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Das Parteiensystem im Zeichen zunehmender Fragmentierung und Polarisierung | bpb.de

Das Parteiensystem im Zeichen zunehmender Fragmentierung und Polarisierung

Uwe Jun

/ 15 Minuten zu lesen

Das deutsche Parteiensystem hat sich zu einem fluiden pluralistischen System gewandelt, das durch Polarisierung sowie Fragmentierung und Segmentierung geprägt ist. Das erschwert nicht nur Regierungsbildungen, sondern bedroht auch die Stabilität der Parteiendemokratie.

Schon seit längerer Zeit konstatieren Parteienforscher erhebliche Wandlungstendenzen in westeuropäischen Parteiensystemen, von denen auch das deutsche Parteiensystem betroffen ist. Der Parteienwettbewerb ist pluraler, unübersichtlicher und fluider geworden, die relevanten Entwicklungen beschreiben eine Zunahme der zentralen Systemeigenschaften der Fragmentierung, der Segmentierung und der Polarisierung. Dies wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf die Stabilität und Handlungsfähigkeit der Parteiendemokratie.

In dieser Diskontinuität zeigt sich gleichwohl eine gewisse Kontinuität, denn die konstatierten Wandlungsprozesse hin zu einem verfestigten Pluralismus haben sich mit der Bundestagswahl 2025 fortgesetzt. Seit 2009 spricht die Parteienforschung in Deutschland von einem Typenwechsel des deutschen Parteiensystems, und zwar weg von einem System mit Zweiparteiendominanz und hin zu einem pluralistischen. Nicht nur, dass CDU/CSU und SPD aufgrund zurückgehender Wähleranteile kaum noch Dominanz im Parteienwettbewerb ausstrahlen, die langjährigen Koalitionen von Union und SPD in der Zeit seit 2005 lassen zudem Zweifel daran aufkommen, ob beide Parteigruppierungen noch als Hauptkonkurrenten im Parteiensystem zu betrachten sind, was als Basis eines Parteiensystems mit Zweiparteiendominanz gilt. Der plurale Charakter hat längst die Oberhand gewonnen.

In der Parteienforschung wird zwischen einem moderaten und einem polarisierten Pluralismus unterschieden, wobei die Zuordnung zu einem der beiden Subtypen im deutschen Fall nicht eindeutig ist; die Tendenz zeigte zuletzt in Richtung eines polarisierten Pluralismus. Im Folgenden sollen diese jüngsten Wandlungstendenzen analysiert und ihre Ursachen untersucht werden, bevor ein genauerer Blick auf ihre Auswirkungen auf die Parteiendemokratie geworfen wird.

Fragmentierung und schleichender Niedergang der Volksparteien

Mit Blick auf die Kennzeichnung eines pluralen Parteiensystems sind die zentralen Größen das Format, also die Anzahl der relevanten Parteien, und das Ausmaß der Fragmentierung. Hinzu kommen Segmentierung und Polarisierung.

Die Fragmentierung eines Parteiensystems beschreibt die Anzahl der Parteien und deren jeweilige Größenordnung zueinander und misst damit die effektive Zahl relevanter Parteien. Unterschieden werden kann dabei zwischen der parlamentarisch-gouvernementalen Ebene, also der in Parlament und Regierung vertretenen Parteien, und der elektoralen Ebene, welche die Anteile der Parteien rein auf der Wählerebene bestimmt. Während auf der elektoralen Ebene der Fragmentierungsgrad nach der Bundestagswahl 2025 einen neuen Höchststand verzeichnet, ist er auf parlamentarisch-gouvernementaler Ebene leicht zurückgegangen (Abbildung 1), da das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die FDP den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasst haben, im Falle des BSW nur denkbar knapp. Insgesamt zeigt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine deutlich zunehmende Fragmentierung.

