Schon seit längerer Zeit konstatieren Parteienforscher erhebliche Wandlungstendenzen in westeuropäischen Parteiensystemen, von denen auch das deutsche Parteiensystem betroffen ist.
In dieser Diskontinuität zeigt sich gleichwohl eine gewisse Kontinuität, denn die konstatierten Wandlungsprozesse hin zu einem verfestigten Pluralismus haben sich mit der Bundestagswahl 2025 fortgesetzt. Seit 2009 spricht die Parteienforschung in Deutschland von einem Typenwechsel des deutschen Parteiensystems, und zwar weg von einem System mit Zweiparteiendominanz und hin zu einem pluralistischen.
In der Parteienforschung wird zwischen einem moderaten und einem polarisierten Pluralismus unterschieden,
Fragmentierung und schleichender Niedergang der Volksparteien
Mit Blick auf die Kennzeichnung eines pluralen Parteiensystems sind die zentralen Größen das Format, also die Anzahl der relevanten Parteien, und das Ausmaß der Fragmentierung. Hinzu kommen Segmentierung und Polarisierung.
Die Fragmentierung eines Parteiensystems beschreibt die Anzahl der Parteien und deren jeweilige Größenordnung zueinander und misst damit die effektive Zahl relevanter Parteien. Unterschieden werden kann dabei zwischen der parlamentarisch-gouvernementalen Ebene, also der in Parlament und Regierung vertretenen Parteien, und der elektoralen Ebene, welche die Anteile der Parteien rein auf der Wählerebene bestimmt. Während auf der elektoralen Ebene der Fragmentierungsgrad nach der Bundestagswahl 2025 einen neuen Höchststand verzeichnet, ist er auf parlamentarisch-gouvernementaler Ebene leicht zurückgegangen (Abbildung 1), da das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die FDP den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasst haben, im Falle des BSW nur denkbar knapp. Insgesamt zeigt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine deutlich zunehmende Fragmentierung.
Die Hauptursache für diese Entwicklung ist der seit Langem zu beobachtende schleichende elektorale Niedergang der sich als Volksparteien bezeichnenden Kräfte CDU/CSU und SPD, die lange Zeit den Wettbewerb dominierten. Konnten diese drei Parteien in den 1970er Jahren bei Bundestagswahlen noch mehr als 90 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen auf sich vereinen, so sank ihr Anteil bei der jüngsten Bundestagswahl auf den historischen Tiefststand von weniger als 45 Prozent (Abbildung 2). Die gesellschaftliche Verankerung der Union und der Sozialdemokraten hat sich spürbar gelockert, abzulesen auch an den Rückgängen ihrer Mitgliederzahlen, die sich seit der Hochzeit der 1970er Jahre mehr als halbiert haben. Es ist allen drei Parteien zuletzt immer weniger gelungen, expressive Bindungsmotive von potenziellen Mitgliedern und affektive Bedürfnisse der Wähler zu befriedigen.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Zunächst zu nennen ist die Erosion der traditionellen Stammwählergruppen, also der kirchengebundenen, insbesondere der katholischen Kirche nahestehenden Wähler (CDU/CSU) beziehungsweise der gewerkschaftsnahen Arbeitnehmer (SPD), die schon zahlenmäßig deutliche Rückgänge zu verzeichnen haben und deren Parteibindung zu Union und SPD spürbar abgenommen hat. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse wie die Pluralisierung von Lebensstilen, Individualisierung und Singularisierung haben dem auf die Integration möglichst aller heterogenen gesellschaftlichen Gruppen abzielenden Typus der Volkspartei arg zugesetzt.
Eine Folge dieser gesellschaftlichen Entwicklungen war eine abnehmende Parteibindung und eine zunehmende Volatilität des Wahlverhaltens, was sich in einer größer werdenden Zahl von Wechselwählern ausdrückt und die genannte Fragmentierung des Parteiensystems mit bewirkt hat. Für Wechselwähler spielen Themen- und Kandidatenorientierungen eine entscheidende Rolle: Treten Ambivalenzen in ihrer Wahrnehmung von Themen und Kandidaten auf, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Wechselwahl.
Eigene Versäumnisse – wie etwa die von nicht wenigen Wählern als eher gering wahrgenommene Responsivität bei wichtigen politischen Themen wie Migration, Infrastruktur oder Digitalisierung – kommen zu den gesellschaftlichen Entwicklungen hinzu. Solche Themen mit erheblichem gesellschaftlichem Konfliktpotenzial fanden in den Augen vieler Wähler bei CDU/CSU und SPD nicht ausreichend Widerhall, insbesondere im Politikfeld Migration, aber auch in Bezug auf Verteilungsfragen.
