Themen Mediathek Shop Lernen Veranstaltungen kurz&knapp Die bpb Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen Mehr Artikel im

Abschied von den Allerweltsparteien? | bpb.de

Abschied von den Allerweltsparteien? Die Volksparteien der Mitte nach dem Wegfall ihrer Voraussetzungen

Michael Koß

/ 15 Minuten zu lesen

Der politische Wettbewerb der Nachkriegszeit und seine zugrunde liegenden Konfliktlinien begünstigten den Aufstieg der Volksparteien. Der neue Konflikt zwischen universalistischen und partikularistischen Positionen lässt die Voraussetzungen ihres Aufstiegs erodieren.

Wenn von Parteien die Rede ist, wird häufig der Eindruck erweckt, diese seien ihres eigenen Glückes Schmied und hätten ihr Schicksal selbst in der Hand. Insbesondere gilt dies für die oft als „Volksparteien“ apostrophierten sozial- und christdemokratischen Parteien Westeuropas. Im Folgenden wird die These vertreten, dass diese „Volksparteien der Mitte“ von strukturellen Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht garantieren können. Um reüssieren zu können, bedürfen sie spezifischer Bedingungen, die den politischen Wettbewerb an den Rändern des politischen Spektrums wie Leitplanken begrenzen. Diese Leitplanken ergaben sich bislang aus gesellschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen, die zusehends entfallen – weshalb die Zeit der Volksparteien bis auf Weiteres vorbei zu sein scheint.

Um dies zu verdeutlichen, soll im Folgenden zunächst das ambivalente Konzept der Volkspartei näher erläutert werden, bevor es gilt, deren Aufstieg mit der Existenz ideologischer Leitplanken zu erklären. Im eindimensionalen politischen Wettbewerb der Nachkriegszeit, der vorwiegend um Fragen der Umverteilung kreiste, konnten Parteien jenseits der politischen Mitte durch antikommunistische Invektiven und die Beschwörung der Gefahr einer Aufkündigung des „westlichen Bündnisses“ marginalisiert werden. Das funktioniert heute nicht mehr. Ein neuer Konflikt zwischen universalistischen und partikularistischen Positionen macht den Parteienwettbewerb zudem unübersichtlicher; Parteien an den Rändern des ideologischen Spektrums lassen sich nicht mehr ohne Weiteres ins Abseits schieben. Wichtige Voraussetzungen für den Erfolg der Volksparteien der Mitte sind damit entfallen.

Volksparteien der Ränder und der Mitte

Wem das Konzept der Volkspartei – von seinem Schöpfer Otto Kirchheimer synonym mit den Begriffen „Allerweltspartei“ und catch-all party verwandt – bislang nur als Verweis auf eine erfolgreiche Partei mit tiefen Wurzeln in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft begegnet ist, den mag es wundern, dass es ursprünglich zur Beschreibung eines Niedergangsszenarios benutzt wurde. Dies sagt viel über die stets hochgradig ambivalente Haltung der – wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen – Öffentlichkeit gegenüber Parteien aus: Was heute als Preisgabe ideologischer Prinzipien gilt, kann im Zeitverlauf ohne Weiteres zur wünschenswerten Vielseitigkeit avancieren, spätere Rückwärtsrollen nicht ausgeschlossen. Kirchheimer, der in den 1960er Jahren den Begriff der Volkspartei in die wissenschaftliche Debatte einführte, deutete deren Erfolg in erster Linie als Abkehr von den Parteimitgliedern. Das einzelne Parteimitglied werde Kirchheimer zufolge nur noch als „historisches Überbleibsel angesehen, das das Bild der neu aufgebauten Allerweltspartei in ein falsches Licht setzen kann“. Im heutigen Jargon formuliert, kritisierte er, dass Volksparteien vornehmlich nach Stimmenmaximierung strebten und dafür auch bereit waren, programmatische Zugeständnisse auf Kosten ihrer zentralen, die Mitglieder bewegenden Forderungen zu machen.