Die Hauptursache für diese Entwicklung ist der seit Langem zu beobachtende schleichende elektorale Niedergang der sich als Volksparteien bezeichnenden Kräfte CDU/CSU und SPD, die lange Zeit den Wettbewerb dominierten. Konnten diese drei Parteien in den 1970er Jahren bei Bundestagswahlen noch mehr als 90 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen auf sich vereinen, so sank ihr Anteil bei der jüngsten Bundestagswahl auf den historischen Tiefststand von weniger als 45 Prozent (Abbildung 2). Die gesellschaftliche Verankerung der Union und der Sozialdemokraten hat sich spürbar gelockert, abzulesen auch an den Rückgängen ihrer Mitgliederzahlen, die sich seit der Hochzeit der 1970er Jahre mehr als halbiert haben. Es ist allen drei Parteien zuletzt immer weniger gelungen, expressive Bindungsmotive von potenziellen Mitgliedern und affektive Bedürfnisse der Wähler zu befriedigen.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Zunächst zu nennen ist die Erosion der traditionellen Stammwählergruppen, also der kirchengebundenen, insbesondere der katholischen Kirche nahestehenden Wähler (CDU/CSU) beziehungsweise der gewerkschaftsnahen Arbeitnehmer (SPD), die schon zahlenmäßig deutliche Rückgänge zu verzeichnen haben und deren Parteibindung zu Union und SPD spürbar abgenommen hat. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse wie die Pluralisierung von Lebensstilen, Individualisierung und Singularisierung haben dem auf die Integration möglichst aller heterogenen gesellschaftlichen Gruppen abzielenden Typus der Volkspartei arg zugesetzt.

Eine Folge dieser gesellschaftlichen Entwicklungen war eine abnehmende Parteibindung und eine zunehmende Volatilität des Wahlverhaltens, was sich in einer größer werdenden Zahl von Wechselwählern ausdrückt und die genannte Fragmentierung des Parteiensystems mit bewirkt hat. Für Wechselwähler spielen Themen- und Kandidatenorientierungen eine entscheidende Rolle: Treten Ambivalenzen in ihrer Wahrnehmung von Themen und Kandidaten auf, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Wechselwahl. Volatilität bemisst sich über die Veränderung der Wahlentscheidung der Wählerschaft bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen. Die ansteigende Volatilität in Deutschland (Abbildung 3) ging in den vergangenen Jahrzehnten häufig zulasten von CDU/CSU und SPD: Die genannten gesellschaftlichen Entwicklungen haben es gerade Parteien vom Typus der Volkspartei erschwert, im Wettbewerb zu bestehen. Parteien, die sehr unterschiedliche Milieus und gesellschaftliche Gruppen umspannen, sind schlichtweg weniger gefragt.

Eigene Versäumnisse – wie etwa die von nicht wenigen Wählern als eher gering wahrgenommene Responsivität bei wichtigen politischen Themen wie Migration, Infrastruktur oder Digitalisierung – kommen zu den gesellschaftlichen Entwicklungen hinzu. Solche Themen mit erheblichem gesellschaftlichem Konfliktpotenzial fanden in den Augen vieler Wähler bei CDU/CSU und SPD nicht ausreichend Widerhall, insbesondere im Politikfeld Migration, aber auch in Bezug auf Verteilungsfragen. Vertrauensverluste und Unzufriedenheit insbesondere bei sozial schwächeren Gruppen mit geringer formaler Bildung und unterdurchschnittlichem Einkommen waren die Folge. Politischer Vertrauensverlust und geringere politische Responsivität sind nicht nur, aber vor allem ein Phänomen der unteren Schichten.

