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Trump 2.0 und die Abkehr von der Liberalen Internationalen Ordnung

Tim Heinkelmann-Wild

/ 16 Minuten zu lesen

Unter Trump und seiner „America First“-Politik fordern die USA die Liberale Internationale Ordnung heraus. In der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatte gibt es viele Annahmen darüber, was daraus folgt – einige dieser Annahmen sind jedoch falsch.

Unter Präsident Donald Trump fordern die USA die Liberale Internationale Ordnung (LIO) heraus, als deren Gründerin und Verfechterin sie bislang galten. Die LIO ist in ihren Verfahren dem offenen, inklusiven Multilateralismus sowie in ihrer Substanz dem politischen und wirtschaftlichen Liberalismus verpflichtet. In den ersten Wochen seiner zweiten Amtszeit attackierte Trump zahlreiche multilaterale Institutionen wie internationale Organisationen (IO) und Abkommen, welche die Werte der LIO verkörpern. So kritisierte er die NATO und stellte deren Beistandspflicht infrage. Die USA setzten Zölle und protektionistische Politiken in Verachtung der Freihandelsregeln der Welthandelsorganisation (WTO) ein und blockierten die Ernennung neuer Richterinnen und Richter für deren Gerichtssystem. Trump kürzte auch die Finanzierung für multilaterale Entwicklungshilfe, unter anderem für die Projekte zahlreicher Institutionen der Vereinten Nationen und fror alle Beiträge für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ein. Schließlich ordnete Trump eine grundlegende Überprüfung der US-Unterstützung für und Beteiligung an allen multilateralen Institutionen an und beendete umgehend die Mitgliedschaft der USA in der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Pariser Klimaabkommen und dem UN-Menschenrechtsrat. Bei Verfechterinnen und Verfechtern der LIO schürt Trump daher große Sorgen um die Zukunft des Multilateralismus, und es ist sogar die Rede vom „Tod der Amerika-gemachten Welt.“

Welche Attacken auf multilaterale Institutionen sind von Trump 2.0 noch zu erwarten? Wie werden sich diese auf die LIO auswirken? Und wie sollten Deutschland und Europa auf Trump 2.0 reagieren? Orientierung bei der Beantwortung dieser Fragen liefert ein systematischer Blick auf frühere Fälle der Abkehr der USA von der LIO. Die historisch-vergleichende Analyse erlaubt es, vier in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatte weitverbreitete Annahmen über Trumps „America First“-Politik und ihre Auswirkungen zu korrigieren: Erstens ist der Rückzug der USA aus multilateralen Institutionen kein vollkommen neues, Trump-spezifisches Phänomen, sondern Teil eines historischen Musters. Zweitens waren die Entscheidungen zur Beendigung der US-Unterstützung für multilaterale Institutionen unter Trump bislang nicht irrational oder erratisch, sondern folgten einem strategischen Kalkül. Drittens sind die von den USA verlassenen Institutionen keineswegs zum Scheitern verurteilt, sondern haben sich schon oft als resilient erwiesen. Und viertens wurde das von den USA bei früheren Vorgängen dieser Art hinterlassene Machtvakuum nicht von revisionistischen Mächten wie China oder Russland gefüllt, sondern häufig von anderen westlichen Mächten und insbesondere von der EU und ihren Mitgliedstaaten.

Kein Trump-Phänomen

Ein erster, weitverbreiteter Mythos lautet: Der Rückzug der USA aus multilateralen Institutionen ist eine Besonderheit der Trump-Ära. Beobachterinnen und Beobachter sprachen beispielsweise von Trumps „Austritts-Doktrin“ und seinem prinzipiellen „Rückzug vom Multilateralismus“. In der Tat hat bereits die erste Trump-Administration (2017–2021) die Unterstützung der USA für 19 internationale Organisationen und Abkommen beendet. Prominente Beispiele sind das Pariser Klimaabkommen, der sogenannte Iran-Deal (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA), der UN-Menschenrechtsrat sowie die WTO und WHO während der COVID-19-Pandemie. In seiner zweiten Amtszeit setzt Trump diesen Kurs fort.

