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Kaperung und Korrektur | Kulturpolitik | bpb.de

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Kaperung und Korrektur Zum neurechten Kulturkampf mit literarischen Kanones

Torsten Hoffmann

/ 14 Minuten zu lesen

Längst trägt die Neue Rechte ihre Kulturkämpfe auch im literarischen Feld aus und betreibt dabei eine intensive Literaturpolitik. Sie publiziert und rezensiert – und inszeniert sich dabei als „Lesebewegung“. Partei- und Literaturpolitik verschwimmen zusehends.

Als der „Spiegel“ am 12. Oktober 2024 zur Frankfurter Buchmesse einen Kanon von 100 Romanen aus 100 Jahren veröffentlichte, ließ die neurechte Reaktion nicht lange auf sich warten. Der Schriftsteller Volker Zierke, der zusammen mit dem „Jungeuropa“-Verleger Philip Stein den Podcast „Von rechts gelesen“ betreibt, entdeckte vor allem „antideutsche[n] Müll" auf der Liste. In der am 22. Oktober 2024 veröffentlichten Podcastfolge waren Stein und Zierke sich einig, dass in der „lächerlichen Liste“ Bücher ausgewählt wurden, die „Deutschland dekonstruieren sollen“, dass der Kanon das „geheime Deutschland der linksliberalen Kulturelite“ verkörpert. Symptomatisch für neurechte Literaturpolitik ist die Uneinigkeit darüber, wie ein Gegenkanon auszusehen habe. Für Stein ist ein „rechter Literaturkanon (…) ein bildungsbürgerlicher, klassischer Literaturkanon“, der bei Platon beginnt. Dem widerspricht Zierke vehement: Er „hasse ja auch Bildungsbürger“, die er „am liebsten mit einem Messer bedrohen“ würde – die „Scheiße von Platon“ sei nichts als ein „Gehirnfurz“, das müsse „niemand gelesen haben, weil es nichts bringt“. Stein und Zierke explizieren damit die latente Grundspannung neurechter Literaturarbeit: Einerseits will man sich als (einzige) ideologiefreie Kulturalisten präsentieren, andererseits Literatur lancieren, die es politisch „bringt“, weil sich mit ihrer Hilfe der gesellschaftliche Diskurs nach rechts verschieben lässt.

Drei Tage später befasste sich mit Ellen Kositza auch die prominenteste Literaturkritikerin der Neuen Rechten mit der „Spiegel“-Liste. Im Podcast „Am Rande der Gesellschaft“ kommt sie – gemeinsam mit ihrem Ehemann Götz Kubitschek sowie Erik Lehnert und dem AfD-Politiker Hans-Christoph Berndt – zu dem Schluss, dass es einen Gegenkanon braucht, der einen dezidiert „deutschen Standpunkt“ (Kubitschek) vertritt. Die neurechte Antwort auf den „Spiegel“-Kanon wurde kurz darauf im Blog der Zeitschrift „Sezession“ und auf der Webseite von Kubitscheks Antaios-Verlag veröffentlicht.

Wer heute „100 Jahre 100 Romane“ googelt, bekommt als zweiten Treffer den Antaios-Verlag angezeigt und mitgeteilt, dass dort die „Spiegel“-Liste „gesichtet und eine bessere danebengesetzt wurde“. Mithilfe des Kanons wird der vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestufte Verlag also auch dort wahrgenommen, wo man gar nicht nach ihm sucht – zweifellos ein metapolitischer Glücksfall, insofern Aufmerksamkeitsgewinne auch in nicht-rechten Milieus generiert werden. Denn wer das politische System nachhaltig verändern möchte, so die Grundthese neurechter Metapolitik, muss dafür zunächst die Deutungshoheit im kulturellen Raum gewinnen. Längst trägt die Neue Rechte ihre Kulturkämpfe deshalb auch im literarischen Feld aus und betreibt eine intensive Literaturpolitik: Sie publiziert und rezensiert belletristische Texte in diversen Verlagen, Zeitschriften und Blogs, sie widmet der Literatur Beilagen, Podcasts und Videos, veröffentlicht Bücher mit literaturwissenschaftlichem Anspruch, organisiert eigene Literaturmessen und inszeniert sich im Ganzen als „Lesebewegung“.

