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Zwischen Notlösung und Zukunftsmodell | bpb.de

Zwischen Notlösung und Zukunftsmodell Die unterschätzte Stärke von Minderheitsregierungen

Theres Matthieß

/ 14 Minuten zu lesen

Minderheitsregierungen sind in einem polarisierten Parteiensystem kein Allheilmittel, aber sie sind mehr als das letzte Mittel in der Not. Richtig gestaltet, können sie eine Antwort auf die politischen Realitäten einer zunehmend fragmentierten Demokratie sein.

„Natürlich macht eine stabile Mehrheit im Bundestag das Regieren einfacher. (…) Wir sollten aber lernen, auch mal eine Bundesregierung zu haben, die sich nicht auf festgemauerte Mehrheiten stützen kann.“

„Ich bin kein Fan von Minderheitsregierungen, weil letztendlich jeder jedem alles verspricht, aber keiner am Ende Verantwortung trägt. Ich bin daher ein absoluter Verfechter von Neuwahlen. Das Land braucht eine nach vorn gerichtete, stabile Führung – und die hat es derzeit nicht.“

Rund um Bundestagswahlen herum wird regelmäßig über mögliche Koalitionen spekuliert, und auch das Thema „Minderheitsregierung“ rückt dabei immer öfter in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses. So war es auch bei den beiden jüngsten Bundestagswahlen. Die eingangs wiedergegebenen Zitate aus dem Bundestagswahlkampf 2021 illustrieren die übliche Bandbreite der Kontroverse: Während der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) in Minderheitsregierungen eine Chance sah, flexibel und abseits festgefügter Mehrheiten Politik zu gestalten, warnte Carsten Schneider, seinerzeit Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion und heutiger Bundesumweltminister, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der damaligen Minderheitsregierung in Thüringen vor mangelnder Verlässlichkeit und Verantwortungsdiffusion.

Der Blick über Deutschland hinaus zeigt: Rund ein Drittel der Regierungen in Europa und weiteren westlichen Demokratien sind Minderheitsregierungen – sie sind also keineswegs eine Ausnahme- oder reine Krisenerscheinung. In Ländern wie Dänemark, Schweden und Norwegen sind Minderheitsregierungen sogar häufiger anzutreffen als Mehrheitsregierungen, und auch in Neuseeland, Spanien oder Kanada kam es in jüngster Zeit öfter zur Bildung solcher Regierungsbündnisse.

Die Forschung zeigt, dass viele Vorurteile gegenüber Minderheitsregierungen nicht gerechtfertigt sind. Zwar gelten sie als weniger stabil, doch hängt dies stark von ihrer konkreten Ausgestaltung ab: Minderheitsregierungen mit verlässlichen Unterstützungspartnern aus der Opposition sind oft genauso stabil wie Mehrheitsregierungen. Zudem zeigen zahlreiche Studien, dass eine solche Konstellation nicht automatisch zu Blockaden führt, sondern genauso leistungsfähig bei der Verabschiedung von Gesetzen sein kann. Überraschend ist vielleicht, dass Minderheitsregierungen sogar einige Vorteile mit sich bringen können: Im Idealfall beleben sie die parlamentarische Kultur, fördern konsensorientierte Entscheidungen und ermöglichen flexible Mehrheitsbildungen, die häufig die politische Medianposition besser widerspiegeln als Mehrheitsregierungen.

Institutionell wird die Bildung von Minderheitsregierungen besonders durch den „negativen Parlamentarismus“ begünstigt. In Ländern wie Dänemark und Schweden genügt es, wenn keine parlamentarische Mehrheit gegen die Regierung zustande kommt, sodass Regierungen auch ohne gesicherte Mehrheit amtieren können. In Deutschland hingegen ist auf Bundesebene der sogenannte positive Parlamentarismus verankert (Artikel 63 GG), das heißt, der Bundeskanzler benötigt eine absolute (beziehungsweise ab dem dritten Wahlgang relative) Mehrheit im Bundestag, um ins Amt zu kommen. Minderheitsregierungen sind dadurch nicht ausgeschlossen, aber formal deutlich erschwert. Wenn ein mit relativer Mehrheit im dritten Wahlgang gewählter Kanzler eine glaubwürdige Aussicht auf konstruktive Regierungsarbeit bietet und der Bundespräsident ihn ernennt, genießt er faktisch sogar besonderen Schutz, da er nur durch eine absolute Mehrheit per konstruktivem Misstrauensvotum abgelöst werden kann.

