Viele Menschen hoffen auf eine Welt, in der Probleme und Konflikte durch Diskussion und demokratische Prozesse gelöst werden, in der Gewaltmittel keine politische Relevanz mehr haben und auch die Einkommens- und Vermögensverteilung politische Entscheidungen nicht mehr dominiert. Tatsächlich gibt es bereits Modelle solcher Sozialsysteme in den fortgeschrittensten Ländern der Welt und ansatzweise auch auf Ebene der Europäischen Union. Mit derzeitigen wirtschaftlichen, technologischen und administrativen Mitteln ist eine solche Welt grundsätzlich möglich. Die große Schwierigkeit liegt im Übergang. Wie können wir die heutige Welt in den erwünschten Zustand bringen? Schauen wir uns zunächst den Status quo an; anschließend können wir fragen, wie wir ihn graduell überwinden können.
Die internationale Ordnung
Wir leben in einer Welt rivalisierender Staaten, die sich von einem Hobbesschen Naturzustand dadurch unterscheidet, dass diese Rivalität Regeln unterliegt. Es gibt eine Unmenge von internationalen rechtlichen Regulierungen, bilateralen und multilateralen Verträgen und Konventionen, die internationale Interaktionen von Staaten, Banken oder Konzernen strukturieren. Diese Akteure spielen ein hochkompliziertes Spiel, das der Philosoph John Rawls als „Modus Vivendi“ bezeichnet hat.
Die Regelhaftigkeit internationaler Beziehungen hat immense Vorzüge gegenüber einem Naturzustand: Die Teilnehmer können stabilere Erwartungen bilden und Konflikte meist gewaltfrei beilegen. Diese Vorteile hängen jedoch davon ab, dass es im Interesse jedes Teilnehmers liegt, weiter mitzuspielen. Eine solche Anreizkompatibilität erfordert, dass die Regeln die verschiedenen Akteure, entsprechend ihrer jeweiligen Verhandlungsmacht, unterschiedlich behandeln, also Stärkere unfair begünstigen. Das liegt auch im Interesse der Schwachen, die mit unfairen Regeln besser fahren als mit fairen Regeln, die die Starken im Ernstfall missachten.
Nun ist Machtverteilung nicht konstant: Manche Parteien werden, vielleicht auch durch neue Bündnisse, stärker, andere werden schwächer. Solche Machtverschiebungen müssen den Modus Vivendi nicht zu Fall bringen, sondern lassen sich durch eine Anpassung der Spielregeln abfangen. Die wandelbaren Regeln reflektieren dann ein dynamisches Klugheitsgleichgewicht.
In diesem dynamischen Wettstreit beeinflussen Spielregeln und Machtverteilung sich gegenseitig, weshalb erstarkende Akteure versuchen werden, die Regeln möglichst so zu ihren Gunsten abzuwandeln, dass sie dadurch weiter an Macht gewinnen. Es kann zu auf- und absteigenden Spiralen kommen, in denen eine zunächst kleine Machtverschiebung sich durch die von ihr ermöglichten Regeländerungen immer weiter verstärkt. Diese Möglichkeit wirkt destabilisierend: Ein Akteur, der voraussieht, dass er zukünftig immer ungünstigere Regeln wird akzeptieren müssen, mag es vorziehen, sich trotz geringer Erfolgsaussichten sofort aufzulehnen, statt immer weiter marginalisiert zu werden.
Die allgegenwärtige Gefahr einer Abwärtsspirale führt dazu, dass Akteure sich auf Erhalt und Ausweitung ihrer Macht und ihrer Sicherheit konzentrieren – und dies zulasten ihrer Moral.