Kanonarbeit ist davon ein fester Bestandteil. Allein im Blog der „Sezession“ und im Antaios-Verlag sind seit 2009 zehn Lektürelisten veröffentlicht worden, die von der Kinderliteratur über deutschsprachige Lyrik bis zu Romanen der Weltliteratur reichen. Dass man in der Neuen Rechten eine selbsteingestandene „Schwäche für Listen und Kanonbildung“ (Lehnert) hegt, ist insofern funktional, als Kanones – wie die Literaturwissenschaft nachgewiesen hat – von jeher ein „Machtinstrument herrschender Gruppen“ waren und dazu genutzt wurden, „ideelle Programme [zu] realisieren“; auch für die kollektive Erinnerung und Traditionsbildung spielen sie eine zentrale Rolle.

„Kulturelle Notwehr“. Zur Legitimierung neurechter Kanones

Rhetorische Grundlage neurechter Kanonarbeit ist die Behauptung, dass bestehende Kanones linksliberal, also primär ideologisch ausgerichtet seien. In einer 2022/23 in der „Sezession“ veröffentlichten sechsteiligen Artikelreihe zur Nachkriegsliteratur will der Literaturwissenschaftler Günter Scholdt einen „systematisch betriebenen metapolitischen Prozeß“ nachweisen, „der die Voraussetzung für den gegenwärtigen Bildungskanon und unser heute gängiges literarisches Geschichtsbild schuf“. Bei Scholdt liest man:

„Daß die deutsche Literatur nach NS- und Besatzungsherrschaft wieder aus der Politisierung entlassen wurde, ist eine Halbwahrheit. Denn die Befreiung von der offiziellen Zensur mündete bald in eine kommodere, aber letztlich kaum weniger bindende für alle, die Erfolg haben wollten oder wenigstens unbehelligt zu bleiben wünschten.“

Auffällig ist die geräuschlose Überblendung von Nationalsozialismus, alliierter Besatzung und Bundesrepublik, denen ein Unfreiheitskontinuum attestiert wird (in der „kommoderen Zensur“ klingt zudem die Rede von der DDR als einer „kommoden Diktatur“ an). Scholdts Kanonreflexion ist ein Paradebeispiel dafür, dass die neurechte Literaturgeschichtsschreibung stets eine „Doppelfunktion“ erfüllt, indem sie auf die „Etablierung eines Gegenkanons und auf die Popularisierung geschichtsrelativierender bzw. -revisionistischer Denkfiguren“ abzielt. Auf ganz beiläufige Weise werden in Scholdts Essay der Nationalsozialismus relativiert und die bundesdeutsche Demokratie diskreditiert, der man in neurechten Kreisen mantraartig eine „Demokratiesimulation“ und einen „sanften Totalitarismus“ (Martin Sellner) vorwirft. Die literaturpolitische Funktion von Scholdts weiteren Ausführungen liegt darin, eine Phalanx linksliberaler Kanonlenkung zu behaupten, die von Literaturinstitutionen über Gewerkschaften, Hochschulen und den Zentralrat der Juden bis hin zu „Geheimdienstaktivitäten“ reiche. Angesichts dieser vermeintlichen Übermacht soll ein neurechter Gegenkanon als kulturpolitische Notwehr legitimiert werden.

Humanismus und Rücksichtslosigkeit. Paradoxien neurechter Literaturpolitik

In neurechten Leselisten werden literarische Texte in der Regel nicht nur genannt, sondern auch kommentiert. Auffällig ist, dass diese Kommentare in zwei unterschiedliche ideologische Richtungen weisen. Auf der einen Seite wird der literarischen Bildung „im humanistischen Sinne“ und im Hinblick auf eine volle „Entfaltung der Persönlichkeit“ das Wort geredet (so im von Ellen Kositza und Caroline Sommerfeld verfassten Buch „Vorlesen“ von 2019 mit Empfehlungen zur Kinder- und Jugendliteratur). Man stößt hier – wie schon in einer von Kubitschek 2009/10 betriebenen Reihe mit „Monatsgedichten“ – auf Anekdoten aus dem Familienalltag und andere Selbstporträts, die in leuchtenden Komplementärfarben das Bild einer so vielschichtigen wie attraktiven rechten Lebensform entwerfen.