Hier schneidet insbesondere die SPD mit Blick auf ihre Responsivität nicht gut ab; ihr Personal wird als von ihren Wählern ideologisch besonders weit entfernt wahrgenommen. Auch bei jungen Wählern kommen SPD und die Unionsparteien nicht gut an: Sie erscheinen ihnen als Organisationen einer älteren Gesellschaft, die Antworten auf Fragen der Zukunft nicht mehr in dem von ihnen gewünschten Maße geben. Entsprechend stimmten nach Daten von Infratest dimap nur 25 Prozent der 18- bis 24-Jährigen bei der jüngsten Bundestagswahl für CDU/CSU und SPD. Und nur 20 Prozent der 16- bis 24-Jährigen (13 Prozent CDU/CSU, 7 Prozent SPD) bringen beiden Parteien größere Sympathie entgegen. Gerade in jüngeren Wählergruppen haben soziokulturelle Themen – wertebasierte Konflikte außerhalb der sozioökonomischen Sphäre – an Relevanz gewonnen, was von Union und SPD aber erst mit deutlicher Verspätung beachtet worden ist. Profitieren konnten davon jene Parteien, die das jeweilige Thema als ihren Markenkern betrachten: beim Thema Migration die AfD, in Fragen der Klimapolitik und der Anerkennung unterschiedlicher Identitäten die Grünen und in jüngster Zeit auch die Linke. Zwar hat sich die CDU unter ihrem Vorsitzenden Friedrich Merz bei ihrer „richtungspolitischen Wende“ wieder stärker wertkonservativen Positionen geöffnet, sie konnte wegen ihrer eigenen langjährigen Regierungszeit aber kaum von Enttäuschungen profitieren, die durch die etablierte Politik hervorgerufen wurden.

Zumindest für die SPD werden Zweifel immer lauter, ob die Selbstbeschreibung als Volkspartei noch angebracht ist. Die Sozialdemokraten werden in einer aktuellen Publikation als „funktionale Regierungspartei“ charakterisiert, die sich von vielen ihrer vormaligen Wähler in der Arbeitnehmerschaft entfremdet und von ihren traditionellen Wählermilieus entfernt habe. Letzteres wird von der SPD offen eingestanden, wenn in Papieren nach der Bundestagswahl davon die Rede ist, dass „nur noch 12 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter uns das Vertrauen geschenkt haben“. Anders als die SPD kann die Union immerhin für sich in Anspruch nehmen, weiterhin die Führungsrolle im Parteienwettbewerb innezuhaben – und diese trotz des Rückgangs an Wähleranteilen in den vergangenen Jahrzehnten nahezu durchgehend verteidigt zu haben. Wenn also von Krisenphänomenen der (einstmaligen?) Volksparteien gesprochen wird, dann ist die SPD zweifellos stärker davon betroffen.

Aufstieg der Herausforderer-Parteien

An die Stelle von integrativen Volksparteien treten zunehmend deren Herausforderer – oftmals als Ein- oder Zwei-Themen-Parteien wahrgenommene Organisationen oder Protestparteien, die sich gegen das politische und/oder wirtschaftliche beziehungsweise mediale Establishment stellen und nicht selten populistische Narrative für sich nutzen. Da ein Parteiensystem gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelt, ziehen Pluralisierung und die zunehmende Vielfalt mit partiellem Auseinanderdriften der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen nicht nur Fragmentierung, sondern auch eine Polarisierung des Parteienwettbewerbs nach sich. Die Polarisierung eines Parteiensystems wird anhand der ideologisch-programmatischen Differenzen zwischen den einzelnen Parteien bestimmt, was auch als „ideologisch-programmatische Polarisierung“ bezeichnet werden kann. Schon das Erstarken der PDS (beziehungsweise später der Linkspartei/der Linken) nach 2005 hat diese Form der Polarisierung begünstigt; durch das Aufkommen der AfD seit 2013 wurde sie nochmals verstärkt.