Doch der Rückzug der USA aus multilateralen Institutionen ist kein Trump-spezifisches, sondern ein breiteres Phänomen. Denn ihre besondere Stellung als Hegemonialmacht erlaubte den USA nicht nur ihren außerordentlichen Einsatz für die LIO in der Vergangenheit, sondern auch ihre wiederholte Abkehr von unliebsam gewordenen Institutionen. Hegemonie bezeichnet hierbei den „Vorrang“ oder die „Vorherrschaft“ unter den Mitgliedern einer Ordnung und nicht die umfassende Kontrolle dieser. Hegemonialmächte sind aufgrund ihrer Vormachtstellung in einer besonders vorteilhaften Position, um internationale Ordnungen und die ihnen zugrunde liegenden Institutionen zu schaffen und zu erhalten. Hegemonialmächte können sich dabei auf die Überzeugungs- und Anziehungskraft ihrer Soft Power stützen und ihre Hard Power als Anreiz oder Zwang einsetzen. Diese Machtdominanz ermöglicht es den Hegemonialmächten aber auch, sich aus „ihren“ Ordnungen und deren Institutionen wieder zurückzuziehen und ihre Ziele auf alternativen Wegen zu erreichen.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beendeten die USA wiederholt ihre Unterstützung für IO und Abkommen. Auch wenn Trump hinsichtlich der Anzahl und der Bedeutung der verlassenen multilateralen Institutionen hervorsticht, finden sich vor seiner ersten Amtszeit 144 weitere Fälle des US-Rückzugs. Zuvor beendeten die USA unter Präsident Jimmy Carter (1977–1981) ihre Mitgliedschaft in der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), unter Präsident Ronald Reagan (1981–1989) in der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) und unter Präsident Bill Clinton (1993–2001) in der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO). Darüber hinaus lehnte Präsident George W. Bush (2001–2009) die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls und des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs ab. Während der zweiten Amtszeit von Präsident Bill Clinton und der ersten Amtszeit von Präsident George W. Bush überstieg die Anzahl der von den USA verlassenen Institutionen mit jeweils 20 Fällen sogar die 19 Fälle der ersten Trump Administration.

Selbst Präsident Joe Biden (2021–2025) folgte seinem Versprechen „America is back“ nur selektiv. Zwar kehrten die USA während seiner Amtszeit in wichtige Institutionen wie in das Pariser Klimaabkommen und in die UNESCO zurück, aber Biden setzte Trumps Politik des Rückzugs aus dem Iran-Deal, dem Transpazifischen Partnerschaftsabkommen (TPP) oder dem Vertrag über den Offenen Himmel (Treaty on Open Skies) fort. Auch die von Trump hinterlassenen Finanzierungslücken für globale Klimafonds wurden nicht wieder vollständig geschlossen. Zudem hielt Biden nicht nur an der WTO-Blockade fest, sondern ergriff auch neue protektionistische Maßnahmen, etwa im Rahmen des milliardenschweren Investitionspakets Inflation Reduction Act. Schließlich kam es auch unter Biden zu drei neuen Fällen der Abkehr der USA von internationalen Abkommen und Organisationen. So hat er wie Trump die Finanzierung des UNRWA beendet. Zudem ratifizierten die USA unter seiner Führung zwei Abkommen nicht, die unter Trump unterzeichnet wurden: das Singapur-Übereinkommen über Mediation sowie ein Protokoll zur Internationalen Konvention zur Erhaltung der Thunfischbestände im Atlantik.

Strategisches Kalkül

Ein zweiter Mythos lautet, dass die Abkehr der USA von multilateralen Institutionen unter Trump chaotisch und nicht nachvollziehbar war und ist. Trump würde seine Angriffe auf IO und Abkommen blindlings eskalieren. Trumps außenpolitische Entscheidungen werden entsprechend als „irrational“, „impulsiv“, „erratisch“, und „unvorhersehbar“ charakterisiert.