Ganz anders ausgerichtet sind die elliptischen Kommentare in der 2009 veröffentlichten „Lektüre-Liste 1: Romane“. Kubitschek bringt sein aus diesen Romanen abgeleitetes inneres „Koordinatensystem“ darin auf Begriffe wie „Dienst, Demut und preußischer Geist“, „Entschlossenheit“, „Laufschritt, Rücksichtslosigkeit“ und feiert „die Gnade, handeln zu dürfen, die Gnade der Aufopferung“. All dies folgt einer von Kubitschek explizit aufgerufenen „Verhaltenslehre der Kälte“, die der Germanist Helmut Lethen als einen für die Zwischenkriegszeit typischen Männlichkeitshabitus der Härte analysiert hat. Statt auf ein humanistisches trifft man hier auf ein „heroisches Lesen“, das von einem soldatischen Habitus geprägt ist. Radikalisiert wird dieses Lektüremodell im Band „Das Buch im Haus nebenan“ (2020), in dem acht Protagonist:innen der Neuen Rechten von prägenden Lektüren berichten. Das von Kositza und Kubitschek verfasste Vorwort ist schon in seiner Metaphorik antihumanistisch aufgeladen, insofern Bücher mit Waffen und Lektüren mit Gewalterfahrungen assoziiert werden.

Funktional ist diese für das gesamte Weltbild der Neuen Rechten charakteristische Widersprüchlichkeit insofern, als sie eine im Einzeltext zwar selektive, in der Kombination aber enorm breite Anschlussfähigkeit herstellt. Während die Romanliste von 2009 und „Das Buch im Haus nebenan“ eher die eigene Szene adressieren, übernehmen die Monatsgedichte und „Vorlesen“ primär eine Brückenfunktion ins konservative bis liberale Bildungsbürgertum hinein.

Die neurechte Kanonarbeit setzt mit diesem Spagat zwei der in Kubitscheks Augen wichtigsten metapolitischen Komplementärstrategien um: einerseits „in Grenzbereiche des gerade noch Sagbaren (…) provozierend vorzustoßen“ (und faschismusaffine Texte zu empfehlen), andererseits eine ausdrücklich als solche benannte „Selbstverharmlosung“ (als humanistisch Lesende) zu betreiben, um Sympathiegewinne zu erzielen und die „emotionale Barriere“ zu senken, die man in Teilen des Bildungsbürgertums noch gegenüber der Neuen Rechten empfindet.

Kaperung und Korrektur. Der Gegenkanon

Der Gegenkanon „100 Jahre, 100 Romane“ vereint beide Strategien. Er will den Kontakt zum bildungsbürgerlichen Kanon halten und diesen zugleich ideologisch nach rechts verschieben. Dabei kommen in Bezug auf existierende Kanones zwei Leittaktiken zum Einsatz: die Kaperung, bei der bereits kanonisierte Texte ideologisch vereinnahmt werden, sowie die Korrektur, also das Tilgen und Ersetzen kanonisierter Werke, und zwar fast durchweg im Dienst einer neurechten Programmatik.

Die Kaperungstaktik wird in der Liste der 100 Romane insbesondere in den ersten Jahrgängen, also in der Zeit der Weimarer Republik, genutzt. Hier weist der Gegenkanon zumindest im Hinblick auf die berücksichtigten Autor:innen weitgehende Übereinstimmungen mit der „Spiegel“-Liste auf: Die ersten Autoren sind Thomas Mann, Franz Kafka und Arthur Schnitzler. Ein prototypisches Beispiel der Kaperung ist Kubitscheks Kommentierung von Kafkas „Prozeß“:

„Gegen die Verfügung Kafkas entschied der Nachlaßverwalter Max Brod, die Manuskripte zu veröffentlichen. Bedenken Sie bitte, wie jemand Kafkas Roman noch einmal neu und anders lesen muß, nachdem er in die Mühlen der Justiz geriet und im anonymen Verwaltungsstaat von Tür zu Tür irrt, ohne jemals jemanden anzutreffen, der nicht nur ein Rädchen ist, sondern umfänglich Bescheid weiß. ‚Mauer aus Kautschuk‘ hat Armin Mohler das genannt: keinen Hebelpunkt finden können …“.