Hier schneidet insbesondere die SPD mit Blick auf ihre Responsivität nicht gut ab; ihr Personal wird als von ihren Wählern ideologisch besonders weit entfernt wahrgenommen.
Zumindest für die SPD werden Zweifel immer lauter, ob die Selbstbeschreibung als Volkspartei noch angebracht ist. Die Sozialdemokraten werden in einer aktuellen Publikation als „funktionale Regierungspartei“ charakterisiert, die sich von vielen ihrer vormaligen Wähler in der Arbeitnehmerschaft entfremdet und von ihren traditionellen Wählermilieus entfernt habe.
Aufstieg der Herausforderer-Parteien
An die Stelle von integrativen Volksparteien treten zunehmend deren Herausforderer – oftmals als Ein- oder Zwei-Themen-Parteien wahrgenommene Organisationen oder Protestparteien, die sich gegen das politische und/oder wirtschaftliche beziehungsweise mediale Establishment stellen und nicht selten populistische Narrative für sich nutzen. Da ein Parteiensystem gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelt, ziehen Pluralisierung und die zunehmende Vielfalt mit partiellem Auseinanderdriften der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen nicht nur Fragmentierung, sondern auch eine Polarisierung des Parteienwettbewerbs nach sich. Die Polarisierung eines Parteiensystems wird anhand der ideologisch-programmatischen Differenzen zwischen den einzelnen Parteien bestimmt,
In jüngerer Zeit hat zudem auch die affektive Polarisierung zugenommen. Affektive Polarisierung geht über die ideologisch-programmatische hinaus und meint ein Auseinanderdriften der Parteianhängerschaften, das bis hin zum Freund-Feind-Denken führen kann,
Soziale Medien leben von Emotionen, griffigen Statements und radikalen Zuspitzungen. Von den Mitte-Parteien unterscheiden sich Protestparteien entsprechend durch extremere oder radikalere Positionen, was insbesondere dann auf größeren Widerhall stößt, wenn der Eindruck fehlender Responsivität in Teilen der Gesellschaft bereits vorhanden ist. Solcherlei Unbehagen kann dann von Parteien affektiv polarisiert und in Protesthaltungen kanalisiert werden. Dies gelingt der AfD derzeit am effektivsten. Aber auch die lange Zeit von heftigen innerparteilichen Kontroversen geprägte und nicht zuletzt deshalb um ihre parlamentarische Existenz kämpfende Partei Die Linke konnte im Bundestagswahlkampf 2025 Protesthaltungen für sich nutzen und für den „Kampf gegen rechts“ mobilisieren.
Die Grünen haben als etablierter Antipode der AfD in soziokulturellen Fragen mittlerweile eine recht hohe Stammwählerschaft, nicht zuletzt auch aufgrund der hohen Relevanz der Umwelt- und Klimapolitik in den Augen ihrer Wähler. Trotz aller Versuche der programmatischen Flexibilisierung rekrutieren sie ihre Wählerschaft primär aus den großstädtischen, formal sehr gut ausgebildeten Milieus mit entsprechend überdurchschnittlichem Haushaltseinkommen.
Auch in ehemaligen Industriezentren ist die Skepsis gegenüber den Grünen gewachsen. Gerade dort – wie auch in ländlichen Gebieten – punktete zuletzt die AfD, die überdurchschnittliche Ergebnisse mit zunehmender Ländlichkeit erzielt und zuletzt auch in den ökonomisch wenig prosperierenden Regionen Erfolge verbuchen konnte. Dass die AfD zuletzt relativ erfolgreich war, das BSW schnell in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde wuchs und gleichzeitig die Union als größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag nur unterdurchschnittlich von der Unzufriedenheit gegenüber der Ampelkoalition profitieren konnte, verdeutlicht den angesprochenen Vertrauensverlust in die etablierten politischen Parteien.
Der Aufstieg der AfD zur zweitstärksten Partei bei der Bundestagswahl 2025 ist der markanteste Indikator für die Instabilität des deutschen Parteiensystems und seine De-Institutionalisierung. Wegen ihres Politikansatzes des autoritären Populismus und ihres kulturkämpferischen Auftretens
Davon konnte auch das BSW profitieren, das nur ein Jahr nach seiner Gründung als Partei fast die Fünf-Prozent-Hürde überwinden konnte. Sein rascher Wahlerfolg verdeutlicht, dass neue Herausforderer-Parteien ungleich schneller als in der Vergangenheit ein hohes Maß an Wählergunst erreichen können. Im Bundestagswahlkampf hat die neu gegründete Partei populistische Aspekte der Anti-Establishment-Haltung und der affektiven Polarisierung für sich zu nutzen versucht.