In der Tat hat sich noch kein US-Präsident in der Öffentlichkeit so brachial und lautstark gegen den Multilateralismus und seine Prinzipien gestellt. Aber nicht in allen Fällen ließ Trump den Worten auch Taten folgen. In manchen Institutionen blieben seine Attacken auf Reformforderungen und Drohungen begrenzt. In anderen blieben die USA Mitglied, sabotierten diese aber von innen, indem sie Entscheidungen blockierten oder sich nicht mehr an ihre Regeln hielten. Schließlich beendeten die USA ihre Unterstützung für manche Institutionen vollständig und traten aus ihnen aus.

Der Rückzug der USA aus multilateralen Institutionen – auch unter Trump – folgte einem strategischen Kalkül. Während die Unzufriedenheit der USA mit internationalen Organisationen und Abkommen ganz unterschiedliche innenpolitische, institutionelle und machtpolitische Ursachen haben kann, ist für die Frage des Rückzugs aus einer Institution der Einfluss der USA innerhalb dieser entscheidend. Je mehr sich eine unliebsame Institution der Kontrolle der USA entzieht, desto stärker eskalieren sie ihre Angriffe bis zum Austritt.

Selbst der Einfluss von Hegemonialmächten wie den USA über institutionelle Entscheidungen variiert gemäß deren Strukturen und Regeln. So hängt ihre Kontrolle über multilaterale Institutionen von formalen Entscheidungsregeln ab, die in Abkommen oder den Verfahrensregeln für IO festgeschrieben sind. Ihre Gestaltungsmacht ist am größten in Institutionen, in denen Stimmen nach der materiellen Macht gewichtet sind. Einstimmigkeit erschwert Reformen, gewährt aber zugleich auch Verhinderungsmacht gegen unerwünschte Veränderungen. In Institutionen, die nach dem Prinzip „one state, one vote“ entscheiden, ist die Kontrolle von Hegemonialmächten am stärksten begrenzt, da sie hier für jede Initiative Mehrheiten gewinnen müssen und zugleich Mehrheitsentscheidungen nicht verhindern können.

Hegemonialmächte verfügen zudem aufgrund ihrer Machtposition oftmals über informelle Einflussmöglichkeiten in multilateralen Institutionen. Denn diese sind zumeist in besonderem Maße auf deren finanzielle, personelle oder legitimatorische Beiträge angewiesen. Deshalb sind insbesondere Bürokratien von IO oftmals bereit, unzufriedenen Hegemonialmächten dabei zu helfen, formale Entscheidungsregeln zu umgehen, unliebsame Vorschläge von der Agenda fernzuhalten oder über deren Verstöße gegen Normen und Regeln der Institution hinwegzusehen. Insgesamt ist folglich zu erwarten: Je mehr Kontrolle die USA über Institutionen besitzen, desto eher können sie ihre Unzufriedenheit innerhalb der Institution beilegen. Je weniger die USA eine unliebsame Institution kontrollieren können, desto eher werden sie sich aus der Institution zurückziehen.

Unter Trump 1.0 eskalierten die USA ihre Angriffe auf multilaterale Institutionen nicht kopflos, sondern folgten diesem strategischen Kalkül. In Institutionen, in denen die USA über Gestaltungsmacht verfügten, beschränkte sich Trump 1.0 oft auf öffentliche Kritik. Im Falle der Weltbank beispielsweise verstummte Trumps Kritik, nachdem Weltbankpräsident Jim Yong Kim ihm entgegenkam und erklärte, „dass wir, wenn wir es richtig anpacken, das globale Wachstum ankurbeln, Märkte für amerikanische Produkte schaffen und Chancen für amerikanische Unternehmen bieten können“. Kim setzte sich auch für die Einrichtung des sogenannten Ivanka-Fonds ein, der dem Interesse von Trumps Tochter an der Förderung von Unternehmerinnen in Entwicklungsländern entsprach. Ebenso reduzierte die Weltbank nach Trumps Kritik die Kreditvergabe an China, und Ende 2019 machte Kim seinen Platz vorzeitig für den US-Amerikaner David Malpass frei. Ein ähnliches Muster zeigte sich bei Trumps Angriffen auf die NATO: Es blieb lediglich bei Drohungen und Reformforderungen, auf die die Verbündeten und das NATO-Sekretariat prompt mit Zugeständnissen reagierten.