In jüngerer Zeit hat zudem auch die affektive Polarisierung zugenommen. Affektive Polarisierung geht über die ideologisch-programmatische hinaus und meint ein Auseinanderdriften der Parteianhängerschaften, das bis hin zum Freund-Feind-Denken führen kann, in jedem Fall aber zwischenparteiliche Unterschiede gezielt emotional hervorhebt und instrumentalisiert. Nicht selten werden die Gegensätze moralisch aufgeladen, die „Anderen“ werden moralisch diskreditiert. Als „Polarisierungsunternehmer“ charakterisierte Parteien versuchen mithilfe von Affekten und Emotionen, nicht zuletzt auch durch die Nutzung Sozialer Medien, strategisch Ressentiments und Unmut zu erzeugen oder zu verstärken und politische Konflikte zu polarisieren, um damit Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Soziale Medien leben von Emotionen, griffigen Statements und radikalen Zuspitzungen. Von den Mitte-Parteien unterscheiden sich Protestparteien entsprechend durch extremere oder radikalere Positionen, was insbesondere dann auf größeren Widerhall stößt, wenn der Eindruck fehlender Responsivität in Teilen der Gesellschaft bereits vorhanden ist. Solcherlei Unbehagen kann dann von Parteien affektiv polarisiert und in Protesthaltungen kanalisiert werden. Dies gelingt der AfD derzeit am effektivsten. Aber auch die lange Zeit von heftigen innerparteilichen Kontroversen geprägte und nicht zuletzt deshalb um ihre parlamentarische Existenz kämpfende Partei Die Linke konnte im Bundestagswahlkampf 2025 Protesthaltungen für sich nutzen und für den „Kampf gegen rechts“ mobilisieren. Gekonnt inszenierte sie sich als Antipode zur AfD und als Kämpferin gegen hohe Mieten und gestiegene Lebenshaltungskosten. Damit erreichte sie in erster Linie junge Menschen mit Abitur, vornehmlich in den Großstädten und stark weiblich geprägt. Die Linke hat im Wahlkampf insbesondere den Grünen erheblich zugesetzt und nicht wenige Wähler von ihnen gewinnen können. Überhaupt hat der Bundestagswahlkampf die wachsende Kluft zwischen den Parteianhängerschaften, insbesondere zwischen den Anhängern von Grünen und Linken einerseits und denen der AfD anderseits, deutlich vor Augen geführt.

Die Grünen haben als etablierter Antipode der AfD in soziokulturellen Fragen mittlerweile eine recht hohe Stammwählerschaft, nicht zuletzt auch aufgrund der hohen Relevanz der Umwelt- und Klimapolitik in den Augen ihrer Wähler. Trotz aller Versuche der programmatischen Flexibilisierung rekrutieren sie ihre Wählerschaft primär aus den großstädtischen, formal sehr gut ausgebildeten Milieus mit entsprechend überdurchschnittlichem Haushaltseinkommen. Postmaterialistische, progressive Werte spielen für sie eine zentrale Rolle. Während die Grünen in urbanen Räumen hohe Akzeptanz finden, werden sie „auf dem Land mehrheitlich abgelehnt“. Diese Ablehnung hat sich in der Zeit der Ampelkoalition verstärkt und das Wählerpotenzial der Grünen deutlich schrumpfen lassen, da die noch immer wahlentscheidenden Wähler der politischen Mitte die Transformationsgeschwindigkeit der Partei kritisch betrachten und die – nach Ansicht nicht weniger Wähler – wieder stärker ideologiebasierte Politik zu wenig die Bedürfnisse dieser Klientel in den Blick genommen hat. Mehr als 60 Prozent aller Wähler ordnen sich weiterhin der politischen Mitte zu, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie Ideologien eher skeptisch betrachtet und stattdessen eine problemlösungsorientierte und weniger parteigebundene Politik favorisiert.

Auch in ehemaligen Industriezentren ist die Skepsis gegenüber den Grünen gewachsen. Gerade dort – wie auch in ländlichen Gebieten – punktete zuletzt die AfD, die überdurchschnittliche Ergebnisse mit zunehmender Ländlichkeit erzielt und zuletzt auch in den ökonomisch wenig prosperierenden Regionen Erfolge verbuchen konnte. Dass die AfD zuletzt relativ erfolgreich war, das BSW schnell in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde wuchs und gleichzeitig die Union als größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag nur unterdurchschnittlich von der Unzufriedenheit gegenüber der Ampelkoalition profitieren konnte, verdeutlicht den angesprochenen Vertrauensverlust in die etablierten politischen Parteien.

