1929 verkündete einer der wichtigsten Juristen des vergangenen Jahrhunderts, Hans Kelsen, die moderne Demokratie sei notwendigerweise eine Parteiendemokratie.
Parteien stehen heute von gleich zwei Seiten unter Druck: Auf der einen Seite setzen Populisten sie unter Stress. Hinter denen stehen zwar in der Regel ebenfalls Parteien, aber Populisten behandeln diese eher wie Instrumente zum persönlichen Machterwerb und wandeln sie häufig in „Bewegungen“ um. Auf der anderen Seite entsteht Druck durch die mehr oder weniger technokratischen Versuche, Parteien als Mittel der politischen Entscheidungsfindung durch neue Institutionen, zum Beispiel Bürgerräte, zu ersetzen. Diese sind aus demokratietheoretischer Sicht selbstverständlich keine mit dem Populismus gleichzusetzende Gefahr für die Demokratie; im Gegenteil, es spricht viel dafür, sie zumindest auf lokaler Ebene als Ergänzung zur Parteiendemokratie zu etablieren. Aber die von einigen politischen Philosophinnen und Philosophen und demokratischen Aktivistinnen und Aktivisten verfochtene Idee, sowohl Wahlen als auch Parteien zugunsten einer „Lottokratie“ ganz abzuschaffen, ist nicht nur mit praktischen Problemen behaftet; sie verletzt auch demokratische Grundprinzipien.
Im Folgenden sollen zunächst die beiden genannten Herausforderungen für politische Parteien analysiert werden; dabei werden bereits einige Kriterien sichtbar, die demokratieverträgliche – idealerweise: demokratiefördernde – Parteien, gleich welcher politischen Couleur, erfüllen müssen. Diese Kriterien werden im zweiten Teil noch einmal klarer konturiert, bevor gezeigt werden soll, dass sich heute in den unterschiedlichen Parteiensystemen zwar in der Tat viel bewegt – es aber keineswegs so ist, dass wir plötzlich in politisch völlig unstrukturierten und volatilen Zeiten lebten. Was die Politikwissenschaft als „ideologische Blöcke“ bezeichnet, ist immer noch relativ stabil, auch wenn es zum Teil dramatische Verschiebungen innerhalb dieser Blöcke gibt.
Parteien unter Druck I: Populismus
Die Hauptherausforderung für die Parteiendemokratie, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat, besteht heute zweifellos im Populismus – vor allem einem Populismus, der rechtsextreme politische Inhalte anbietet. Das heißt nicht, dass Populisten gar nichts mit Parteien zu tun hätten; eine Figur wie Jair Bolsonaro, der ständig die Parteien wechselte und als Präsident zweitweise gar keiner Partei angehörte, ist immer noch die Ausnahme. Nur stellen sie als Anführer ihrer Parteien immer einen besonderen Anspruch: Sie behaupten nämlich, sie – und nur sie – würden das repräsentieren, was bei Populisten in der Regel als „das wahre Volk“ oder auch als „die schweigende Mehrheit“ bezeichnet wird.
Der Anspruch, als einzige das „wahre Volk“ – Trump bezeichnete seine versammelten Anhänger, die am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmten, als „the real people“
So ist es auch kein Zufall, dass populistische Politikerinnen und Politiker an der Regierung – so sie denn ausreichend Macht und vor allem ausreichend Zeit haben – systematisch Demokratie abzubauen versuchen. Das bedeutet nicht, dass sie notwendigerweise andere Parteien verbieten; im Gegenteil: Eine Besonderheit autoritärer Strategien im 21. Jahrhundert ist es, dass auch mehr oder weniger autokratische Akteure als „lupenreine Demokraten“ wahrgenommen werden wollen und sich oft bemühen, eine Fassade von Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten.
Dass weltweit alle Populisten, von Viktor Orbán über Narendra Modi bis Donald Trump, ihre eigenen Parteien auf autokratische Art und Weise führen, ist folgerichtig. Teilweise hat es mit Machtkalkül zu tun, vor allem aber ist es Ergebnis des oben erwähnten Anspruchs, als einziger den vermeintlich offensichtlichen und authentischen Volkswillen umzusetzen. Dissens kann unter diesen Umständen dann eigentlich nie demokratisch legitim sein, sondern ist, streng betrachtet, immer gleich Volksverrat. Innerparteiliche Demokratie und innerparteilichen Pluralismus kann es daher auch nicht geben: Schlimmstenfalls verwandelt sich die Partei in ein Instrument des Persönlichkeitskults.