In den Institutionen, in denen die USA zumindest Verhinderungsmacht bei unliebsamen Entscheidungen besitzen, sind sie auch unter Trump 1.0 meist Mitglied geblieben. Ein Beispiel ist die WTO, die Trump zwar grundsätzlich kritisiert, aber nicht verlassen hat. Vielmehr nutzen die USA ihre privilegierte Position, um das Streitschlichtungsverfahren zu blockieren und damit verbindliche Urteile gegen die eigene protektionistische Handelspolitik zu verhindern. Auch ihre ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat gaben die USA unter Trump nicht auf, obwohl sie bei eigenen Initiativen scheiterten, etwa bei der Wiedereinsetzung von UN-Sanktionen gegen Iran. Denn durch ihr Vetorecht konnten sie zumindest missliebige Entscheidungen, beispielsweise gegen Israel, verhindern.

Aus unliebsamen Institutionen, in denen die USA weder Verhinderungs- noch Gestaltungsmacht besaßen und die fortgesetzte Mitgliedschaft ihnen somit kaum Vorteile bot, traten sie in vielen Fällen hingegen aus. Ein Beispiel dafür ist der UN-Menschenrechtsrat, in dem Trump 1.0 unerwünschte Mehrheitsentscheidungen gegen Israel nicht verhindern konnte und deshalb die Teilnahme der USA beendete. Auch im Fall der WHO, in der wichtige Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip oder durch ihre unabhängige Bürokratie getroffen werden, eskalierte Trump seine Angriffe von Kritik über Budgetkürzungen bis hin zum Austritt.

Resiliente Institutionen

Ein dritter Mythos besagt, dass multilaterale Institutionen ohne die Unterstützung der USA zum Scheitern verurteilt sind. So rechnen Beobachterinnen und Beobachter beispielsweise damit, dass der Rückzug der USA aus IO und Abkommen unter Trump „die Grundlagen der LIO erschüttert“ oder sogar zum „Kollaps der sogenannten Liberalen Internationalen Ordnung“ führt.

Tatsächlich fordert die Abkehr der USA multilaterale Institutionen grundsätzlich heraus. Die USA waren an der Gründung der meisten relevanten IO und Abkommen maßgeblich beteiligt und haben in der Folge häufig den größten Beitrag zu ihrem Erfolg geleistet. Ihr Rückzug stellt die Relevanz multilateraler Institutionen und die Gültigkeit ihrer Regeln grundsätzlich infrage und schwächt ihre Effektivität durch den Entzug wichtiger Beiträge. Insofern besteht die reale Gefahr, dass andere Mitgliedstaaten dem Beispiel der USA folgen und ihre Unterstützung für zentrale Institutionen der LIO ebenfalls reduzieren oder ganz einstellen.

Allerdings gibt es für die übrigen Mitgliedstaaten ebenso gute Gründe, an den von den USA verlassenen Institutionen der LIO festzuhalten. Schließlich bestehen die drängenden globalen Herausforderungen wie der Klimawandel, humanitäre Krisen und Pandemien weiter fort, für deren Bewältigung multilaterale Institutionen einst mit großem Aufwand geschaffen wurden. Für weniger mächtige Staaten sind IO und Abkommen dafür zentrale und schwer ersetzbare Instrumente. Es ist daher zu erwarten, dass viele multilaterale Institutionen auch ohne die Unterstützung der USA fortbestehen werden.

Ein systematischer Blick auf die Entwicklung multilateraler Institutionen nach dem Rückzug der USA zwischen 1945 und 2020 zeigt, dass diese bemerkenswert resilient sind. In 32 der 110 (29 Prozent) analysierten Fälle blieb die Unterstützung anderer Staaten für die verlassenen Institutionen stabil. Als Trump 1.0 zum Beispiel den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen verkündete und eine konträre Energiepolitik verfolgte, hielten die übrigen Mitgliedstaaten nicht nur an ihren Verpflichtungen fest, sondern verstärkten ihre Anstrengungen. Als Trump alle US-Beiträge für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) einstellte, blieben andere Mitgliedstaaten der Organisation nicht nur treu, sondern erhöhten ihre Beiträge für die reproduktiven Rechte und Gesundheit von Frauen weltweit. Als widerstandsfähig erwies sich auch die WHO, nachdem Trump zunächst die finanziellen Beiträge der USA zurückhielt und dann die Mitgliedschaft beendete.