Der Kommentar konzentriert sich auf die Rezeption des Romans und läuft dabei auf den selbsterklärten Faschisten Armin Mohler zu, den wichtigsten Vordenker der Neuen Rechten. Die explizite Leseempfehlung (Kafka) wird also mit einer impliziten (Mohler) verkoppelt. Mohlers Rede von einer „Mauer aus Kautschuk“ gehört zu den Lieblingszitaten der „Sezessions“-Autoren und wird immer dort aufgerufen, wo man der liberalen Demokratie eine Immunisierung gegenüber rechter Kritik vorwirft und eine Parallelisierung von DDR und BRD vornimmt. Während man in der DDR von einer Betonmauer eingeschlossen gewesen sei, befinde man sich in der BRD in einer ideologischen Gummizelle, die ein freies Denken noch effektiver verhindere. Weiß man um diesen Kontext, bekommt Kubitscheks Aufforderung, Kafka „neu und anders“ zu lesen, eine unmissverständliche ideologische Stoßrichtung, nämlich Kafka nicht mehr nur bürokratie-, sondern auch demokratiekritisch zu deuten. Symptomatisch ist das Verfahren insofern, als die Neue Rechte eine „Erzählgemeinschaft“ (Felix Schilk) darstellt, der es darauf ankommt, ihre politischen „Narrationen in andere Diskursfelder zu transportieren und dort zu verstetigen“.

Bei der ideologischen Eingemeindung Kafkas handelt es sich um eine Variante der von Kubitschek neben Diskursverschiebung und Selbstverharmlosung als dritte metapolitische Strategie empfohlenen „Verzahnung“. Ist damit eigentlich gemeint, einen neurechten Gedanken dadurch sagbar zu machen, dass man auf unbedenkliche „Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten oder wenigstens etwas Ähnliches“, wird hier umgekehrt Kafka so mit neurechten Gedanken verknüpft, dass er als deren scheinbarer Kronzeuge auftritt. Ausdrücklich bekennt sich Kubitschek dazu, „einen Roman nach dem andern und ein zentrales Werk nach dem andern für uns [zu] vereinnahmen, aus rechter Sicht [zu] lesen und daraus das [zu] machen, was man eine Rückeroberung oder Reconquista an der Universität nennen sollte“. Umgesetzt werden soll dies unter anderem von der 2023 ins Leben gerufenen „Aktion 451“, die sich die Gründung studentischer Lesekreise zum Ziel gesetzt hat.

Schon die Vereinnahmung nicht-rechter Kanones geht mit korrigierenden Eingriffen einher. So findet sich in Kubitscheks Monatsgedichten oder seiner ersten „Roman-Liste“ von 2009 keine einzige Autorin. Die Liste „Hundert Jahre, hundert Romane“ enthält zwar auch Autorinnen, reduziert deren Anteil aber von 31 Prozent im „Spiegel“-Kanon auf unter 10 Prozent – ein erstes Ziel der neurechten Korrektur des Kanons besteht in dessen Vermännlichung.

Zweitens fällt auf, dass sich der historische Schwerpunkt deutlich verschoben hat. Während im „Spiegel“ für die Jahre 1933 bis 1945 nur vier Romane genannt werden, listet der Gegenkanon hier 22 Texte. Bemerkenswert ist das auch insofern, als von neurechter Seite der offiziellen Erinnerungspolitik sowie den Medien regelmäßig eine überproportionale Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus vorgeworfen wird (so auch in der berühmten Metapher Alexander Gaulands, der NS sei nur ein „Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“). Im Kanonvergleich gilt das Gegenteil: Keiner anderen Periode schenkt die Sezessionsliste eine mit den Jahren 1933–1945 vergleichbare Beachtung. Offensichtlich soll die Zeit des Nationalsozialismus nicht (mehr) bagatellisiert, sondern umgedeutet werden.