Dieser Zusammenhang lässt sich als Imperativ der nationalen Sicherheit beschreiben. Er infiziert auch die Innenpolitik. Optimale Machtprojektion liegt im staatlichen Gemeininteresse. Für sie braucht die Regierung Rückhalt in der Bevölkerung und hat daher einen Grund, sich diesen Rückhalt auch mit unehrlichen und undemokratischen Mitteln zu besorgen. Politiker sagen sich dann meist, dass sie „unsere Moral“ um ihrer selbst willen verletzen müssen, um sie zu erhalten und idealerweise weltweit durchzusetzen.
In einer echt-friedlichen und gerecht strukturierten Welt könnten Staaten problemlos moralisch handeln. In der gegenwärtigen internationalen Ordnung aber wäre das oft riskant. Wenn andere kooperieren, ist echter Frieden erreichbar. Wenn andere jedoch nur zum Schein mitmachen, riskiert die initiierende Partei – man denke etwa an die UdSSR unter Michail Gorbatschow – einen dauerhaften Machtverfall. Der Übergang zu einer gerechteren Ordnung mag trotzdem möglich sein, er erfordert aber eine Abfolge genau koordinierter Schritte, die in jeder Phase die Machtverteilung unter den mächtigsten Staaten nur minimal beeinflussen.
Die Macht der Staaten
Die Lösung des Übergangsproblems erfordert eine genauere Analyse des derzeitigen internationalen Regimes und der in ihm vorherrschenden Denkweise. Führenden Experten und Praktikern der internationalen Beziehungen zufolge speist sich die Macht von Staaten aus drei Quellen: militärischer Stärke, Wirtschaftskraft und einer Restkategorie von Soft Power, die Reputation, Charisma, Überzeugungskraft und kulturellen Einfluss umfasst.
Staaten haben ein Interesse daran, ihre Position in allen drei Machtdimensionen auszubauen. Die dabei zu treffenden Entscheidungen über den strategisch optimalen Einsatz ihrer Ressourcen sind oft schwierig, denn erstens gibt es keine festen Umrechnungsraten zwischen den drei Machtkomponenten, und zweitens hängt die machtoptimierende Strategie eines Staates auch von den Allokationsentscheidungen seiner Rivalen ab. Erstere Schwierigkeit zeigt sich darin, dass die relative Bedeutung der drei Machtkomponenten vom geopolitischen Klima abhängt: Im Krieg oder in Kriegsnähe ist militärische Stärke von größter Wichtigkeit. In friedlicheren Zeiten gewinnen Wirtschaftskraft und Soft Power an Bedeutung. Das führt zu gegensätzlichen Interessen bezüglich des geopolitischen Klimas. Staaten, deren komparativer Vorteil in militärischer Stärke liegt – die in dieser Dimension konkurrenzfähiger sind als in den beiden anderen Dimensionen –, haben ein Interesse daran, die Welt nicht zu friedlich werden zu lassen. Solche Staaten muss es immer geben, aber welche es sind, kann sich ändern. Die USA etwa sind militärisch derzeit ungefähr so stark wie alle anderen Staaten zusammen, erwirtschaften aber nur ein Sechstel des Bruttoweltprodukts. Auch Russland scheint dieser Gruppe anzugehören. Auf der anderen Seite stehen Staaten – derzeit zum Beispiel Japan, Indonesien, Südkorea, China, Indien, Mexiko, Deutschland oder die Schweiz –, die in den Dimensionen Wirtschaftskraft und Soft Power besser abschneiden als in der militärischen und somit Macht gewinnen würden, wenn militärische Stärke an Bedeutung verlöre.
Das geopolitische Klima ist nicht exogen vorgegeben, sondern steht selbst unter dem Einfluss von Staaten, die nicht nur in Komponenten politischer Macht investieren können, sondern auch in die Beeinflussung dieses geopolitischen Klimas. Staaten, deren komparativer Vorteil in Wirtschaftskraft oder Soft Power liegt, haben Grund, Entspannung zu fördern; Staaten, deren komparativer Vorteil in militärischer Stärke liegt, haben Grund, Feindseligkeiten zu schüren – vorzugsweise solche, an denen sie selbst nicht direkt beteiligt sind.