Während es auf Bundesebene in Deutschland noch nie eine Minderheitsregierung gab, finden sich auf Länderebene einige Beispiele: das sogenannte Magdeburger Modell in Sachsen-Anhalt (1994–2002, SPD-geführte Minderheitsregierung mit Unterstützung durch die PDS), die Regierung Hannelore Krafts in Nordrhein-Westfalen (2010–2012, rot-grüne Minderheitsregierung), die Thüringer Minderheitsregierungen unter Bodo Ramelow (2020–2024; Linke, SPD und Grüne) und Mario Voigt (seit 2024; CDU, BSW und SPD) sowie die ebenfalls seit 2024 in Sachsen regierende CDU-SPD-Minderheitsregierung unter Michael Kretschmer. Diese Fälle zeigen, dass ein zunehmend fragmentiertes Parteiensystem herkömmliche Mehrheitsbildungen erschwert – vor allem, weil keine Partei mit der AfD koalieren möchte. Es stellt sich daher zunehmend die Frage, ob Minderheitsregierungen künftig auch auf Bundesebene eine realistische Option darstellen könnten – als Alternative zu ungeliebten Mehrparteienkoalitionen wie der Ampel und als flexibleres Modell jenseits eines traditionellen, starren Koalitionsverständnisses.

Wie gut aber regieren Minderheitsregierungen? Und was hält die Wahlbevölkerung von dieser Regierungsform? Unter welchen Umständen unterstützt sie diese Art des Regierens? Diesen Fragen wird im Folgenden näher nachgegangen.

Wie leistungsfähig sind Minderheitsregierungen?

Sowohl in der öffentlichen als auch in der politikwissenschaftlichen Debatte galten Minderheitsregierungen lange als instabil, funktionsunfähig und als Ausdruck politischer Krise. Doch wie leistungsfähig sind Minderheitsregierungen tatsächlich? Bleiben sie hinter der Wirkungsfähigkeit von Mehrheitsregierungen zurück? Blockieren Oppositionsparteien systematisch die Verabschiedung von Gesetzen? Eine Möglichkeit, die Regierungsleistung zu messen, ist die Analyse der Umsetzung von Wahlversprechen – also jener politischen Vorhaben, mit denen Parteien in den Wahlkampf ziehen und an denen sie sich im Sinne des „Responsible Party Model“ und der „Promissory Representation“ messen lassen müssen. Der Grundgedanke ist einfach: Parteien versprechen vor der Wahl bestimmte politische Maßnahmen und Ziele, und Wählerinnen und Wähler erwarten, dass diese Versprechen in Regierungsverantwortung eingelöst werden. Da es in Deutschland Erfahrungen mit Minderheitsregierungen bislang nur auf Länderebene gibt, kann ihre Performanz im Vergleich zu Mehrheitskoalitionen auch nur dort untersucht werden. Am Beispiel der 2010 in Nordrhein-Westfalen gebildeten rot-grünen Minderheitsregierung lassen sich gleichwohl interessante Erkenntnisse gewinnen.

Bei der Frage, ob Minderheitsregierungen Wahlversprechen ebenso gut umsetzen können wie Mehrheitsregierungen, stehen sich zwei theoretische Hypothesen gegenüber: Die erste lautet, dass Minderheitsregierungen dies unter bestimmten Bedingungen ebenso gut gelingt. Entscheidend sei dabei nicht der formale Mehrheitsstatus, sondern die strategische Verhandlungsposition im Parlament. Wenn Minderheitsregierungen die ideologische Medianposition einnehmen – also genau in der Mitte des politischen Spektrums positioniert sind – und/oder über starke Agenda-Setting-Rechte verfügen, können sie wechselnde Mehrheiten organisieren und ihre Vorhaben flexibel durchsetzen. Die entgegenstehende Hypothese formuliert die Erwartung, dass auch bei einer günstigen Ausgangslage inhaltliche Zugeständnisse an die Opposition gemacht werden müssen, um Mehrheiten zu sichern. Dies gilt besonders dann, wenn Oppositionsparteien eine geringe Kompromissbereitschaft aufweisen – etwa, weil sie sich gute Chancen auf eine Regierungsbeteiligung in naher Zukunft ausrechnen. In solchen Fällen werden, so die Annahme, selbst zentrale Projekte der Regierung nur in abgeschwächter Form umgesetzt werden können – oder sogar ganz blockiert. Minderheitsregierungen müssten daher häufiger Konzessionen eingehen, was sich negativ auf die Umsetzung von Wahlversprechen auswirken kann.