Es ist deshalb ebenfalls kein Zufall, dass viele populistische Politiker ihre Anhängerschaft bewusst als „Bewegung“ präsentieren. Nicht alle Bewegungen sind automatisch autoritär, aber aufgrund der antipluralistischen Ausgangsposition sind fast alle populistischen Bewegungen auf einen Anführer zugeschnitten, der, wie gesehen, ein Monopol auf die authentische Repräsentation des Volkes beansprucht. Trumps MAGA-Bewegung ist auch hier das Paradebeispiel: Niemand könnte sagen, wer eigentlich die „Nummer 2“ dieser Bewegung sein soll. Eine solche Figur gibt es schlicht nicht – auch wenn sich Vizepräsident JD Vance nach Kräften abmüht.
Bedenklich ist nun, dass auch Politiker, die gemeinhin nicht als Populisten wahrgenommen werden, immer öfter auf Bewegungen statt auf vermeintlich altmodische und bürokratische Parteien setzen. Man denke etwa an den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, dessen Bewegung „En Marche“ – mittlerweile in „Renaissance“ umbenannt – das französische Parteiensystem aufgemischt hat, oder an den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, der die altbackene ÖVP – eine der ältesten Parteien Europas – kurzerhand in „Liste Sebastian Kurz“ umtaufte, ihre Parteifarbe änderte und sie stramm auf seine politische Linie brachte. Die Sorge, dass jemand, der schon seine eigene Anhängerschaft auf keine sonderlich demokratische Weise behandelt, autoritären Versuchungen nachgeben könnte, sobald er (oder sie) an der Macht ist, ist nicht ganz unberechtigt – auch wenn sie sich im Falle Macrons, bei allen präsidialen oder gar jupiterhaften Allüren, bisher nicht bestätigt hat. Im Falle von Kurz lässt sich das indes nicht behaupten.
Die Etablierung von Bewegungen, die auf eine Person ausgerichtet sind, wird vom Strukturwandel der Öffentlichkeit erleichtert (ist allerdings keineswegs unvermeidlich). Dem italienischen Rechtspopulisten Silvio Berlusconi etwa gelang es in den 1990er Jahren, mithilfe der Marketingexperten seiner Medienunternehmen eine Retortenpartei zu kreieren, die nicht nur einen Fußballschlachtruf im Namen trug („Forza Italia“), sondern auch in ihren Strukturen einem Fußball-Fanklub glich, der von seinen TV-Sendern gepusht wurde und völlig auf ihn zugeschnitten war. Ohne diese neue Form von Celebrity Politics wäre Berlusconis politischer Aufstieg nicht denkbar gewesen – ebenso wenig wie Trumps Kandidatur bei den US-Republikanern.
Die Sozialen Medien haben hier allerdings noch ganz andere Möglichkeiten eröffnet: Früher funktionierten im Grunde nur Klientelismus und die Ressourcen einer bürokratischen Massenpartei – ergo das im 19. Jahrhundert von den Sozialdemokraten geschaffene Modell – als Mittel zur Massenmobilisierung. Soziale Medien erlauben nun eine direkte, so gut wie kostenlose Ansprache ans Volk.
Man sollte sich hier vor technologischem Determinismus hüten – die Sozialen Medien befördern uns nicht unweigerlich in autokratische Zeiten. Zugleich stimmt aber auch, dass eine Mobilisierung, die primär über Social-Media-Plattformen erfolgt, im Zweifelsfall immer radikaler werden muss. Wenn man keinen Parteiapparat hinter sich hat, um die Leute zum Gang an die Urne zu bewegen, bietet es sich an, die apokalyptische Rhetorik immer weiter hochzuregeln. Das endet dann bei den üblichen Bedrohungsszenarien: Uns wird unser Land weggenommen, die andere Seite will uns vernichten und so weiter. Und das alles, um eine affektive, also emotionale Polarisierung zu befördern, bei der es immer um alles oder nichts geht – und in welcher der politische Gegner nur noch als existenzieller Feind wahrgenommen wird.