Der Aufstieg der AfD zur zweitstärksten Partei bei der Bundestagswahl 2025 ist der markanteste Indikator für die Instabilität des deutschen Parteiensystems und seine De-Institutionalisierung. Wegen ihres Politikansatzes des autoritären Populismus und ihres kulturkämpferischen Auftretens sehen Kritiker der AfD zentrale Grundsätze der liberalen Demokratie in Gefahr. Ihr Erfolg kann sowohl kulturell (Betonung nationaler Identität und Forderung nach deutlicher Begrenzung von Migration) wie ökonomisch (Wahrnehmung ökonomischer Missstände sowie subjektiver ökonomischer Deprivation) erklärt werden. Gefühle von Ungerechtigkeit, prospektive Verlustangst, steigende Einkommensungleichheit, fehlende gesellschaftliche Anerkennung, das Gefühl, unfair behandelt zu werden, themenbezogene politische Unzufriedenheit, geringe Responsivität, Unzufriedenheit mit dem aktuellen Funktionieren der Demokratie und Skepsis gegenüber Freihandel und Migration – all das sind Erklärungsansätze für den Aufstieg populistischer Parteien in Europa und auch in Deutschland. Entscheidend ist dabei das Gefühl relativer Deprivation, das heißt das subjektiv empfundene Gefühl gesellschaftlicher Benachteiligung und individueller Entwertung. Besonders in den östlichen Bundesländern sind solcherlei Einstellungen vermehrt anzutreffen: „Eastern Germany is a territory that is both socio-economically less disposed towards electoral participation and strongly marked by the politics of subjective status loss that should fuel the rejection of mainstream political parties and the disposition to vote for populist forces of different kind.“

Davon konnte auch das BSW profitieren, das nur ein Jahr nach seiner Gründung als Partei fast die Fünf-Prozent-Hürde überwinden konnte. Sein rascher Wahlerfolg verdeutlicht, dass neue Herausforderer-Parteien ungleich schneller als in der Vergangenheit ein hohes Maß an Wählergunst erreichen können. Im Bundestagswahlkampf hat die neu gegründete Partei populistische Aspekte der Anti-Establishment-Haltung und der affektiven Polarisierung für sich zu nutzen versucht. Gründe für den schnellen Wahlerfolg bei den ostdeutschen Landtagswahlen 2024 und der Wahl zum EU-Parlament im gleichen Jahr waren die Popularität der Parteigründerin und -vorsitzenden Sahra Wagenknecht bei ihren Anhängern, die politische Positionierung als sozioökonomisch staatsinterventionistisch, aber soziokulturell traditionell-konservativ und die populistische Grundhaltung. Mit dieser Verortung ist das BSW ein Novum im Koordinatensystem des deutschen Parteienwettbewerbs. Seine Wähler kommen hauptsächlich von der Linken und zeichnen sich vor allem durch eine niedrige Demokratiezufriedenheit, ein Eintreten für die Begrenzung von Zuwanderung und hohen Populismus aus. Die migrationskritische Haltung wurde gemeinhin als ein gewichtiger Faktor gesehen, umso überraschender war es, dass ausgerechnet das BSW dieses Thema im Bundestagswahlkampf kaum aufgegriffen hat – was letztlich zum knappen Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde beigetragen haben dürfte.

Erschwerte Regierungsbildung

Die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems erschwert die Regierungsbildung erheblich, was in einer starken Segmentierung seinen Ausdruck findet. „Segmentierung“ misst den Anteil der politisch machbaren an den rechnerisch möglichen Koalitionen: Ist der errechnete Wert niedrig, ist die Segmentierung hoch (Abbildung 4). Koalitionsregierungen sind der Regelfall in Deutschland. Seit 2005 sind sogar sogenannte lagerübergreifende Koalitionen häufig anzutreffen, das heißt, dass mindestens eine Partei des rechten bürgerlich-konservativen Lagers mit einer Partei des progressiv-linken Spektrums eine Regierung bildet.