Der enttäuschte Sozialist Kirchheimer hielt es nicht zuletzt deshalb mit den Mitgliedern einer Partei – und weniger mit den elektoralen Strategien von deren Führung –, weil ihm historisch nur Parteien der ideologischen Ränder bekannt waren, die sich auf eine volksparteiartige Strategie der Stimmenmaximierung verlegt hatten: die NSDAP und die Nationale Front der DDR. Die NSDAP ist denn auch als erste „Volkspartei des Protests“ oder „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“ beschrieben worden. Vor diesem Hintergrund galt es Kirchheimer und den meisten anderen Beobachtern als suspekt, wenn Parteien umstandslos versuchten, sich heterogene Wählerkoalitionen einzuverleiben. Dieser kritische Blick auf Volksparteien blieb in Deutschland bis in die 1980er Jahre hinein dominant. Davon legt auch die Gründung der Grünen als „Antiparteien-Partei“ Zeugnis ab, die sich dezidiert gegen die Idee von – potenziell die gesamte Wählerschaft vertretenden – Volksparteien wandte.

Die Wahrnehmung von Volksparteien hat sich heute grundlegend verändert. Ein auf die politische Mitte hin orientierter zentripetaler Parteienwettbewerb gilt mittlerweile als wünschenswert – und damit auch Volksparteien der Mitte. Auch dies verdeutlicht das Beispiel der Grünen, die spätestens, seitdem sie die SPD 2011 erstmals in Umfragen überholen konnten, laut darüber nachdenken, ob sie selbst auf dem Weg zur Volkspartei sind und vor allem: sein sollten und wollen. Aus heutiger politikwissenschaftlicher Perspektive stehen catch-all parties für eine inklusive Anhängerschaft, die ihrem Selbstverständnis nach nicht nur eine Kernwählerschaft, sondern unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen repräsentieren soll. Genau das, was Kirchheimer einst kritisierte, gilt heute also als Vorzug.

Was zeichnet diese Volksparteien aus? Häufig wird zur Definition ein gewisses Maß an Wählerzuspruch herangezogen, wahrscheinlich reicht es für den Status als Volkspartei jedoch schon aus, regelmäßig in der Lage zu sein, das relativ beste Wahlergebnis zu erzielen und im Anschluss eine – idealerweise aus nur zwei Parteien bestehende – Koalition zu dominieren. Zusätzlich sollten Volksparteien mindestens in einem Kernwählermilieu dauerhaft die besten Wahlergebnisse erzielen und über einen breites Netz an Vorfeldorganisationen verfügen. In diesem Sinne war die NSDAP in der Tat die erste deutsche Volkspartei, der die nationalkonservative DNVP als Steigbügelhalter eine parlamentarische Mehrheit verschaffte. Ob angesichts des Wegfalls der Voraussetzungen für Volksparteien der Mitte diese erneut an den Rand auswandern werden, ist eine offene Frage.

Kirchheimer selbst schwieg sich zu den Ursachen für den Aufstieg der Volksparteien eher aus und betonte lediglich, dass nach dem Zweiten Weltkrieg für die Parteien in Westeuropa die „Anerkennung der politischen Marktgesetze unvermeidlich“ wurde, weil Märkten im Zuge des ökonomischen Aufschwungs allerorten eine immer wichtigere Rolle zukam. In diesem Sinne waren Volksparteien in der Tat „eine ganz und gar improvisierte Antwort der alten Gesinnungsgemeinschaften auf die einsetzende Auflösung ihrer Entstehungsbedingungen“ – und eben kein Projekt machtversessener Parteieliten. Die von Kirchheimer ins Feld geführten Marktgesetze sind seit dem Ende des Kalten Krieges obsolet geworden, mindestens aber unterliegen sie einem fundamentalen Wandel. Dieser schlägt sich nicht zuletzt in den Wahlergebnissen an den Rändern des politischen Spektrums nieder. Auch deshalb sind Union und SPD seit 2005 immer häufiger dazu gezwungen, miteinander anstatt mit (noch) kleineren Partnern zu koalieren.