Parteien unter Druck II: Die ambivalente Rolle von Bürgerräten
„Lottokratische“ Institutionen wie Bürgerräte, deren Protagonisten nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, sind in den vergangenen Jahren sehr populär geworden – und das sowohl bei etablierten Politikern als auch bei relativ jungen Parteien wie Cinque Stelle in Italien oder sich selbst als „radikal“ wahrnehmenden Bewegungen wie der „Letzten Generation“ in Deutschland. Ihr Versprechen ist, dass Partizipation von „ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern“ die Entfremdung zwischen Volk und Berufspolitik überwinden und zunehmender Polarisierung entgegenwirken könne. Auch würden so mögliche Repräsentationsdefizite vermindert und der Einfluss von Lobbyisten zurückgedrängt.
Die ambitioniertesten Versionen dieser Position richten sich explizit gegen jegliche Rolle von politischen Parteien. Diese werden häufig mit Ungleichheit – Berufspolitiker haben angeblich mehr Einfluss auf Politik und Gesellschaft als alle anderen –, wenn nicht gar gleich mit Korruption und oligarchischen Tendenzen in Verbindung gebracht,
Das lottokratische Schema ist inzwischen hinlänglich bekannt: Man schafft ein repräsentatives Sample von Bürgerinnen und Bürgern, und das Los entscheidet dann darüber, wer am Beratungs- oder Entscheidungsprozess teilnehmen darf. Jeder hat die exakt gleiche Chance, ausgelost zu werden, also ist, so die Logik, politische Gleichheit in Form von perfekter Chancengleichheit gesichert. In einem deliberativen Forum werden dann Expertinnen und Experten zu einem Thema gehört, anschließend spricht der Bürgerrat Empfehlungen aus. Die ambitionierteren Verfechter der Lottokratie wünschen sich, dass diese Institutionen nicht nur Parlamente beraten oder Empfehlungen für eine Volksabstimmung abgeben, sondern auch gleich selbst entscheiden.
Nun wäre es unfair, der lottokratischen Fangemeinde vorzuwerfen, sie würde einfach alte Ressentiments gegen Parteien und Parlamente bedienen – was die amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Rosenblum einmal als anti-partyism bezeichnete.
Dieser nicht so offensichtliche Kritikpunkt lässt sich an einem Beispiel illustrieren: Der von Emmanuel Macron eingesetzte Bürgerrat Convention Citoyenne pour le Climat,
Ein solches Beispiel konstituiert nicht gleich einen allgemeinen, schlagenden Einwand gegen Bürgerräte. Es legt aber nahe, dass solche Räte, wenn sie nur beratende Funktion haben, nicht sehr effektiv sind. Könnten sie selbst entscheiden, wäre ihr Handeln wiederum wenig legitim. Das Argument, sie seien repräsentativer als Parlamente, lässt zudem außer Acht, dass die Zusammensetzung von Parlamenten durch einen Prozess zustande kommt, an dem sich alle Bürgerinnen und Bürger aktiv beteiligen können – und zwar als Freie und Gleiche, die zugleich unterschiedliche Aspekte ihrer Identität betonen und einbringen können.
Dass dies in der Praxis oft ganz anders aussieht: geschenkt. Aber es liegt, zumindest theoretisch, an den Einzelnen, ob und wie sie ihre politische Freiheit ausüben – sei es, indem sie von Tür zu Tür gehen und Wahlkampf machen; sei es, indem sie sich intensiv in den Sozialen Medien engagieren oder eben auch an der internen Parteiarbeit. Die Zusammensetzung der Bürgerräte ist hingegen dem Zufall geschuldet, keiner allgemeinen politischen Willensbildung unter allen Bürgerinnen und Bürgern. Natürlich kann der oder die Einzelne versuchen, die Deliberation im Bürgerrat zu beeinflussen – aber einen geregelten Prozess dafür, vergleichbar mit dem streng regulierten Wahlkampf zwischen Parteien mit klar konturierten Programmen, gibt es nicht.