Die FDP als Befürworterin marktliberaler Positionen wiederum musste in der Ampelkoalition mit SPD und Grünen die Erfahrung machen, dass eine von weiten Teilen ihrer eigenen Wählerschaft von Beginn an skeptisch beäugte Koalitionskonstellation mit dazu beitragen kann, die parlamentarische Existenz aufs Spiel zu setzen und letztlich einzubüßen. Ihre strategisch angedachte Rolle als liberales Korrektiv konnte sie aus Sicht ihrer Wählerbasis nicht überzeugend genug ausfüllen, ihre häufig gegensätzlichen Haltungen und Positionen gegenüber Grünen und SPD drückten ihr zudem von Kritikern den – begrifflich etwas unscharfen – Stempel der „Opposition in der Regierung“ auf.

Da die FDP den Einzug in den Bundestag verpasste und die AfD von allen Parteien als nicht koalitionsfähig betrachtet wird, war nach der Bundestagswahl 2025 nur eine einzige politische Konstellation im Bundestag mehrheitsfähig: die nun regierende aus CDU/CSU und SPD. Dies illustriert augenfällig die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Herstellung parlamentarischer Mehrheitskoalitionen. Die gestiegene Segmentierung hat zur Folge, dass es seit 1998 keinen einzigen vollständigen Regierungswechsel in Deutschland mehr gegeben hat. Mindestens eine Regierungspartei der vorherigen Legislaturperiode hat auch in der darauffolgenden regiert. Insbesondere die SPD als funktionale Regierungspartei ist somit – mit Ausnahme der Phase zwischen 2009 und 2013 – seit 1998 dauerhaft mit Regierungsaufgaben betraut. Jedoch ist diese Struktureigenschaft des Parteiensystems nicht unproblematisch, da Alternierungs- und Innovationskapazitäten des Parteiensystems so ihre enge Begrenzung finden und der Wettbewerb im Hinblick auf Regierungsbildung nur als partiell offen gelten kann. Anzeichen der Schließung sind unübersehbar.

Damit trägt auch das Parteiensystem nicht unerheblich dazu bei, dass grundlegende Politikwechsel in Deutschland kaum möglich sind. Konsens und Kompromiss – zumeist lagerübergreifend – werden durch den Föderalismus mitsamt der Mitwirkung des Bundesrates an gesamtstaatlicher Politik ohnehin schon gefordert und gefördert. Die zunehmende Segmentierung verstärkt diese Tendenzen, hat aber zuletzt die politische Mitte eher geschwächt und die Ränder gestärkt.

Bedrohte Stabilität?

Vom ursprünglichen moderaten Pluralismus mit der Dominanz zweier Volksparteien ist nicht mehr viel übriggeblieben. Die Zweiparteiendominanz scheint gebrochen, CDU/CSU und SPD verlieren beständig an Wählergunst. Im Gegensatz dazu gewinnen Herausforderer-Parteien an Zuspruch, insbesondere solche, die politischen Protest, Anti-Establishment-Positionen und radikale Forderungen in den Vordergrund stellen. Diese Anzeichen der Destabilisierung lassen das deutsche Parteiensystem in Richtung eines polarisierten Pluralismus tendieren.

Es kann deshalb von einem fluiden pluralistischen System gesprochen werden, mit eindeutigen Tendenzen zur Polarisierung sowie erhöhter Fragmentierung und Segmentierung. Das deutsche Parteiensystem folgt damit einem Trend, der vielfach in Europa zu beobachten ist und von steigender Volatilität begleitet wird. Die erschwerte Herstellung mehrheitsfähiger Koalitionsregierungen und das Fehlen eines vollständigen Regierungswechsels seit 1998 sind bedenkliche Nebenerscheinungen, die – neben der erheblichen Zunahme der Polarisierung mit all ihren Aus- und Nebenwirkungen – die Stabilität der liberalen Parteiendemokratie insgesamt bedrohen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Vincenzo Emanuele/Bruno Marino, Party System Ideological Polarization in Western Europe: Data, Trends, Drivers, and Links with Other Key Party System Properties (1945–2021), in: Political Research Exchange 1/2024, Externer Link: https://doi.org/10.1080/2474736X.2024.2399095.