Ideologische Leitplanken

Der Niedergang der sozial- und christdemokratischen Volksparteien ist vor allem auf zwei strukturelle Entwicklungen zurückzuführen, die diese Parteien kaum beeinflussen können: die Veränderung gesellschaftlicher Konfliktlinien und die angesprochene Schwierigkeit, die politischen Konkurrenten an den Rändern des ideologischen Spektrums zu marginalisieren.

Als Konfliktlinien bezeichnet man strukturelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die zur Herausbildung politischer Identitäten beitragen und (auch) von Parteien ausgetragen werden. So verstandene Konflikte determinieren das Parteiensystem nicht, sind aber eine notwendige Bedingung dafür, dass Parteien sich dauerhaft etablieren können – sei es, weil das um die jeweilige Auseinandersetzung herum gewachsene Organisationsgeflecht den Nährboden einer Partei bildet, sei es, weil die Konflikte den gesellschaftlichen Resonanzboden für das strategische Handeln politischer Entrepreneure bereiten. In beiden Fällen sorgen die gesellschaftlichen Konflikte dafür, dass die Wahrnehmung des dominanten politischen Problems aufseiten der Eliten wie der Wählerschaft konvergiert.

Historisch lassen sich für Westeuropa vier solcher Konfliktlinien unterscheiden, von denen jeweils zwei aus nationalen Revolutionen beziehungsweise aus der industriellen Revolution hervorgegangen sind. Bei den erstgenannten handelt es sich um die regionale Konfliktlinie zwischen dominanter und peripherer Kultur sowie um jene zwischen Kirche und säkularem Nationalstaat. Auf die industrielle Revolution gehen der sektorale Konflikt zwischen Agrar- und Industriewirtschaft sowie der sozioökonomische zwischen Arbeit und Kapital zurück. Volksparteien leben davon, dass sie auf allen in einem politischen System virulenten Konfliktlinien gleichzeitig und vor allem widerspruchsfrei konkurrieren können. Das aber ist nur dann der Fall, wenn der Parteienwettbewerb eindimensional ist, vorhandene Konfliktlinien einander also überlagern. Nur in diesem Fall ist die Strategie der Stimmenmaximierung überhaupt so aussichtsreich, dass von Volksparteien gesprochen werden kann. Überkreuzen Konfliktlinien hingegen einander, ist die Anziehungskraft von Parteien auf Wähler strukturell begrenzt. In diesem Fall sind fragmentierte und polarisierte Parteiensysteme kaum vermeidbar.

In Deutschland wurden wegen der verspäteten Nationalstaatsbildung alle vier klassischen Konflikte ab dem späten 19. Jahrhundert gleichzeitig ausgetragen, zusätzlich erschwert durch den multikonfessionellen Charakter des Kernlands der Reformation. Nicht zuletzt deshalb wurde Deutschland so vergleichsweise spät zum Nationalstaat und zur Demokratie. Die deutschen Parteien blieben lange abgekapselt in vier sozialmoralischen Milieus verhaftet: dem protestantisch-liberalen, dem protestantisch-konservativen, dem katholischen und dem organisatorisch am stärksten ausdifferenzierten sozialdemokratischen Milieu. In der formativen Phase des deutschen Parteiensystems konnte fatalerweise jeder soziale oder politische Konflikt angesichts der einander überkreuzenden Konfliktlinien in einen nationalen übersetzt werden, was wiederum der Stigmatisierung und Ausgrenzung sozialer Gruppen Vorschub leistete – und damit auch der Schwächung der Parteien der Mitte. Als „geborene Minoritätsparteien“ waren Sozialdemokratie und Zentrum deshalb seinerzeit eher Gegenmodell als Vorläufer der späteren Volksparteien der Bonner Republik.

Wenn Otto Kirchheimer die Zeit der Volksparteien nach dem Zweiten Weltkrieg als „Phase der Entideologisierung“ bezeichnete, so verwies er damit auf die zunehmende Überlagerung der einander immer weniger überkreuzenden Konfliktlinien. Angesichts des ökonomischen Booms nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte fortan die sozioökonomische Konfliktlinie. Die meisten politischen und sozialen Konflikte wurden durch Umverteilung lösbar, was eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Catch-all-Strategie der Volksparteien war.