Eine exemplarische empirische Prüfung beider Hypothesen mittels eines Vergleichs der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen mit ihrer schwarz-gelben Vorgängerregierung unterstützt die erste Hypothese. Untersucht wurden insgesamt 183 Wahlversprechen im Bereich der Bildungspolitik – ein Politikfeld, das in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt und daher besonders geeignet ist, um Regierungsleistung auf Landesebene zu messen. „Wahlversprechen“ wird dabei definiert als eine überprüfbare, hinreichend konkrete politische Zusage zur Umsetzung eines Ziels oder einer Maßnahme. Analysiert wurde, ob die Wahlversprechen innerhalb von zwei Jahren gesetzlich umgesetzt wurden, und wenn ja, in welchem Umfang – vollständig, teilweise oder gar nicht.

Ein zentrales Ergebnis ist, dass beide Regierungskonstellationen innerhalb der ersten beiden Jahre ihrer Regierungszeit etwa ein Drittel ihrer Wahlversprechen zumindest teilweise umsetzen konnten (Abbildung 1). Die oft kolportierte Annahme, dass Minderheitsregierungen grundsätzlich weniger leisten, wird durch diese Daten also nicht gestützt. Hinsichtlich der Gesamtquote umgesetzter Versprechen zeigt sich ebenfalls eine weitgehende Parität. Ein genauerer Blick auf die Qualität der Umsetzung offenbart jedoch graduelle Unterschiede: Während die CDU als stärkste Kraft in der Mehrheitsregierung einen größeren Anteil ihrer Versprechen vollständig realisieren konnte, musste sich die SPD in der Minderheitsregierung häufiger mit Teilerfolgen in Form von partiell erfüllten Wahlversprechen begnügen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Schulstrukturreform: SPD und Grüne wollten die bestehenden Schulformen durch Gemeinschaftsschulen ersetzen. Nachdem ein erster Gesetzesentwurf scheiterte, wurde gemeinsam mit der CDU ein Kompromiss ausgehandelt – die Einführung der „Sekundarschule“. Dieser Schritt bedeutete zwar eine Reform, blieb aber hinter den ursprünglichen Ambitionen der Regierung zurück. Das Beispiel zeigt, dass Minderheitsregierungen mitunter auf Kompromisse angewiesen sind und eventuelle Gestaltungsansprüche in Verhandlungen mit der Opposition abschwächen müssen.

Die Studie untersuchte nicht nur die gesetzliche Umsetzung von Wahlversprechen, sondern auch, wie eine Regierung sich bereits in den Koalitionsverhandlungen Spielräume sichert (Abbildung 2. In der NRW-Minderheitskoalition stellte sich die besondere Herausforderung, dass sowohl Koalitionspartner als auch Teile der Opposition für die Mehrheitsbeschaffung notwendig waren. Die rot-grüne Minderheitsregierung zeigte sich daher bei den Koalitionsverhandlungen zurückhaltend und nahm deutlich weniger Wahlversprechen in ihren Koalitionsvertrag auf als die vorherige Mehrheitsregierung. Diese Strategie sicherte Flexibilität im Parlament und signalisierte Offenheit für Kooperation.