Überlebt haben die verlassenen Institutionen auch in 62 weiteren Fällen (56 Prozent), zeigten jedoch Verfallserscheinungen nach dem US-Rückzug. Nachdem Trump 1.0 beispielsweise die Beiträge der USA für das UNRWA einstellte, folgten andere Staaten, und die Organisation musste ihre staatsähnlichen Dienstleistungen für Palästinenserinnen und Palästinenser deutlich einschränken. Auch im Fall des Vertrags über den Waffenhandel (ATT) zeigten andere Staaten nach dem US-Austritt weniger Bereitschaft, sich an die vereinbarten Regeln zu halten.

Nur 16 der 110 Institutionen (15 Prozent) sind nach dem Entzug der US-Unterstützung gescheitert. Zum Beispiel kann der JCPOA als de facto tot angesehen werden, da die Regierung in Teheran der Anreicherung von waffenfähigem Uran heute näher ist als je zuvor. Als die USA aus dem Treaty on Open Skies ausstiegen, der den NATO-Mitgliedern und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Überwachungsflüge über den jeweiligen Hoheitsgebieten erlaubt, kündigte auch Russland die Teilnahme, wodurch der Zweck des Abkommens hinfällig wurde.

Machtvakuum

Ein vierter Mythos behauptet, dass illiberale Mächte wie China oder Russland das von den USA hinterlassene Machtvakuum in multilateralen Institutionen füllen. Laut dieser Annahme übernehmen nach dem US-Rückzug revisionistische Kräfte die Kontrolle und bauen die Institutionen und ihre Regeln nach den eigenen Vorstellungen um. So warnten Beobachterinnen und Beobachter angesichts von Trumps Außenpolitik beispielsweise davor, dass „China und Russland nur gewinnen können“, dass „Trump China in die Hände spielt“ und dass „Beijing sich vorbereitet, seinen Vorteil aus der Disruption zu ziehen“.

In der Tat profitieren illiberale und revisionistische Mächte von der Abkehr der USA von der LIO. So hat es Trump beispielsweise China ermöglicht, sich auf der internationalen Bühne als Verfechter des Freihandels und des globalen Klimaschutzes zu inszenieren. Zudem lieferten die USA illiberalen Staaten willkommene Vorwände, sich ebenfalls von unliebsamen internationalen Regeln abzuwenden. So nutze Russland den US-Rückzug aus dem Treaty on Open Skies unter Trump 1.0, um den eigenen Austritt zu rechtfertigen, Brasilien unter Jair Bolsonaro drohte ebenfalls mit dem Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen, und China wies Kritik im UN-Menschenrechtsrat mit Verweis auf die Doppelstandards des Westens zurück. Versuche nicht-westlicher, revisionistischer Mächte, eine Führungsrolle in den von den USA verlassenen Institutionen zu übernehmen und diese für illiberale Zwecke umzubauen, gab es aber kaum. Vielmehr wurde das von den USA hinterlassene Machtvakuum vor allem von westlichen Mächten gefüllt.

Der Erfolg alternativer Führungsmächte setzt Überzeugungskraft und die Mobilisierung von genügend Beiträgen anderer Mitgliedstaaten voraus, um den Ausfall der USA zu kompensieren. Im Vergleich zu vielen nicht-westlichen, illiberalen oder gar revisionistischen Staaten verfügen westliche Mächte zumeist über eine deutlich höhere Glaubwürdigkeit beim Erhalt der LIO und ihrer Institutionen. Insbesondere die EU und ihre Mitgliedstaaten können ihre überlegene Soft Power dazu nutzen, multilaterale Institutionen gegen die Kritik der USA zu verteidigen sowie neue Partnerschaften mit anderen relevanten Staaten zu knüpfen, und gemeinsam die Hard Power aufbringen, um die von den USA hinterlassenen Lücken zu füllen.