Gleichzeitig entfielen aufgrund der Deutschen Teilung strukturelle Unterschiede zwischen dem vormals in der Weimarer Republik vereinten Osten und Westen Deutschlands. Schon vor 1933 hatte es in Ostdeutschland weniger Selbstständige, mehr Wählerzuspruch für die KPD, eine höhere Frauenerwerbsquote und mehr außereheliche Geburten gegeben als im Westen. Die alte Bundesrepublik war sozialstrukturell weniger disparat als die Weimarer Republik – die heute kontrovers diskutierten Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland sind also nicht allein Folge der Wiedervereinigung. Zusätzlich eröffnete die Konstellation des Kalten Krieges den entstehenden Volksparteien in Westdeutschland die schon erwähnte Möglichkeit, ihre politischen Konkurrenten am linken wie am rechten Rand des ideologischen Spektrums durch antikommunistische Invektiven und Verweise auf die überragende Bedeutung des westlichen Bündnisses zu marginalisieren. Und zu guter Letzt wirkte auch die Gründung der Bonner Republik strukturell konfliktmindernd: Durch den Zuschnitt ihrer staatlichen Grenze ergab sich erstmals ein konfessionelles Gleichgewicht zwischen Katholiken und Protestanten.

Nach links ermöglichte es der vorherrschende Antikommunismus den Sozialdemokraten unter Willy Brandt, sich zur ideologischen Mitte hin zu orientieren. Nach rechts konnten Parteien jenseits der Union, die sich in aller Regel dadurch zu profilieren versuchten, dass sie für eine international unabhängigere Rolle Deutschlands eintraten, mit dem Vorwurf belegt werden, sie gefährdeten Deutschlands fragile Souveränität und vor allem seine Verankerung im westlichen Bündnis. Vor diesem Hintergrund war Adenauers „Keine Experimente“ der Erfolgsslogan von CDU und SPD. Die Warnung vor kommunistischen Experimenten wie nationalen Alleingängen diente dazu, potenzielle politische Führungspersönlichkeiten und Bewegungen davon abzuhalten, sich an den ideologischen Rändern zu engagieren – und zwar unabhängig von den normativen Einstellungen der Wählerschaft. Als dies in den 1980er Jahren auf der rechten Seite des politischen Spektrums in Gestalt der Republikaner doch geschah, wirkte sich selbst das Ende des Kalten Krieges noch als ideologische Leitplanke aus: Es war die Wiedervereinigung, die dem Nationalismus der Republikaner die Grundlage entzog, weil sie die Asylpolitik als wichtigstes Thema im Wahljahr 1990 überlagerte, wovon sich die Rechtspopulisten um Franz Schönhuber nicht mehr erholten.

Eine neue Revolution

Heute sind diese Voraussetzungen für die Volksparteien der Mitte weitgehend entfallen. Aktuell vollzieht sich eine neue Revolution im Sinne der Theorie von den Konfliktlinien. Diese Revolution hat insofern ähnlich weitreichende Folgen wie die nationale und die industrielle, als sie ebenfalls parteibildend wirkt. Kern dieser neuen Revolution sind ökonomische, kulturelle und soziale Veränderungen, die innerhalb des Nationalstaats kaum zu regulieren sind – genannt seien nur die ökonomische Globalisierung, der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, die Bildungsexpansion, die Digitalisierung, der Klimawandel sowie die Migration. Infolge dieser Umwälzungen schmelzen die traditionellen Milieus der Parteien zusammen. Eine neue Konfliktlinie zwischen Universalismus und Partikularismus ist entstanden, die quer zu den bestehenden Konfliktlinien liegt. Die vormaligen Volksparteien sind gewissermaßen gespalten, sie stehen mit je einem Bein auf der einen und der anderen Seite des neuartigen Konflikts: Christdemokraten beispielsweise unterstützen den globalen Handel, wollen aber gleichzeitig nationale Traditionen erhalten. Sozialdemokraten beschwören die internationale Solidarität, treten für Umverteilung aber nach wie vor bevorzugt im nationalen Kontext ein. Das gibt Raum auf der Linken für fortschrittsoptimistische grüne Parteien (in Deutschland nach ihrem Relaunch im Wahlkampf 2025 auch für die Linkspartei) und für radikale Parteien wie die AfD auf der Rechten, die einer idealisierten (nationalen) Vergangenheit nachtrauern und bei denen reüssieren, die Angst vor dem Verlust ihrer materiellen und/oder kulturellen Privilegien haben. Vollends den Garaus macht den Volksparteien der Mitte aber der Wegfall der ideologischen Leitplanken „Antikommunismus“ und „Beschwörung des westlichen Bündnisses“. Ohne Kommunismus – zumindest in seiner dominanten sowjetischen Prägung – sind antikommunistische Invektiven ebenso schwierig wie ein Festhalten an der Westbindung ohne einen (kohärenten) Westen.