Die untersuchte Minderheitsregierung war zwar dem doppelten Druck ausgesetzt, zunächst Einigkeit zwischen den Koalitionspartnern herstellen und anschließend Mehrheiten im Parlament organisieren zu müssen, sie war in zentralen Punkten jedoch strategisch gut positioniert: Die SPD befand sich auf der ideologischen Medianposition im Parlament, und die Regierung verfügte über bedeutende Agenda-Setting-Instrumente. Mit wechselnden Partnern konnten so wiederholt stabile Mehrheiten organisiert werden. Wo diese Partner kompromissbereit waren, gelang die Umsetzung von Politikvorhaben recht gut. Problematisch wurde es, wenn eine strategische Blockadehaltung einsetzte. Ein Beispiel dafür ist das abrupte Ende der Regierung im März 2012: Die Opposition wollte mit einer Teilablehnung des nordrhein-westfälischen Haushalts politischen Druck ausüben, war sich aber offenbar nicht darüber im Klaren, dass dies rechtlich zur Ablehnung des gesamten Haushalts führte. Als ein Kompromiss nicht zustande kam, scheiterte der Haushalt – und Neuwahlen wurden notwendig.

Minderheitsregierungen können also durchaus leistungsfähig sein – zumindest so lange, wie die politische Kultur auf Kooperation ausgelegt ist. Ähnliche Befunde liegen auch aus anderen, ländervergleichenden Studien vor.

Was denkt die Bevölkerung über Minderheitsregierungen?

Neben der tatsächlichen Leistungsfähigkeit stellt sich auch die Frage nach der Legitimität von Minderheitsregierungen aus Sicht der Bevölkerung. Selbst viele umgesetzte Wahlversprechen helfen wenig, wenn große Skepsis in der Öffentlichkeit herrscht. Wie also stehen die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu Minderheitsregierungen? Was halten sie von deren möglicher Bildung, und was beeinflusst ihre Einstellungen dazu? Diese Fragen sind gerade im deutschen Kontext relevant, denn auch wenn es bundesweit noch keine Minderheitsregierung gegeben hat, werden sie durch die steigende Fragmentierung und Polarisierung des Parteiensystems zu einer immer wahrscheinlicheren Möglichkeit – und sind in manchen Bundesländern ja bereits Realität.

Grundsätzlich kann man annehmen, dass individuelle Einstellungen gegenüber Regierungsformen sowohl normativ als auch instrumentell geprägt sind. Erstens berücksichtigen Bürgerinnen und Bürger demokratische Normen und idealtypische Vorstellungen davon, was „gute“ Regierungsführung ausmacht. Frühere Studien zeigen, dass das Gros der Bürger Mehrheitsregierungen mit weniger Parteien, die viele Sitze im Parlament haben, als stabiler, effektiver und besser für die Demokratie erachtet. Allerdings konnte ebenfalls nachgewiesen werden, dass sich die entsprechenden Einstellungen zwischen Menschen unterscheiden: Wer eher für eine stärkere Machtteilung und Einbindung der Opposition in die Gesetzgebung ist, zeigt sich offener für die Bildung von Minderheitsregierungen.

Ziel muss es also erstens sein, zu messen, welche demokratischen Werte – etwa Regierungsstabilität, Umsetzung von Wahlversprechen, Kompromisserreichung, Flexibilität bei der Gesetzgebung oder Deliberation – Bürgerinnen und Bürger eher durch Mehrheits- oder durch Minderheitsregierungen realisiert sehen. Denn diese unterschiedlichen normativen Zuschreibungen der Zielerreichung beeinflussen auch die Präferenzen für die Bildung von Minderheitsregierungen. Zweitens kann man annehmen, dass Bürgerinnen und Bürger bei der Meinungsbildung über komplexe politische Sachverhalte auf Orientierungshilfen (sogenannte Cues) angewiesen sind. Diese können etwa von politischen Parteien, den Medien oder auch aus der allgemeinen öffentlichen Debatte stammen. Insbesondere bei institutionellen Fragen wie der Bewertung von Regierungsformaten – ein Feld, auf dem viele Bürger wenig praktische Erfahrung haben – wirken solche Orientierungshilfen stark. Bürgerinnen und Bürger schließen häufig aus der Mehrheitsmeinung auf die Legitimität und Zweckmäßigkeit einer Option. Wenn sie erfahren, dass eine Mehrheit der Bevölkerung eine Minderheitsregierung bevorzugt, steigt auch ihre eigene Zustimmung zu diesem Regierungsformat. Drittens kann man davon ausgehen, dass Bürgerinnen und Bürger auch strategisch-instrumentell urteilen: Sie bevorzugen also diejenige Regierungsform, von der sie sich Vorteile für ihre bevorzugte Partei versprechen. Diese Vermutung knüpft an Befunde aus Kanada an, die zeigen, dass die Bürger Minderheitsregierungen dann unterstützen, wenn sie erwarten, dass ihre favorisierte Partei dadurch mehr Einfluss auf die Politik nehmen kann.