Überdies beeinflusst das geopolitische Klima nicht nur die zwischenstaatliche, sondern auch die innerstaatliche Machtverteilung: In Kriegs- und Krisenzeiten gewinnt die Exekutive an Macht. Gleiches gilt für das Militär, die Geheimdienste und die Rüstungsindustrie. Diese Akteure haben daher oft ein Interesse daran, das internationale Klima absichtlich zu verschlechtern. So kann eine unpopuläre Regierung innerstaatlich an Macht und Einfluss gewinnen, wenn sie sich, in streitbarer Auseinandersetzung mit anderen Staaten, die nationale Flagge umhängt und bei der Bevölkerung Patriotismus, Nationalstolz, Ehrgefühl, Chauvinismus oder Xenophobie wecken kann. Echter Friede hat also schon von Amts wegen natürliche Feinde, wie man beispielsweise am Präsidenten der USA erkennen kann, der durch Förderung kämpferischer Auseinandersetzungen sowohl seine innerstaatliche Macht als auch die internationale Macht seines Staates vergrößern kann.
Die skizzierte Analyse des Status quo sieht die Menschheit gefangen in einem Kampfspiel, in dem politische Akteure ihre Macht einsetzen, um diese Macht zu erhalten und auszubauen. In diesem Spiel bleiben Einsatz und Androhung von Gewalt zentral, weil dies im Interesse derer ist, deren komparativer Vorteil in militärischer Stärke liegt. Streitigkeiten, Krisen, Konflikte, Zwischenfälle, Spannungen und Kriege lassen sich viel leichter entfachen als abwenden.
Obwohl dieses Kampfspiel zivilisiert unter Regeln stattfindet, geht es in ihm langfristig ums nackte Überleben – weil diese Regeln nicht feststehen, sondern an Machtverschiebungen angepasst werden müssen, wenn erstarkende Teilnehmer sie weiter einhalten sollen. Jeder Akteur läuft somit Gefahr, in eine Abwärtsspirale zu geraten, die ihn marginalisieren und letztlich aus dem Spiel werfen kann. Und jeder ist durch andere gefährdet, die aus Angst vor einer solchen Spirale – oder vor einem durch solche Angst motivierten Angriff – den sofortigen Kampf suchen.
Obige Analyse hat den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Sie trifft zu, weil viele politische Profis sie für zutreffend halten. Eine bessere Welt ist möglich. Aber wie kann sie mit den heute existierenden politischen Akteuren erreicht werden?
„Heilige Regeln“ als geteilte Identität
Wenn wir eine neue Phase der internationalen Beziehungen einleiten wollen, in der der Wettkampf um Macht nicht mehr dominiert, dann muss den Menschen und ihren politischen Führern klar werden, dass im gegenwärtigen Kampfspiel langfristig niemand gewinnt. Eine technologisch hochentwickelte und schnell voranschreitende Welt, in der immer einige Staaten und Politiker ihre Macht durch das Schüren von Spannungen und Feindseligkeiten vergrößern können und viele Staaten deshalb in die Entwicklung und Anhäufung immer wirksamerer Massenvernichtungswaffen investieren – eine solche Welt wird früher oder später in einem schrecklichen Krieg enden. Diese Einsicht ist ein nüchternes Stück Realismus, das wir den politischen Realisten entgegenhalten sollten, die Macht zum höchsten Staatsziel erklären. Die kollektiv selbstzerstörerische Natur dieses Ziels gibt auch ihnen einen guten Grund, tiefgreifende Reformen anzustreben. Was noch fehlt, ist ein Reformprogramm.
Ein plausibles Reformprogramm muss schrittweise bestimmte Regeln aus dem beschriebenen Modus Vivendi herausheben und sie so festschreiben, dass sich alle auf ihre Einhaltung voll verlassen können. Ein Versuch in diese Richtung war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, welche die sie proklamierenden Staaten ausdrücklich als Regeln bezeichneten, deren Gültigkeit von staatlicher Zustimmung unabhängig ist.