Betrachtet man die beiden vormaligen Volksparteien der Mitte näher, so zeigt sich, dass die Union heute gleichwohl besser dasteht als die SPD. Sie ist traditionell stärker in kulturellen Konflikten aller Art verwurzelt, weshalb ihre Protagonisten sich vergleichsweise umstandslos als progressive christliche Umweltschützer (Markus Söder früher) oder eigentliche Verteidiger der Heimat und ihrer Werte (Markus Söder heute) inszenieren können. Ein Blick auf die vergangenen beiden Bundestagwahlen verdeutlicht aber das Dilemma beider ehemaliger Volksparteien: Bei beiden Wahlen standen Themen im Mittelpunkt, die mit den jeweiligen Enden der neuen Konfliktlinie zwischen Universalismus und Partikularismus verknüpft sind. 2021 war der mit den Grünen assoziierte Klimawandel das wichtigste Thema, 2025 war es die Migration, was vornehmlich der AfD half. Dass jeweils wirtschaftliche Themen am zweitwichtigsten waren, unterstreicht die Plausibilität des oben beschriebenen Bildes einander überkreuzender Konfliktlinien.

Eine Analyse der Bertelsmann Stiftung wies jüngst, gestützt auf repräsentative Nachwahlbefragungen, die Gewinne und Verluste von SPD und Union bei den vergangenen beiden Bundestagswahlen am Beispiel von zehn (mit den oben genannten sozialmoralischen Milieus nicht deckungsgleichen) Milieus aus. Die SPD verlor in allen analysierten Milieus, dies allerdings umso weniger, je universalistischer die jeweiligen Einstellungen der befragten Personen waren. Anders formuliert entfernte sich die SPD 2025 (noch weiter) von ihrem klassischen Kernklientel der Arbeiter, bei dem sie massiv verlor und mit einem Stimmenanteil von lediglich zwölf Prozent nur noch drittstärkste Kraft hinter der AfD (mit einem Anteil von 36 Prozent) und der Union (mit 23 Prozentpunkten) wurde. Die Union wiederum wurde bei der zurückliegenden Bundestagswahl zwar relativer Sieger, konnte jedoch von den 30 (!) Prozentpunkten, die die drei Ampelparteien SPD, Grüne und FDP im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 verloren, nur ein Sechstel für sich verbuchen. Hier zeigen sich sehr eindrücklich die Grenzen der Catch-all-Strategie: Während die Union mit einem Stimmenanteil von 36 Prozent (im Vergleich zu 26 Prozentpunkten 2021) erneut stärkste Kraft in ihrem Kernwählersegment der Selbstständigen (wie übrigens auch bei den Beamten) wurde, ging ihr Versuch, der AfD durch dezidiert zuwanderungskritische Positionen Stimmen abzujagen, auf Kosten substanzieller Zugewinne bei vormaligen Grünen-Wählern, die eher zur Linkspartei abwanderten.