Diese Annahmen wurden kurz vor der Bundestagswahl 2021 in einem Online-Survey-Experiment mit 2850 Teilnehmenden getestet. Die Befragten bewerteten zwei hypothetische Szenarien, in denen jeweils eine der damals laut Umfragen größten drei Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne) als Wahlsieger hervorging. Variiert wurden im Experiment drei Faktoren: erstens die siegreiche Partei, zweitens die Informationen über die öffentliche Meinung – ob die Mehrheit eine Minderheits- oder Mehrheitsregierung bevorzugt – und drittens der erwartete politische Einfluss, den entweder die Regierungspartei oder die Opposition unter einer Minderheitsregierung hätten. Das Ziel war, herauszufinden, ob und wie sich diese Informationen auf die Präferenz der Befragten für eine bestimmte Regierungsform auswirken. Zusätzlich wurde erfasst, wie die Befragten die Leistungsfähigkeit von Minderheits- im Vergleich zu Mehrheitsregierungen hinsichtlich verschiedener demokratischer Ziele – zum Beispiel Stabilität, Repräsentation oder Diskursqualität – einschätzen.

Die deskriptiven Ergebnisse zeigen zunächst, dass ein Großteil der Befragten Minderheitsregierungen skeptisch gegenübersteht (Abbildung 3). Nach einem (hypothetischen) knappen Wahlausgang bevorzugen 33 Prozent der Befragten eine Mehrheitskoalition. 30 Prozent wollen Neuwahlen, während nur etwa 21 Prozent eine Minderheitsregierung befürworten. Insgesamt bevorzugten die Anhängerinnen und Anhänger aller großen Parteien mehrheitlich Mehrheitsregierungen gegenüber Minderheitsregierungen oder Neuwahlen, wobei Grüne- und SPD-Anhänger etwas offener für Minderheitsregierungen ihrer Parteien waren als solche der CDU/CSU. Auffällig ist zudem, dass AfD-Anhänger generell, vor allem aber bei einem Wahlsieg der Grünen, stark zu Neuwahlen tendierten.

Bei der Bewertung der Realisierung normativer Ziele nach Regierungstyp zeigt sich allerdings ein etwas ausgeglicheneres Bild (Abbildung 4). Mehrheitlich wird erwartet, dass Mehrheitsregierungen bessere Leistungen bei Regierungskontinuität, Stabilität und der Erfüllung von Wahlversprechen erbringen. Minderheitsregierungen schneiden hingegen etwas besser beim Erreichen fairer Kompromisse und offener Diskurse ab.

Hinsichtlich der Frage, was genau die Präferenzen für die Regierungsbildung beeinflusst, zeigen die Daten, dass normative Leistungsbewertungen eine zentrale Rolle spielen. Etwa 65 Prozent derjenigen, die Mehrheitsregierungen in allen Leistungsbereichen vorne sehen, bevorzugen diese auch als Regierungsmodell, während 55 Prozent der Befragten, die Minderheitsregierungen besser einschätzen, sich entsprechend für diese aussprechen. Die Wahrscheinlichkeit, eine Minderheitsregierung zu bevorzugen, steigt, wenn den Befragten mitgeteilt wird, dass auch die Mehrheit der Bevölkerung diese Option unterstützt. Dieser „Cue-taking“-Effekt fällt zwar moderat aus, ist aber statistisch signifikant. Deutlich ausgeprägter zeigt sich der Einfluss instrumenteller Erwägungen: Die Präferenz für eine Minderheitsregierung hängt maßgeblich davon ab, ob diese der eigenen politischen Position Vorteile verspricht. Befragte bevorzugen eine Minderheitsregierung dann, wenn diese ihrer präferierten Partei politischen Einfluss sichert. Das gilt auch für Anhänger der Opposition – aber nur, wenn die Minderheitsregierung auch dieser Einfluss verschafft.