Beim Pariser Klimaabkommen beispielsweise verteidigte die EU nicht nur das Abkommen, sondern nahm auch eine Vorbildrolle ein, indem sie ihre eigenen Beiträge zur Begrenzung des Klimawandels erhöhte. Zudem band sie China als einen der größten Emittenten von Treibhausgasen in die Antwortstrategie auf den US-Rückzug ein. Die EU nutze sogar ihre wirtschaftliche Machtposition, um Brasilien unter Bolsonaro, der dem Beispiel Trumps zu folgen drohte, im Abkommen zu halten. Auch im Fall der WHO gelang es europäischen Mitgliedstaaten in enger Zusammenarbeit mit dem WHO-Sekretariat, die Organisation gegen Trumps Kritik zu verteidigen und die COVID-19-Pandemie auch ohne die USA zu bekämpfen.

Schluss

Aus diesen Befunden ergeben sich für Deutschland und Europa vier wichtige Lehren für den Erhalt der LIO angesichts von Trump 2.0: Erstens wird die Ambivalenz der USA gegenüber multilateralen Institutionen nicht mit Trumps zweiter Amtszeit enden. Mehrere ineinandergreifende Trends machen es wahrscheinlich, dass sich die USA in Zukunft aus IO und Abkommen zurückziehen werden. Noch nie gab es so viele und so einflussreiche multilaterale Institutionen, die den Handlungsspielraum der USA selbst einschränken und damit zur Zielscheibe der amerikanischen Kritik werden. In den USA wächst die Skepsis gegenüber multilateraler Zusammenarbeit, und die innenpolitische Polarisierung überträgt sich zunehmend auf außenpolitische Entscheidungen. Zudem sehen sich die USA als absteigende Macht in immer stärkerer Rivalität mit der aufsteigenden Macht China. Statt Trump erneut als Anomalie abzutun und auf eine Rückkehr zur vermeintlichen Normalität zu hoffen, muss sich Europa langfristig auf den Rückzug der USA aus internationalen Abkommen und Organisationen einstellen.

Zweitens besteht Grund zur Hoffnung, dass auch Trump 2.0 seine Attacken auf multilaterale Institutionen nicht blindlings eskaliert oder sich grundsätzlich aus internationalen Organisationen und Verträgen zurückzieht. Zugeständnisse an Trump in den von ihm kritisierten Institutionen können einen Rückzug der USA verhindern. Europa sollte sich insbesondere für Reformen einsetzen, die die institutionelle Resilienz langfristig stärken. Beispielsweise könnten die Beiträge breiter unter den Mitgliedstaaten verteilt und die institutionelle Verhinderungsmacht der USA, aber auch anderer zentraler Mitgliedstaaten, durch Vetorechte oder opt-outs erhöht werden. Eine rote Linie sollte Europa dort ziehen, wo Zugeständnisse an Trump ihren Ruf als Verfechterin des Multilateralismus – und damit ihre Soft Power – beschädigen würden.

Drittens sind multilaterale Institutionen auch bei einem Rückzug der USA unter Trump 2.0 nicht verloren, sondern ihr Schicksal liegt in den Händen der verbleibenden Mitgliedstaaten. In Fällen, in denen Trumps Forderungen den Grundprinzipien des Multilateralismus zuwiderlaufen oder er zu keinen Zugeständnissen bereit ist, sollte Europa daher als alternative Führungsmacht für die USA einspringen. Europa sollte dann IO und Abkommen gegen Trumps Kritik verteidigen und den Ausfall der USA nach Möglichkeit kompensieren. Dabei muss es auch die Zusammenarbeit mit nicht-westlichen Mächten wie Indien, Brasilien und China ausbauen, um globale Herausforderungen effektiv angehen zu können.

Schließlich ist es unausweichlich, dass Europa Hard Power – von der militärischen bis zur wirtschaftlichen Macht – bündelt und ausbaut. Denn nur gemeinsam haben die europäischen Regierungen genug Hard Power, um langfristig mehr Lasten in der multilateralen Zusammenarbeit zu schultern – sei es als Zugeständnis an die USA oder als Kompensation für deren Rückzug. Mit einem starken Europa hat die Liberale Internationale Weltordnung trotz ambivalenter USA eine Zukunft.

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.