Erschwerte Regierungsbildung
Die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems erschwert die Regierungsbildung erheblich, was in einer starken Segmentierung seinen Ausdruck findet. „Segmentierung“ misst den Anteil der politisch machbaren an den rechnerisch möglichen Koalitionen: Ist der errechnete Wert niedrig, ist die Segmentierung hoch (Abbildung 4).
Die FDP als Befürworterin marktliberaler Positionen wiederum musste in der Ampelkoalition mit SPD und Grünen die Erfahrung machen, dass eine von weiten Teilen ihrer eigenen Wählerschaft von Beginn an skeptisch beäugte Koalitionskonstellation mit dazu beitragen kann, die parlamentarische Existenz aufs Spiel zu setzen und letztlich einzubüßen. Ihre strategisch angedachte Rolle als liberales Korrektiv konnte sie aus Sicht ihrer Wählerbasis nicht überzeugend genug ausfüllen, ihre häufig gegensätzlichen Haltungen und Positionen gegenüber Grünen und SPD drückten ihr zudem von Kritikern den – begrifflich etwas unscharfen – Stempel der „Opposition in der Regierung“ auf.
Da die FDP den Einzug in den Bundestag verpasste und die AfD von allen Parteien als nicht koalitionsfähig betrachtet wird, war nach der Bundestagswahl 2025 nur eine einzige politische Konstellation im Bundestag mehrheitsfähig: die nun regierende aus CDU/CSU und SPD. Dies illustriert augenfällig die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Herstellung parlamentarischer Mehrheitskoalitionen. Die gestiegene Segmentierung hat zur Folge, dass es seit 1998 keinen einzigen vollständigen Regierungswechsel in Deutschland mehr gegeben hat. Mindestens eine Regierungspartei der vorherigen Legislaturperiode hat auch in der darauffolgenden regiert. Insbesondere die SPD als funktionale Regierungspartei ist somit – mit Ausnahme der Phase zwischen 2009 und 2013 – seit 1998 dauerhaft mit Regierungsaufgaben betraut. Jedoch ist diese Struktureigenschaft des Parteiensystems nicht unproblematisch, da Alternierungs- und Innovationskapazitäten des Parteiensystems so ihre enge Begrenzung finden und der Wettbewerb im Hinblick auf Regierungsbildung nur als partiell offen gelten kann. Anzeichen der Schließung sind unübersehbar.
Damit trägt auch das Parteiensystem nicht unerheblich dazu bei, dass grundlegende Politikwechsel in Deutschland kaum möglich sind. Konsens und Kompromiss – zumeist lagerübergreifend – werden durch den Föderalismus mitsamt der Mitwirkung des Bundesrates an gesamtstaatlicher Politik ohnehin schon gefordert und gefördert. Die zunehmende Segmentierung verstärkt diese Tendenzen, hat aber zuletzt die politische Mitte eher geschwächt und die Ränder gestärkt.
Bedrohte Stabilität?
Vom ursprünglichen moderaten Pluralismus mit der Dominanz zweier Volksparteien ist nicht mehr viel übriggeblieben. Die Zweiparteiendominanz scheint gebrochen, CDU/CSU und SPD verlieren beständig an Wählergunst. Im Gegensatz dazu gewinnen Herausforderer-Parteien an Zuspruch, insbesondere solche, die politischen Protest, Anti-Establishment-Positionen und radikale Forderungen in den Vordergrund stellen. Diese Anzeichen der Destabilisierung lassen das deutsche Parteiensystem in Richtung eines polarisierten Pluralismus tendieren.
Es kann deshalb von einem fluiden pluralistischen System gesprochen werden, mit eindeutigen Tendenzen zur Polarisierung sowie erhöhter Fragmentierung und Segmentierung. Das deutsche Parteiensystem folgt damit einem Trend, der vielfach in Europa zu beobachten ist und von steigender Volatilität begleitet wird. Die erschwerte Herstellung mehrheitsfähiger Koalitionsregierungen und das Fehlen eines vollständigen Regierungswechsels seit 1998 sind bedenkliche Nebenerscheinungen, die – neben der erheblichen Zunahme der Polarisierung mit all ihren Aus- und Nebenwirkungen – die Stabilität der liberalen Parteiendemokratie insgesamt bedrohen.