Das gilt zum einen im Hinblick auf die Biografien der aufgenommenen Personen. Haben die auf der „Spiegel“-Liste für 1933 bis 1945 genannten Autor:innen allesamt außerhalb Deutschlands geschrieben, verzeichnet der Gegenkanon in der überwiegenden Mehrheit Personen, die sich rückblickend der „Inneren Emigration“ zurechneten, sich also auf unterschiedliche Weise mit den Lebensverhältnissen im NS arrangierten. Darüber hinaus enthält die Liste mehrere Autoren, die sich emphatisch zum NS bekannten (etwa Arnolt Bronnen), dessen Kulturpolitik in hohen Funktionen mitgestalteten (Edwin Erich Dwinger), Lobgedichte auf Hitler verfassten (Gerd Gaiser) oder die Propagandamedien belieferten (Joachim Fernau). In der Kommentierung wird dies in der Regel verschwiegen – und wo Ellen Kositza die NS-Verstrickung von Autoren doch erwähnt (zum Beispiel bei James Krüss), geschieht dies in enger Verbindung mit einem besonders emphatischen Lob ihrer davon offensichtlich unberührten literarischen Qualitäten. Unverkennbar ist das Bemühen, Autor:innen wieder kanon- und salonfähig zu machen, die ihr Leben und/oder Schreiben in den Dienst des Nationalsozialismus stellten.

Mit der Fokussierung der Jahre 1933–45 geht auch eine thematische Schwerpunktsetzung einher. Auffällig viele Texte verhandeln Kriegserlebnisse und haben Soldaten als Protagonisten, auf der gesamten Liste ist es knapp ein Viertel. Wie wichtig es zum Beispiel Erik Lehnert ist, dass in der Auswahl „ein Loblied auf den anständigen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs“ enthalten ist, zeigt seine Entscheidung für den Roman „08/15“ des frühen NS-Anhängers Hans Hellmut Kirst: Wenn Lehnert selbst eingesteht, dass es sich hier bloß um „[g]ehobene Unterhaltungsliteratur“ handele, haben offensichtlich nicht ästhetische, sondern geschichtspolitische Gründe den Ausschlag für den Roman gegeben. Das Wort „Kriegsverbrechen“ kommt im Gegenkanon folgerichtig nur in Bezug auf das Agieren „der Amerikaner im 2. Weltkrieg“ vor (so Kubitscheks Kommentar zu Steffen Kopetzkys „Propaganda“).

Geschichtspolitisch motiviert ist auch eine dritte, und zwar lokale Schwerpunktsetzung der Liste. Während im „Spiegel“-Kanon in sechs Romanen prominent Migrationserfahrungen verhandelt werden, stehen in 14 Titeln des Gegenkanons ehemalige deutsche Ostgebiete sowie deutsche Fluchtgeschichten der Nachkriegszeit im Zentrum. Zeichnete man eine Landkarte des Gegenkanons, deckte sie recht exakt die Grenzen des Deutschen Reichs vor dem Zweiten Weltkrieg ab. Dieses besondere Interesse an den ehemaligen Ostgebieten ist doppelt motiviert: Zum einen ist die Nicht-Anerkennung des nach der deutschen Kriegsniederlage neugeordneten Europas ein Grundpfeiler (neu-)rechten Denkens seit 1945, zum anderen rücken mit den verlorenen Ostgebieten Flucht und Vertreibung, mithin deutsches Leid ins emotionale Zentrum des Nachkriegskanons.