Zudem ist unklar, wie eigentlich jene Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern mit den Ergebnissen eines solchen Prozesses umgehen soll, die sich auf der Verliererseite wiederfindet. Verlierer gibt es bei demokratischen Abstimmungen immer, in der repräsentativen Demokratie aber eröffnet sich beim nächsten Urnengang die Chance, die Mehrheitsverhältnisse zu verändern. Überdies kann man sich mit anderen zusammentun, um die eigenen Ansichten zu verbreiten und zu stärken – genau dafür sind (auch) politische Parteien da. Was aber könnte man nach einem Bürgerratsentscheid tun, wenn man aufseiten der Verlierer steht? Falls Gruppen gegründet werden, die auf eine Revision der Entscheidung drängen, sind wir wieder dort, wo wir angefangen haben: Die Parteiendemokratie wird unter anderen Vorzeichen noch einmal neu erfunden. Gibt es aber keine Möglichkeiten zur Revision beziehungsweise wäre es unmöglich, durch gemeinsames Reden und Handeln Einfluss auf Entscheidungen auszuüben, dann wäre dies de facto das Ende politischer Freiheit.
Damit ist noch gar nichts über den möglichen Antipluralismus von Bürgerräten gesagt, auf den einige Kritikerinnen und Kritiker hinweisen.
Zu guter Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass Parteien gegenüber Räten zwei mögliche – allerdings keineswegs garantierte – Vorteile genießen: Sie sind, nachdem sie an der Macht waren, nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern ganz allgemein, sondern auch ihren Mitgliedern rechenschaftspflichtig. Das generiert zumindest einige Anreize für Wohlverhalten – was man von Bürgerinnen und Bürgern, die nur ein einziges Mal in einem Rat tätig werden, vielleicht erwarten, aber nicht voraussetzen kann. Zweitens gibt es zwar zweifellos erhebliche Mängel bei der Finanzierung von Parteien und ihren Schlupflöchern,
Wozu also noch Parteien?
Parteien erlauben es Bürgerinnen und Bürgern, auf strukturierte Weise Einfluss auf demokratische Politik zu nehmen. Sie bündeln Interessen und Ideen; sie ermöglichen es auch, bisher nicht beachtete Identitäten in politischen Prozessen sichtbar zu machen. Wenn ihre Finanzierung nachvollziehbar ist, können sich die Bürgerinnen und Bürger zudem ihr eigenes Urteil über den Einfluss des Geldes auf Parteien bilden. Ob innerparteiliche Demokratie die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass man sich in einer Partei engagiert, ist eine schwierige empirische Frage; klar ist jedoch, dass sie idealerweise so etwas wie legitime Opposition innerhalb einer Partei generiert – und deshalb auch eine Art Versicherung gegen autoritäre Tendenzen ist. Hätte zum Beispiel Donald Trump die US-Republikaner nicht in einen Personenkult transformiert und jegliche interne Opposition de facto ausgeschaltet, wäre der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 wohl nicht passiert.
Bleibt die Sorge, dass heute zu viel Instabilität in den Parteiensystemen stecken könnte. In seinem Buch zu den „Krisen der Demokratie“ warnt der Politikwissenschaftler Adam Przeworski vor einem inflationären Gebrauch des Krisenbegriffs – nicht ohne aber darauf hinzuweisen, dass Instabilität in Parteiensystemen tatsächlich ein Anzeichen für die Gefährdung der Demokratie sein kann. Diese habe, so zeigt Przeworski empirisch, seit den neunziger Jahren sehr deutlich zugenommen.
Angesichts der Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie kann man sich ohnehin nicht eine vermeintlich einfachere Welt zurückwünschen. Wie man diese Konfliktlinie begrifflich am besten fasst, ist umstritten: Manche sprechen von „Kommunitaristen gegen Kosmopoliten“ oder „Partikularismus gegen Universalismus“, andere von „Schließung gegen Öffnung“ oder „illiberal gegen liberal“. Ob es wirklich so viele Universalisten im strengen Sinne gibt, wie es diese Unterscheidungen suggerieren, ist eher zweifelhaft. Dass sich aber hier konträre Wert- und Politikvorstellungen gegenüberstehen, kann man wohl schwer bestreiten. Es ist jedoch kein Zeichen von Krise, wenn sich Parteien, auch ganz neue Parteien, dieser Vorstellungen annehmen, sondern im Gegenteil Teil eines legitimen Strukturwandels – so denn diese Parteien weiterhin demokratischen Grundprinzipien, nicht zuletzt dem des Pluralismus, verpflichtet bleiben.