  2. Vgl. Oskar Niedermayer, Die Verfestigung des pluralistischen Parteiensystems, in: Uwe Jun/ders. (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2021. Neueste Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland, Wiesbaden 2023, S. 1–40.

  3. Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems, Cambridge 1976.

  4. Vgl. dazu schon Aiko Wagner, Typwechsel 2017? Vom moderaten zum polarisierten Pluralismus, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2019, S. 114–129.

  5. Siehe dazu auch schon Uwe Jun, Volksparteien Under Pressure: Challenges and Adaptation, in: German Politics 1/2011, S. 200–222.

  6. Vgl. Klara Dentler, From Ambivalence to Vote Switching: Investigating the Underlying Mechanisms in Three European Multi-Party Systems, in: Kathrin Ackermann/Heiko Giebler/Martin Elff (Hrsg.), Deutschland und Europa im Umbruch: Einstellungen, Verhalten und Forschungsperspektiven im Kontext der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl 2019, Wiesbaden 2023, S. 133–177.

  7. Vgl. Mogens N. Pedersen, Electoral Volatility in Western Europe, 1948–1977, in: Peter Mair (Hrsg.), The West European Party System, Oxford 1990, S. 195–207.

  8. Siehe dazu mit Belegen Oscar W. Gabriel, Responsivität im polarisierten Pluralismus – Zur Entwicklung der Einstellungskongruenz zwischen Politikern und Wählern auf umstrittenen Politikfeldern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2/2023, S. 408–439.

  9. Vgl. Steffen Mau/Thomas Lux/Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023, S. 419. An anderer Stelle heißt es: „Wut als politisches Gefühl ist damit vor allem in den unteren Schichten und Statusgruppen konzentriert“ (S. 341).

  10. Vgl. Oscar W. Gabriel, Responsivität im polarisierten Pluralismus – Teil 2: Die Rolle der Parteien, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2024, S. 171–203.

  11. Vgl. Viola Neu/Sabine Pokorny, Wahlanalyse der Bundestagswahl am 23. Februar 2025, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2025.

  12. Siehe Universität Trier/Infratest dimap, Jugendstudie 2024/25, Trier 2025.

  13. Elmar Wiesendahl, Aufbruch im Rückwärtsgang. Die CDU unter Merz, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 1–2/2024, S. 207–212, hier S. 209.

  14. Vgl. Gerd Mielke/Fedor Ruhose, Auf dünnem Eis. Die SPD in Krisenzeiten, Frankfurt/M.–New York 2024.

  15. SPD-Parteivorstand, Verantwortung in schwierigen Zeiten mit Mut zur Erneuerung, Berlin, 3.3.2025, S. 1.

  16. Die schon vor 25 Jahren von Peter Lösche für die SPD gefundenen Attribute scheinen zeitlos zu sein. Vgl. Peter Lösche, Verkalkt – verbürgerlicht – professionalisiert. Der bittere Abschied der SPD von der Mitglieder- und Funktionärspartei, in: Universitas 8/2000, S. 779–793. Siehe auch Christiane Lemke/Dominic Nyhuis, Introduction, in: German Politics and Society 4/2023, S. 1–17 („Possibly the best-studied instance of decline in the German party system is the SPD“, S. 6).

  17. Siehe beispielhaft Marius Minas/Simon Jakobs/Uwe Jun, Die programmatische Seite des Parteienwettbewerbs: Eine Analyse der Wahlprogramme und des Koalitionsvertrags 2021, in: Jun/Niedermayer (Anm. 2), S. 41–75. Dort findet sich auch eine konkrete Verortung der jeweiligen Parteien in beiden Wettbewerbsdimensionen.

  18. Vgl. Andres Reiljan, „Fear and Loathing Across Party Lines“ (Also) in Europe: Affective Polarisation in European Party Systems, in: European Journal of Political Research 2/2020, S. 376–396.