Im Gegenkanon kommt die Darstellung von Deutschen als Opfern auch darin zum Ausdruck, dass drei der ausgewählten Texte der deutschen Kriegsgefangenschaft und der alliierten Okkupation gewidmet sind – darunter mit „Der Fragebogen“ des Rechtsterroristen Ernst von Salomon ein Roman, der systematisch das US-amerikanische Entnazifizierungsprogramm mit deutschen Konzentrationslagern überblendet. Bezeichnend ist, dass der Shoah mit Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ nur ein einziger Text gewidmet ist, der zudem als einer von wenigen unkommentiert bleibt. Selbst „Trivialliteratur“ wird dagegen dort aufgenommen, wo sie, wie Harry Thürks „Sommer der toten Träume“, „die Behandlung der Deutschen durch Russen und Polen zwischen Kriegsende und Vertreibung“ auf zur neurechten Weltsicht passende Weise verhandelt. Die von Björn Höcke eingeforderte „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ ist im neurechten Kanon bereits Realität: Die Erinnerung an NS und Zweiten Weltkrieg ist vor allem deutscher „Anständigkeit“ und deutschem Leid gewidmet, während deutsche Täterschaft und die Shoah fast bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert werden.

Spricht aus alldem schon eine an die neurechte Ideologie angepasste Kanonpolitik, enthält die Liste insbesondere im hinteren, sich der Gegenwart annähernden Teil – das ist ihre vierte Schwerpunktsetzung – mehrere Romane, die sich partiell für ein neurechtes Weltbild vereinnahmen oder ausdrücklich der Neuen Rechten zuordnen lassen. An Sophie Dannenbergs „Das bleiche Herz der Revolution“ wird gelobt, dass die Projekte „der 68er“ dort „von Grund auf in Zweifel gezogen“ würden; Matthias Polityckis „Das kann uns keiner nehmen“ sei „einfach ein herzerfrischender, inkorrekter“ Roman; und mit John Hoewers „EuropaPowerbrutal“ ist ein Text aufgenommen, den selbst Ellen Kositza im Kommentar als „rechte[n] Szene-Roman“ kategorisiert – und damit jede literaturgeschichtliche Repräsentativität aufgibt.

„Lies!“ Zur Kombination rechter Partei- und Kanonpolitik

Was sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive damit ad acta legen ließe, kann literaturpolitisch durchaus Wirkungsmacht entfalten, nicht zuletzt in parteipolitischer Hinsicht. Beispielhaft führt das der AfD-Politiker Maximilian Krah vor, der seit Jahren eng in die neurechte Literaturarbeit eingebunden ist und sich 2019 in der Gesprächsreihe „Aufgeblättert. Zugeschlagen. Mit Rechten lesen“ als eloquenter Romanleser präsentieren durfte. Schon vor den beiden neurechten Podcasts meldete sich Krah am 17. Oktober 2024 per Video mit einem eigenen Kanon zu Wort und brachte darin die zentralen Strategien neurechter Literaturpolitik idealtypisch zum Einsatz. Das Video setzt mit einer humanistischen Lesewerbung als Mittel der Selbstverharmlosung und Sympathiegewinnung ein („Lies! Nicht nur Zeit am Computer verdaddeln. Lesen bildet.“) und kulminiert in einer Diskursverschiebung nach Rechtsaußen, wenn am Ende dezidierte Kaufempfehlungen für Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“ und John Hoewers „EuropaPowerbrutal“ gegeben werden, also für zwei neurechte Texte, die in den beiden wichtigsten rechtsextremen Verlagen Antaios und Jungeuropa erschienen und auch auf den Hundert-Romanen-Kanones des Antaios-Verlags gelistet sind.

Vor dem Hintergrund dieses Videos und einer insgesamt zunehmenden Verschmelzung von Meta- und Parteipolitik braucht es keine besondere Prophetie, um die neurechten Kanones als Blaupause für die zukünftige Bildungspolitik der AfD zu begreifen. Dass damit nicht nur das Lesen, sondern auch die Erinnerungspolitik, das nationale Selbstverständnis und die Weltanschauung im Ganzen massiv verändert werden sollen, führt die Liste „Hundert Jahre, hundert Romane“ eindrücklich vor. In der Vergangenheit haben sich Kanones oft als „überraschend programmresistent“ erwiesen.