In einer wichtigen Hinsicht sind diese Versuche allerdings gescheitert – und zwar dadurch, dass politische Akteure auf Regelverstöße politisch reagieren: Man verurteilt Verstöße dann und nur dann, wenn die eigene Machtposition dadurch nicht beeinträchtigt wird. So bleibt der reale Einfluss dieser besonderen Regeln begrenzt: Regelverstöße mächtiger Akteure und ihrer Schützlinge werden oft heruntergespielt, weil Kritik Kosten nach sich zöge. Die evidente Ungleichbehandlung gleichartiger Verstöße unterminiert das moralische Ansehen der besonderen Regeln wie auch die Glaubwürdigkeit derer, die an sie appellieren. Deshalb ist auch auf diese besonderen Regeln nicht wirklich Verlass. Wer sie verletzt, muss mit Verurteilung rechnen, kann diese aber durch Machtmittel abdämpfen oder durch den Gegenvorwurf der Heuchelei untergraben („Ihr habt kein Recht, uns zu kritisieren, wo Ihr doch über Israel und die USA geschwiegen habt“).
Besondere Regeln sind gut, aber sie funktionieren nur in Verbindung mit einer besonderen Einstellung zu diesen Regeln. Politische Akteure müssen sich diese Regeln als sozusagen heilige Regeln zu eigen machen. Wie das Wort andeutet, kann diese Aneignung religiös begründet sein und war historisch auch oft so begründet. In der modernen Welt beruht solche „Heiligkeit“ oder Unantastbarkeit jedoch eher auf einer weit verbreiteten Abscheu dagegen, bestimmte Handlungen oder Maßnahmen auch nur in Erwägung zu ziehen. Eine Regel ist Akteuren heilig, wenn sie ihnen ganz besondere „ausschließende“ Handlungsgründe gibt – Gründe, die nicht nur bestimmte Entscheidungen rechtfertigen, sondern auch andere Handlungsgründe von diesen Entscheidungen ausschließen.
Wir finden eine solche Konstellation von Handlungsgründen beispielsweise im Sport. Sportler investieren ihr ganzes Herz in ihren Sport und wollen unbedingt Erfolg haben. Aber eben nicht gänzlich unbedingt: Sie wollen in einem fairen Wettkampf gewinnen. Es gibt also zwei Ziele: Man will gewinnen – und man will, dass der Wettkampf unter fairen und unparteilich angewandten Spielregeln stattfindet. Wer zwei Ziele hat, wägt diese normalerweise gegeneinander ab: Man ist bereit, ein wenig vom einen Ziel aufzugeben, wenn man dafür mehr vom anderen Ziel erreichen kann. Aber so ist es hier nicht. Eine echte Sportlerin wird die Fairness des Wettkampfes nicht um das Geringste beeinträchtigen, selbst wenn sie dadurch ihre Gewinnchancen ganz erheblich verbessern könnte. Die Fairness des Wettbewerbs ist ihr heilig. Fairness ist zentraler Bestandteil ihrer Identität als Athletin und als Mensch. Sie ist Voraussetzung dafür, dass Leistungssport ihr überhaupt etwas bedeutet.
Zugegeben, echtes Sportlertum dieser Art ist selten. Trotzdem hat es als Ideal genau die hier gesuchte Realität: Man erkennt dieses Ideal und fühlt sich von ihm erhoben und angezogen.
