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Editorial | bpb.de

Editorial

Sascha Kneip

/ 2 Minuten zu lesen

Ist Demokratie ohne Parteien denkbar? Für den Staatsrechtler Hans Kelsen stellte sich diese Frage nicht, als er in den 1920er Jahren für seine Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ über die Kernprinzipien demokratischen Regierens nachdachte. Aus seiner Sicht muss die Demokratie „notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat“ sein, weil in einer pluralistischen Gesellschaft ohne einheitlichen Volkswillen nur mithilfe von Parteien legitime Entscheidungsprozesse möglich sind, die von Interessenaggregation, Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz und Kompromiss geprägt sind.

Angesichts grassierender Parteienverdrossenheit und vermeintlicher wie tatsächlicher Malaisen der Parteiendemokratie mag diese Sicht heute überraschen. Tatsächlich scheint das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in politische Parteien so niedrig wie nie. Fragmentierung und Polarisierung setzen vielen demokratischen Parteiensystemen zu und machen Koalitionsbildungen nach Wahlen immer schwieriger. Von populistischen Polarisierungsunternehmern geschürte Ressentiments gegen „Kartellparteien“ – ein in der Politikwissenschaft seit langem diskutierter Begriff zur Beschreibung eines Parteientyps, der sich seit den 1970er Jahren herausgebildet hat – verstärken das Misstrauen gegenüber demokratischen Parteien und Prozessen zusätzlich.

Nimmt man Kelsens Diktum ernst, dann wirken sich Probleme des Parteiensystems unmittelbar auch auf die Demokratie selbst aus. Was also tun? Aus der erhofften Weiterentwicklung der Parteien- zu einer inklusiven „Schwarmdemokratie“ ist bislang wenig geworden; der demokratische Diskurs scheint in der digitalen Plattformdemokratie vielmehr gefährdet. Doch zeigt die empirische Forschung, dass andere Arrangements der repräsentativen Demokratie denkbar sind – und bei Bürgerinnen und Bürgern auch auf Akzeptanz stoßen. Ob es dabei um die Bildung von Minderheitsregierungen geht oder um erweiterte direktdemokratische Partizipationsmöglichkeiten: Ziel ist nicht die Ersetzung der Parteiendemokratie durch eine grundsätzlich andere Form demokratischer Willensbildung, sondern ihre sinnvolle Ergänzung und Weiterentwicklung.