Ob das auch nach den neurechten Kulturkämpfen und angesichts der historisch einmaligen Möglichkeit einer digitalen Entkoppelung literarischer Kanones von den Bildungsinstitutionen noch konstatiert werden kann, ist gegenwärtig eine offene Frage.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Spiegel-Literaturkanon. Die besten 100 Bücher aus 100 Jahren, 13.10.2024, Externer Link: https://www.spiegel.de/a-e1e74cd7-9cd8-4743-9334-1622cab3ddb4.

  2. Volker Zierke, Tweet vom 14.10.2024, Externer Link: https://x.com/VolkerZierke/status/1845775698302026200.

  3. Von rechts gelesen, 114, 22.10.2024, Externer Link: https://blog.jungeuropa.de/blog/2024/10/22/der-rechte-literaturkanon. Allgemein zu diesem Podcast: Kevin Kempke, Gefühlt rechts. Neurechte Lesekrisen und die Literaturpolitik des Jungeuropa-Podcasts „Von rechts gelesen“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) 4/2024, S. 685–701.

  4. Von rechts gelesen (Anm. 3).

  5. Ebd.

  6. Am Rande der Gesellschaft, 42, 25.10.2024, Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=kTgF_hGlpJg.

  7. Hundert Jahre, hundert Romane, Externer Link: https://antaios.de/buecherschraenke/schoene-literatur.

  8. Vgl. Erika Thomalla, Neurechte Verlagspolitik, in: DVjs 4/2024, S. 639–659.

  9. Jonas Meurer, Lob der Lektüre. Die Neue Rechte als Lesebewegung, in: Steffen Pappert et al. (Hrsg.), Skandalisieren, stereotypisieren, normalisieren. Diskurspraktiken der Neuen Rechten aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive, Hamburg 2021, S. 195–215. Einen Überblick zur expandierenden Forschung enthält das Themenheft „Neurechte Literatur und Literaturpolitik“, DVjs 4/2024.

  10. Kubitschek eröffnete 2009 im Blog der „Sezession“ eine Reihe von „Monatsgedichten“ und veröffentlichte im gleichen Jahr Lektürelisten zu Romanen (I und II), Erzählungen und Jugendbüchern, später folgten Bücher mit Lektüreempfehlungen zur Weltliteratur (Günter Scholdt, Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen, Schnellroda 2017), zur Kinder- und Jugendliteratur (Ellen Kositza/Caroline Sommerfeld, Vorlesen, Schnellroda 2019) sowie ein Band zu Lieblingstexten neurechter Aktivist:innen (Ellen Kositza/Götz Kubitschek (Hrsg.), Das Buch im Haus nebenan, Schnellroda 2020). Auf die 2024 unter Externer Link: https://www.sezession.de in drei Teilen veröffentlichte Liste deutschsprachiger Romane folgte 2025 am selben Ort eine Liste internationaler Romane, wiederum in Reaktion auf einen „Spiegel“-Kanon.

  11. Am Rande der Gesellschaft (Anm. 6).

  12. Gabriele Rippl/Simone Winko, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart–Weimar 2013, S. 1–5, hier S. 1.

  13. Bernd Auerochs, Kanon, in: Günther Schweikle/Irmgard Schweikle (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 2007, S. 372f., hier S. 372.

  14. Günter Scholdt, Nachkriegsliteratur 1 – Von der Problematik des Wertens, in: Sezession 107/2022, S. 54–57, hier S. 54.