Auch im politischen und gesellschaftlichen Leben kennen wir diese Konstellation. Wer ein öffentliches Amt bekleidet, muss bei dessen Ausübung persönliche Ziele außer Acht lassen. So muss eine Schulleiterin alle Kinder gleich behandeln, auch wenn eines ihr eigener Sohn ist, an dessen Erfolg sie als Mutter leidenschaftlich interessiert ist. Selbst wenn ihr Sohn für den renommierten Schulpreis gleich gut qualifiziert ist wie andere, erwarten wir von ihr, dass sie den Preis nicht einfach an ihn vergibt, sondern in diesem Fall die Entscheidung anderen überlässt oder durch Los trifft. Selbst die stärksten Handlungsgründe, die aus unseren allerengsten Beziehungen erwachsen, sind hier für nichtig zu erachten und beiseitezustellen. Obwohl wir wissen, wie tief die Liebe einer Mutter für ihr Kind sein kann, bringen wir für Verstöße kein Verständnis auf, sondern verurteilen sie scharf mit Worten wie „Korruption“, „Nepotismus“ oder „Vetternwirtschaft“. Diese Anforderung an die Mutter ist auch dem Sohn begreiflich, der versteht, dass die Liebe seiner Mutter zu ihm in keiner Weise dadurch geschmälert wird, dass sie diese Liebe in bestimmten Kontexten ausblenden muss.
Was für die Schulleiterin gilt, gilt erst recht für Politikerinnen und Politiker in den fortgeschritteneren Staaten, die weder ihre Verwandten oder Freunde noch ihre Heimatregion bevorzugen dürfen. Interessanterweise gilt es sogar für einfache Bürger in Ausübung ihrer Bürgerrolle. Angenommen, jemand würde öffentlich zu der politischen Frage Stellung nehmen, ob angesichts historischer Diskriminierung im Erziehungssystem heutigen Mädchen bestimmte Vergünstigungen zuteilwerden sollten. Und angenommen, es käme heraus, dass diese Person ihre Diskussionsbeiträge nach der Interessenlage ihrer eigenen Kinder ausgerichtet hat – also etwa gegen eine solche Maßnahme argumentierte, weil ihre eigenen Kinder männlich sind. Sogar Gegner besonderer Vergünstigungen für historisch diskriminierte Gruppen würden einen solchen Gedankengang moralisch fragwürdig finden. Auch von Bürgern erwarten wir, dass sie in ihren öffentlichen Äußerungen und in ihrem Abstimmungsverhalten ihre privaten Loyalitäten beiseitestellen und sich von Gerechtigkeit und Gemeinwohl leiten lassen.
Heilige Regeln in der internationalen Politik
Dieses aus der Innenpolitik fortgeschrittener Staaten vertraute Denkmuster kann uns auch auf internationaler Ebene weiterhelfen. In der heutigen Welt verfolgen Politiker die Partikularinteressen ihrer jeweiligen Heimatstaaten. Zwar gibt es besondere Ämter, wie etwa das des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, in denen Überparteilichkeit erwartet wird, die wichtigsten internationalen Entscheidungen werden aber in Gremien gefällt, deren Mitglieder die Machtinteressen ihrer Heimatstaaten verfolgen und die deshalb, nach dem Modus-Vivendi-Modell, die bestehende Machtverteilung reflektieren.
Nötig wäre stattdessen wiederum eine Hierarchisierung des Willens: Es gilt, weltweit die normative Erwartung aufzubauen, dass jede Person, die an solchen internationalen Entscheidungen mitwirkt, die Partikularinteressen ihres Landes nur im Rahmen besonderer heiliger Regeln verfolgen darf – Regeln, für deren Einhaltung und Durchsetzung sie sich ohne Rücksicht auf jene Partikularinteressen einsetzen muss.
Intellektuell scheint das machbar. Die Unparteilichkeitserwartung ist in den fortgeschritteneren Ländern dieser Welt inzwischen fest verankert. Anti-Nepotismus hat eine lange und illustre Geschichte in mehreren großen Kulturen sowie neuere, inspirierend leidenschaftliche Unterstützung in Staaten wie Südkorea, Malaysia, Brasilien oder Südafrika. Die Idee einer besonderen Art von Loyalität, die andere Loyalitäten innerhalb ihres Bereichs aufhebt, ist also bereits vertraut. Es sollte daher möglich sein, dass diese Idee auch auf supranationaler Ebene Fuß fasst: die Idee, dass es nicht weniger schändlich ist, die Gerechtigkeit unserer Weltordnung zum Vorteil seines Heimatlandes zu untergraben als die gerechte Ordnung des Heimatlandes zum Vorteil der eigenen Familie oder Heimatstadt.