  19. Mau/Lux/Westheuser (Anm. 9), S. 375.

  20. Vgl. Neu/Pokorny (Anm. 11).

  21. Vgl. Dominik Hirndorf, Wachsende Unterschiede zwischen Wählerschaften. Ergebnisse aus repräsentativen Umfragen zu politischen Einstellungen in der deutschen Bevölkerung zu Klimaschutz, Migration und Sozialstaat, Berlin 2024.

  22. Vgl. Zack Blumberg, Living in a Post-material World? Assessing the Impact of Economic and Non-economic Shifts on the Success of the German Greens, in: German Politics 2024, S. 1–32, Externer Link: https://doi.org/10.1080/09644008.2024.2347871.

  23. Dominik Hirndorf, Stadt, Land, … Unterschiede? Politische Einstellungen zwischen Großstadt und ländlichem Raum – Ergebnisse aus repräsentativen Umfragen, Berlin 2024.

  24. Vgl. Renate Köcher, Warum die Grünen an Ansehen verloren haben, 21.3.2024, Externer Link: https://www.faz.net/-19600358.html.

  25. Vgl. Helmut Klages, Expedition zur Mitte. Über die Eigenschaften der Wählerschaft zwischen links und rechts, Frankfurt/M.–New York 2022.

  26. Vgl. Oliver Schmidtke, Transforming the Centre Right Parties in Germany and the United Kingdom: The Increasing Prominence of Identity Politics and Culture Wars Narratives, in: Frontiers in Political Science 2025 (i.E.).

  27. Siehe unter anderem Nicolas Binder, Wirtschafts- und sozialpolitische Einstellungen und Populismus: Vertikale Konfliktachsen statt ideologischer Konsistenz, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS) 2024, S. 505–534, Externer Link: https://doi.org/10.1007/s11615-023-00513-y.

  28. Siehe für Deutschland die Daten bei Caroline Werkmann/Hans-Jürgen Frieß, Enttäuschung, Frust und Resignation. Eine qualitative Analyse der Stimmungslage in Deutschland, Berlin 2024.

  29. Vgl. Binder (Anm. 27).

  30. Cédric M. Koch/Carlos Meléndez/Cristóbal Rovira Kaltwasser, Mainstream Voters, Non-Voters and Populist Voters: What Sets Them Apart?, in: Political Studies 3/2023, S. 893–913. Siehe auch Steffen Mau, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin 2024.

  31. Siehe zur populistischen Grundhaltung der Partei L. Constantin Wurthmann/J. Philipp Thomeczek, Umbrüche im Parteiensystem. Eine (neue) populistische Herausforderung?, Potsdam 2025, S. 17.

  32. Vgl. J. Philipp Thomeczek, Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): Left-Wing Authoritarian – and Populist? An Empirical Analysis, in: PVS 2024, S. 535–552, Externer Link: https://doi.org/10.1007/s11615-024-00544-z; Sarah Wagner/L. Constantin Wurthmann/J. Philipp Thomeczek, Bridging Left and Right? How Sahra Wagenknecht Could Change the German Party Landscape, in: PVS 2023, S. 621–636, Externer Link: https://doi.org/10.1007/s11615-023-00481-3.

  33. Vgl. Michael Jankowski, Das Schließen der Repräsentationslücke? Die Wählerschaft des Bündnis Sahra Wagenknecht – Eine Analyse basierend auf Paneldaten, in: PVS 2024, Externer Link: https://doi.org/10.1007/s11615-024-00583-6; Jochen Roose, Öfter mal was Neues. Repräsentative Umfrage zu den Wählerinnen und Wählern der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), Berlin 2024.

  34. Siehe auch Volker Best, Institutionelle Konsequenzen des Parteiensystemwandels in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2/2024, S. 426–448.

  35. Vgl. Fernando Casal Bértoa/Zsolt Enyedi, Party System Closure. Party Alliances, Government Alternatives, and Democracy in Europe, Oxford 2021.

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ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Instituts für Demokratie- und Parteienforschung an der Universität Trier.