  15. Ders., Nachkriegsliteratur 6 – Eine Bilanz in zehn Punkten, in: Sezession 112/2023, S. 56–60, hier S. 56.

  16. Jens Krumeich/Sandra Schell, Breiter Kanon von rechts?, in: DVjs 4/2024, S. 535–555, hier S. 553.

  17. Martin Sellner, Regime Change von rechts, Schnellroda 2023, S. 174.

  18. Scholdt (Anm. 15), S. 58.

  19. Kositza/Sommerfeld (Anm. 10), S. 10.

  20. Vgl. Nicola Gess, Rechts erziehen. Neurechte Literaturpädagogik im Antaios-Umfeld, in: DVjs 4/2024, S. 579–600.

  21. Vgl. Torsten Hoffmann, Ästhetischer Dünger. Neurechte Literaturpolitik, in: DVjs 2/2021, S. 219–254, hier S. 244f.

  22. Götz Kubitschek, Lektüre-Liste 1: Romane, 26.2.2009, Externer Link: https://sezession.de/1354.

  23. Ebd.; vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994.

  24. Torsten Hoffmann/Kevin Kempke, Ernstfall und Schwächeanfall. Zu den Ambivalenzen neurechter Literaturpolitik, 8.3.2022, Externer Link: https://pop-zeitschrift.de/2022/03/08/ernstfallundschwaechefall.

  25. Vgl. Felix Heidenreich, Ideologische Verwirrung. Zur rechtsextremen Inszenierung von Intellektualität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2024, S. Z 4.

  26. Götz Kubitschek, Selbstverharmlosung, in: Sezession 76/2017, S. 26ff., hier S. 27f.

  27. Hundert Jahre, hundert Romane – 1924 bis 1945, 14.11.2024, Externer Link: https://sezession.de/69783.

  28. Mohler hat den Ausdruck mehrfach verwendet, vgl. u.a. Armin Mohler, Liberalenbeschimpfung. Sex und Politik. Der faschistische Stil. Drei politische Traktate, Essen 1990, S. 5. Zitiert wird er auf Externer Link: https://www.sezession.de u.a. in Texten von Benedikt Kaiser, Erik Lehnert und Martin Lichtmesz. Zu Mohlers Literaturpolitik vgl. Nicolai Busch, Von Frankreich lernen. Literaturpolitik, Netzwerke und Zeitschriften der deutsch-französischen Neuen Rechten um Armin Mohler seit 1950, in: DVjs 4/2024, S. 499–520.

  29. Felix Schilk, Die Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten. Zur politischen Soziologie konservativer Krisennarrative, Bielefeld 2024, S. 167.

  30. Kubitschek (Anm. 26), S. 28.

  31. Ders., Rede an der Universität Wien, 18.11.2023, Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=dBEQGWZJkmA.

  32. Vgl. Nicolai Busch/Torsten Hoffmann/Kevin Kempke, Neurechte Literatur und Literaturpolitik, in: DVjs 4/2024, S. 467–477.

  33. Hundert Jahre, hundert Romane – 1946 bis 1989, 19.11.2024, Externer Link: https://sezession.de/69787.

  34. Vgl. Anna Kuhn, Hundert Bücher für ein anderes Deutschland, 23.9.2025, Externer Link: https://pop-zeitschrift.de/2025/09/23/hundert-buecher.

  35. Hundert Jahre, hundert Romane – 1990 bis 2024, 26.11.2024, Externer Link: https://sezession.de/69811.

  36. Vgl. Torsten Hoffmann/Kevin Kempke, Nivellierungsarbeit. Zur neurechten Rezeption von Ernst von Salomons „Der Fragebogen“ (1951), in: Jens Krumeich/Sandra Schell (Hrsg.), Entnazifizierung und Reeducation. Kultur- und literaturgeschichtliche Perspektiven, Berlin–Boston 2025, S. 543–561. Dass in neurechter Literatur auch mit dem Rechtsterrorismus des 21. Jahrhunderts kokettiert wird, zeigt Alexander Fischer, Die Zeitschrift Tumult und ihre Inszenierung des „Selbstdenkens“, in: DVjs 4/2024, S. 661–683.

  37. Hundert Jahre, hundert Romane (Anm. 35).

  38. Ebd.

  39. Deutschland Kurier, Tweet vom 17.10.2024, Externer Link: https://x.com/Deu_Kurier/status/1846974891511185463.

  40. Auerochs (Anm. 13), S. 372.

  41. Für Anregungen danke ich Peter Felle, Alexander Fischer, Kevin Kempke, Sara Kimmich und Sara Öz.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Torsten Hoffmann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart und leitet das DFG-Projekt "Neurechte Literaturpolitik".