Allerdings besteht eine besondere Schwierigkeit darin, dass der anvisierte Übergang nicht auf einen wichtigen Faktor zählen kann, der bei der Evolution moderner Staaten wohl eine entscheidende Rolle spielte. Vermutlich hatten in jeder historischen Epoche solche Gesellschaften, die bei der Verinnerlichung eines starken Unparteilichkeitsgebots vorne lagen, einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Vetternwirtschaft und andere Formen von Korruption beeinträchtigen die Fähigkeit einer Gesellschaft, ihre Probleme zu lösen und mit anderen Gesellschaften zu konkurrieren, indem sie eine effiziente, leistungsorientierte Arbeitsteilung behindern. Die Lösung der großen Menschheitsprobleme – gefährliche Technologien, Umweltschäden, Ressourcenverknappung, Pandemien, Finanzkrisen – wird durch die Abwesenheit eines analogen internationalen Unparteilichkeitsgebots zwar ebenfalls erheblich behindert, diese Behinderung löst aber keinen Wettbewerbsdruck aus, der den Übergang vorantreiben könnte. So bleibt uns nur die eindringliche Beschreibung drohender Übel, gekoppelt mit Appellen an die Vernunft, um die erforderliche kosmopolitische Moral ins Bewusstsein der Menschen zu tragen.
Das mag unrealistisch klingen. Es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass eine nationale Botschafterin im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ihr eigenes Land benachteiligende Einschränkungen anerkennen könnte, ohne unverzüglich entlassen zu werden. Aber solcher Fortschritt ist realistisch denkbar, wenn er in Verbindung mit neuen Gremien stünde, deren Mitglieder besonders zur Unparteilichkeit verpflichtet sind. So könnte man sich etwa ein Gremium unparteiischer Juristen vorstellen, dessen Aufgabe darin bestünde, zu entscheiden, ob in bestimmten Fällen die Bedingungen für eine humanitäre Intervention erfüllt sind.
Auf diesem Weg ließe sich schrittweise eine Moralisierung der internationalen Politik erreichen. Die kann aber nur dann in Gang kommen, wenn die unantastbaren Regeln die Machtverteilung unter den mächtigen Staaten zunächst nicht signifikant verändern und diese Staaten keinen neuen, und vor allem keinen ungleichen Risiken aussetzen. Wenn es mit kleinen Anfängen funktioniert, dann bildet sich langsam Vertrauen – insbesondere dadurch, dass Staaten wissen, dass sich die Bevölkerungen anderer Staaten den moralischen Inhalten tief verpflichtet fühlen, was die Kosten von Regelverstößen durch deren Regierungen erhöht.
Wo man ansetzen kann
Ein solches Reformprogramm sollte mit Regeln beginnen, die drei Kriterien erfüllen:
Erstens sollten diese Regeln von geringer Relevanz für den Machtwettbewerb sein und Staaten insofern keiner signifikanten Gefahr aussetzen, durch das Abspringen anderer übervorteilt zu werden; zweitens sollten sie klar formuliert sein, und es sollte leicht zu beurteilen sein, ob sie eingehalten werden; und drittens sollten sie weithin als moralisch wichtig angesehen werden, sei es intrinsisch oder instrumentell, sodass Menschen in aller Welt ihre Einhaltung als wertvoll erachten. Das erschwert es politischen Führern, sie – der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit zum Trotz – zu verletzen.