Minderheitsregierungen treffen in Deutschland also auf eine grundsätzlich skeptische Öffentlichkeit – was in einem System mit einer starken Tradition stabiler Mehrheiten kaum überrascht. Diese Skepsis kann jedoch je nach wahrgenommener demokratischer Leistungsfähigkeit und strategischer Erwartung deutlich variieren. Insbesondere, wenn erwartet wird, dass eine Minderheitsregierung der eigenen bevorzugten Partei mehr Einfluss sichert oder gesellschaftlich breit getragen wird, steigt die Akzeptanz spürbar – was darauf hinweist, dass die Legitimität dieser Regierungsform durch Kommunikation und öffentliche Debatten erhöht werden kann.

Minderheitsregierungen in Zeiten der Fragmentierung

Die eingangs zitierten Positionen von Wolfgang Schäuble und Carsten Schneider bringen die ambivalente Haltung gegenüber Minderheitsregierungen auf den Punkt: Während die einen auf eine flexible Gestaltung der Politik jenseits starrer Mehrheiten hoffen, haben die anderen Sorge vor politischer Verantwortungslosigkeit. Die meist skeptische Sicht ist in Deutschland stark von den negativen Erfahrungen mit instabilen Minderheitsregierungen in der Weimarer Republik geprägt, die seither offenbar kaum eine zeitgemäße Neubewertung erfahren hat. Viele der gängigen Vorurteile lassen sich empirisch nicht bestätigen.

Die Analyse der Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen zeigt beispielhaft, dass auch Regierungen ohne eigene Parlamentsmehrheit leistungsfähig sein können. Wichtig ist aber eine strategisch gute Ausgangsposition: Die SPD als stärkste Partei besetzte seinerzeit die Medianposition im Parlament, und die Koalition konnte ihre Agenda-Setting-Möglichkeiten geschickt nutzen. Bis zum mehr oder weniger versehentlichen Ende der Regierung konnte die Regierung zudem mit kooperationsbereiten Oppositionspartnern stabile Mehrheiten organisieren.

Auch die bevölkerungsbezogene Perspektive relativiert pauschale Skepsis. Zwar bevorzugt ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger traditionell stabile Mehrheitsregierungen. Doch zeigt sich, dass diese Präferenzen durchaus variabel sind: Wenn erwartet wird, dass eine Minderheitsregierung der eigenen Partei nutzt oder gesamtgesellschaftlich unterstützt wird, steigt auch die Akzeptanz. Die Legitimität von Minderheitsregierungen kann also durch kommunikative Strategien und den Nachweis demokratischer Leistungsfähigkeit gestärkt werden.

Gerade angesichts der zunehmenden Fragmentierung des deutschen Parteiensystems und der strategischen Ausgrenzung bestimmter Parteien wie der AfD und teils auch der Linken werden klassische Mehrheitsbildungen immer schwieriger. Minderheitsregierungen könnten hier künftig eine realistische und funktionale Alternative bieten – insbesondere dann, wenn sie nicht nur als „Notlösung“, sondern als bewusst gewähltes Modell verstanden werden. Die konkreten Ausgestaltungsformen sind dabei vielfältig: Von vollständig offenen Modellen mit wechselnden Mehrheiten (über alle oder nur bestimmte Politikfelder hinweg) bis hin zu stabilen Tolerierungsvereinbarungen ist vieles denkbar.

Minderheitsregierungen bergen also Potenziale für unser demokratisches System. Sie können die parlamentarische Kultur beleben, Opposition aufwerten und diskursorientierte Politik fördern. Voraussetzung dafür ist allerdings ein politisches Klima, das auf Kooperation statt auf Konfrontation setzt. Gerade die Erfahrungen mit der Ampelregierung haben gezeigt, dass hier „Luft nach oben“ ist. Minderheitsregierungen sind damit kein Allheilmittel – aber sie verdienen mehr als den Ruf, das letzte Mittel in der Not zu sein. Richtig gestaltet, können sie eine Antwort auf die politischen Realitäten einer zunehmend fragmentierten Demokratie sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wolfgang Schäuble: Notfalls Regierung ohne feste Mehrheiten in Erwägung ziehen, 3.7.2021, Externer Link: https://www.handelsblatt.com/27389084.html.

