bloß um „[g]ehobene Unterhaltungsliteratur“
Geschichtspolitisch motiviert ist auch eine dritte, und zwar lokale Schwerpunktsetzung der Liste. Während im „Spiegel“-Kanon in sechs Romanen prominent Migrationserfahrungen verhandelt werden, stehen in 14 Titeln des Gegenkanons ehemalige deutsche Ostgebiete sowie deutsche Fluchtgeschichten der Nachkriegszeit im Zentrum. Zeichnete man eine Landkarte des Gegenkanons, deckte sie recht exakt die Grenzen des Deutschen Reichs vor dem Zweiten Weltkrieg ab. Dieses besondere Interesse an den ehemaligen Ostgebieten ist doppelt motiviert: Zum einen ist die Nicht-Anerkennung des nach der deutschen Kriegsniederlage neugeordneten Europas ein Grundpfeiler (neu-)rechten Denkens seit 1945, zum anderen rücken mit den verlorenen Ostgebieten Flucht und Vertreibung, mithin deutsches Leid ins emotionale Zentrum des Nachkriegskanons.
Im Gegenkanon kommt die Darstellung von Deutschen als Opfern auch darin zum Ausdruck, dass drei der ausgewählten Texte der deutschen Kriegsgefangenschaft und der alliierten Okkupation gewidmet sind – darunter mit „Der Fragebogen“ des Rechtsterroristen Ernst von Salomon ein Roman, der systematisch das US-amerikanische Entnazifizierungsprogramm mit deutschen Konzentrationslagern überblendet.
Spricht aus alldem schon eine an die neurechte Ideologie angepasste Kanonpolitik, enthält die Liste insbesondere im hinteren, sich der Gegenwart annähernden Teil – das ist ihre vierte Schwerpunktsetzung – mehrere Romane, die sich partiell für ein neurechtes Weltbild vereinnahmen oder ausdrücklich der Neuen Rechten zuordnen lassen. An Sophie Dannenbergs „Das bleiche Herz der Revolution“ wird gelobt, dass die Projekte „der 68er“ dort „von Grund auf in Zweifel gezogen“ würden; Matthias Polityckis „Das kann uns keiner nehmen“ sei „einfach ein herzerfrischender, inkorrekter“ Roman; und mit John Hoewers „EuropaPowerbrutal“ ist ein Text aufgenommen, den selbst Ellen Kositza im Kommentar als „rechte[n] Szene-Roman“
„Lies!“ Zur Kombination rechter Partei- und Kanonpolitik
Was sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive damit ad acta legen ließe, kann literaturpolitisch durchaus Wirkungsmacht entfalten, nicht zuletzt in parteipolitischer Hinsicht. Beispielhaft führt das der AfD-Politiker Maximilian Krah vor, der seit Jahren eng in die neurechte Literaturarbeit eingebunden ist und sich 2019 in der Gesprächsreihe „Aufgeblättert. Zugeschlagen. Mit Rechten lesen“ als eloquenter Romanleser präsentieren durfte. Schon vor den beiden neurechten Podcasts meldete sich Krah am 17. Oktober 2024 per Video mit einem eigenen Kanon zu Wort und brachte darin die zentralen Strategien neurechter Literaturpolitik idealtypisch zum Einsatz. Das Video setzt mit einer humanistischen Lesewerbung als Mittel der Selbstverharmlosung und Sympathiegewinnung ein („Lies! Nicht nur Zeit am Computer verdaddeln. Lesen bildet.“)
Vor dem Hintergrund dieses Videos und einer insgesamt zunehmenden Verschmelzung von Meta- und Parteipolitik braucht es keine besondere Prophetie, um die neurechten Kanones als Blaupause für die zukünftige Bildungspolitik der AfD zu begreifen. Dass damit nicht nur das Lesen, sondern auch die Erinnerungspolitik, das nationale Selbstverständnis und die Weltanschauung im Ganzen massiv verändert werden sollen, führt die Liste „Hundert Jahre, hundert Romane“ eindrücklich vor. In der Vergangenheit haben sich Kanones oft als „überraschend programmresistent“
Ob das auch nach den neurechten Kulturkämpfen und angesichts der historisch einmaligen Möglichkeit einer digitalen Entkoppelung literarischer Kanones von den Bildungsinstitutionen noch konstatiert werden kann, ist gegenwärtig eine offene Frage.