Mit Blick auf diese drei Kriterien sind beispielsweise Rüstungsbeschränkungsverträge – so nützlich sie auch wären – kein erfolgversprechender Anfang moralisierender Transformation. Da sie für den Machtwettbewerb von großer Relevanz sind, ist eine Verpflichtung zu ihrer Einhaltung riskant, insbesondere im Kontext schneller und unvorhersehbarer Technologieentwicklung. Zudem ist es meist nicht einfach, ihre Einhaltung zuverlässig zu überwachen. Und schließlich macht die technische Komplexität dieser Vereinbarungen es Normalbürgern schwer, ihre Vorschriften und deren moralische Wichtigkeit zu schätzen. Ähnlich ungeeignet sind Übereinkommen, die Angriffskriege oder den Ersteinsatz von Atomwaffen verbieten. Sie erfüllen das zweite und dritte Kriterium, scheitern aber eindeutig am ersten: Sie bieten keine echte Sicherheit gegen einen Überraschungsangriff.
Stattdessen sollte die Moralisierungstransformation bei der Beseitigung struktureller Armut ansetzen. Hier lassen sich – mit geringen Kosten und ohne Risiko für die mächtigeren Staaten – ganz enorme Fortschritte erzielen. Wir leben in einer Welt, deren Bruttosozialprodukt 63 internationale Dollar pro Person und Tag beträgt
Die Beseitigung weltweiter Armut ist erklärte Absicht aller Regierungen und in den Zielen für nachhaltige Entwicklung der UN (Agenda 2030) vereinbart, doch wurde dieses Versprechen bislang nicht eingelöst. Die Zahl der Menschen in unsicherer Ernährungslage ist seit Verkündung dieser Ziele alljährlich sogar um knapp die Hälfte gestiegen: von 1,59 Milliarden im Jahr 2015 auf 2,32 Milliarden 2023.
Strukturreformen
Gegenwärtig zahlen große multinationale Konzerne und superreiche Einzelpersonen im Verhältnis zu ihren realen Gewinnen und Einkommen viel niedrigere effektive Steuersätze als ihre ärmeren Mitmenschen.
Das derzeitige internationale Innovationssystem sieht Monopolrenten als primäre Finanzierungsquelle vor.
Dritter Punkt: Gegenwärtig ist die Wertschöpfung aus unserem Planeten höchst ungleich. Reiche Eliten bemächtigen sich seiner natürlichen Rohstoffe zu einvernehmlichen Bedingungen; der Rest der Menschheit wird ausgeschlossen, leidet aber weit überproportional an den ökologischen Schäden, die Wohlhabendere durch Konsum dieser Rohstoffe verursachen. Eine globale Rohstoffdividende würde diese Ungleichheit verringern. Sie würde von Staaten verlangen, einen kleinen Teil des Wertes aller genutzten natürlichen Rohstoffe abzutreten. Diese Dividende würde der Armutsbeseitigung nach dem Prinzip gewidmet, dass allen Menschen ein unveräußerlicher Anteil an allen begrenzten natürlichen Rohstoffen zusteht – einschließlich solcher Ressourcen, die durch Nutzung nicht zerstört, sondern lediglich erodiert oder abgenutzt werden, wie etwa Luft und Wasser für die Entsorgung von Schadstoffen oder Land für Ackerbau, Viehzucht und Gebäude.
Solche gemeinsamen Fortschritte bei der Armutsbeseitigung würden uns helfen, Vertrauen zu schaffen, die Idee der Moralisierung im Denken der Menschen zu verankern und sie dann auf schwierigere Probleme – globale Gesundheit, Ressourcenverknappung, Umweltschutz, gefährliche Technologien und Kriegsgefahr – auszuweiten. So könnte es der Menschheit doch noch gelingen, durch einen übergreifenden Konsens ihre tiefste Sehnsucht nach einem ethischen gemeinen Wesen (Kant) – Tianxia, Ubuntu, Vasudhaiva Kutumbakam – endlich zu erfüllen.