  2. Carsten Schneider beklagt „Unregierbarkeit“ Thüringens, 10.8.2021, Externer Link: https://www.thueringer-allgemeine.de/podcast/article401931157.

  3. Zur Definition: „Eine Minderheitsregierung wird von einer Partei oder einer Koalition von Parteien gebildet, die zusammen weniger als die Hälfte (50%) plus eines der Abgeordnetenmandate innehaben und somit keine absolute Mehrheit im Parlament besitzen.“ Maria Thürk/Christian Stecker, Flexibel, stabil und effektiv? Zum Stand der Forschung über Minderheitsregierungen, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 3/2023, S. 297–314, hier S. 299.

  4. Vgl. ebd.

  5. Vgl. Svenja Krauss/Maria Thürk, Stability of Minority Governments and the Role of Support Agreements, in: West European Politics 4/2022, S. 767–792.

  6. Vgl. Steffen Ganghof et al., Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4/2012, S. 887–900.

  7. Vgl. Thürk/Stecker (Anm. 3).

  8. Vgl. ebd.; Steffen Ganghof/Christian Stecker, Investiture Rules in Germany: Stacking the Deck Against Minority Governments, in: Bjørn Erik Rasch/Shane Martin/José Antonio Cheibub (Hrsg.), Parliaments and Government Formation: Unpacking Investiture Rules, Oxford 2015, S. 67–85.

  9. Vgl. Ganghof/Stecker (Anm. 8).

  10. Vgl. Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 1970; Winfried Steffani, Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt? Grundsätzliche Bedenken, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4/1997, S. 717–722.

  11. Vgl. Jane Mansbridge, Rethinking Representation, in: American Political Science Review 4/2003, S. 515–528.

  12. Vgl. Theres Matthieß, Equal Performance of Minority and Majority Coalitions? Pledge Fulfilment in the German State of NRW, in: German Politics 1/2019, S. 123–144.

  13. Vgl. Kaare Strøm, Minority Government and Majority Rule, Cambridge 1990; Ganghof et al. (Anm. 6).

  14. Vgl. Steffen Ganghof/Thomas Bräuninger, Government Status and Legislative Behaviour. Partisan Veto Players in Australia, Denmark, Finland and Germany, in: Party Politics 4/2006, S. 521–539.

  15. Nähere methodische Details zur Erfassung finden sich bei Matthieß (Anm. 12).

  16. Da die Minderheitsregierung in NRW bereits nach zwei Jahren vorzeitig endete, wurde auch der Analysezeitraum der Mehrheitsregierung auf die ersten zwei Jahre der Legislaturperiode beschränkt.

  17. Vgl. z.B. Robert Thomson et al., The Fulfillment of Parties’ Election Pledges: A Comparative Study on the Impact of Power Sharing, in: American Journal of Political Science 3/2017, S. 527–542.

  18. Vgl. zum Folgenden Theres Matthieß/Christian Stecker, What Citizens Think About Minority Governments in Majority Coalition Settings, in: Parliamentary Affairs 2/2025, S. 379–400.

  19. Vgl. André Blais et al., What Kind of Electoral Outcome Do People Think Is Good for Democracy?, in: Political Studies 4/2021, S. 1068–1089.

  20. Vgl. Yannick Dufresne/Neil Nevitte, Why Do Publics Support Minority Governments? Three Tests, in: Parliamentary Affairs 4/2014, S. 825–840.

  21. Vgl. Vicki G. Morwitz/Carol Pluzinski, Do Polls Reflect Opinions or Do Opinions Reflect Polls? The Impact of Political Polling on Voters’ Expectations, Preferences, and Behavior, in: Journal of Consumer Research 1/1996, S. 53–67.

  22. Vgl. Dufresne/Nevitte (Anm. 20).

  23. Vgl. Matthieß/Stecker (Anm. 18).

  24. Vgl. Thürk/Stecker (Anm. 3), S. 307.

  25. Vgl. Robert Vehrkamp/Theres Matthieß, Erfolgreich gescheitert. Schlussbilanz zum Koalitionsvertrag der Ampel 2021–25, Bertelsmann Stiftung, Einwurf 3/2025.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Theres Matthieß für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Juniorprofessorin für Empirische Demokratieforschung an der Georg-August-Universität Göttingen.