Zugleich sind die Aussichten der Grünen und der AfD – der beiden Hauptprotagonisten der neuen Konfliktlinie –, sich zukünftig als neue Volksparteien der Mitte beziehungsweise des (rechten) Randes positionieren zu können, ebenfalls begrenzt. Die Grünen schrumpften bei der Bundestagswahl 2025 auf das Maß einer Milieupartei und konnten, ähnlich wie die SPD, nur noch in den universalistischen Milieus reüssieren – und hier vor allem in den materiell bessergestellten; in den anderen universalistischen Milieus erzielte die Linkspartei ihre größten Erfolge. Die AfD wiederum gewann vor allem bei denjenigen, die sich vom Abstieg bedroht sehen: Mit einem Stimmenanteil von 34 Prozent errang sie die relative Mehrheit in den modernisierungsskeptischen Milieus. Sie wurde also nicht mehr nur aus Protest gewählt, sondern aus Überzeugung. Ebenso wie die Grünen ist die AfD aber nach wie vor weit davon entfernt, Volkspartei zu sein – auch in Ostdeutschland. Zum einen reichen ihre Wahlerfolge über ihre partikularistischen Kernmilieus nicht hinaus, zum anderen ist das ideologische Profil der AfD dafür auch zu diffus, insbesondere in ökonomischer Hinsicht: Zwischen der etwa von Alice Weidel propagierten neoliberalen Politik und der ethnisch-deutsch konnotierten Sozialstaatlichkeit, wie sie vom völkischen Flügel der Partei vertreten wird, herrscht kein produktives Spannungsverhältnis, das eine Catch-all-Strategie zuließe. Kompromisse sind zwischen diesen Positionen schlicht nicht möglich.

Keine Volksparteien, nirgends?

Die „zweite kopernikanische Wende in der Entwicklung der Parteien“, in deren Verlauf Stimmenmaximierungsstrategien in der ideologischen Mitte immer wichtiger wurden, ist an ihr Ende gekommen. Mit der Entwicklungsphase politischer Parteien, die wir aktuell erleben, verhält es sich wie mit Antonio Gramscis Verdikt über das „Interregnum“: Das Alte stirbt, und das Neue kann nicht zur Welt kommen. Vorbei ist jedenfalls die Zeit, in der galt: „Wir regelten unsre Dinge übers Geld.“ Jenseits der Sondervermögen regeln wir unsere Dinge heute (auch) wieder über Stigmatisierung und Ausgrenzung sozialer Gruppen, und das bedeutet, dass für Volksparteien der Mitte zusehends kein Platz vorhanden ist. Nur dort, wo die Welt noch der alten ähnelt, gibt es auch Volksparteien – in Deutschland ist dies nur noch in Niedersachsen mit seiner klassischen Agrar- und Industriewirtschaft der Fall. Hier konnten SPD und CDU ihre Konkurrenten auch bei der Bundestagswahl 2025 noch auf Distanz halten und gewannen nicht nur sämtliche, sondern jeweils exakt gleich viele Wahlkreise. Anderswo sind die Voraussetzungen für den Erfolg der Volksparteien entfallen.

Anders als die SPD dürfte die Union zumindest noch die Aussicht haben, ihren Volksparteistatus zu verteidigen. Dazu müsste sie sich auf eine aktualisierte Version der alten Adenauer-Strategie der Westbindung verlegen, die heute auf eine – wie damals auch die Sicherheitspolitik umfassende – Europäisierung hinausliefe. Dass sich die CDU in der neuen Bundesregierung erstmals seit 1966 das Außenministerium gesichert hat, kann als vorsichtiger Hinweis darauf gelesen werden, dass der neue Bundeskanzler Friedrich Merz eine solche Agenda verfolgt. Einer alternativen Strategie neigt vermutlich Unionsfraktionschef Jens Spahn zu. Diese läuft auf eine Annäherung an die AfD hinaus – und birgt die Gefahr einer DNVP-artigen Selbstverzwergung des rechten Lagers. Vom „Ende der Mitte“ zu reden, erscheint insofern verfrüht, denn ein zentripetaler Parteienwettbewerb ist weiterhin möglich. Die Nachricht vom Tod der Volksparteien ist jedoch, frei nach Mark Twain, nicht gänzlich übertrieben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Am auffälligsten ist dies in der Debatte um sogenannte Kartellparteien, die sich gegen ihre eigenen Anhänger abzuschotten versuchten. Zur Unhaltbarkeit dieser Annahme vgl. Elmar Wiesendahl, Parteienforschung. Ein Überblick, Wiesbaden 2022, S. 127–139.

  2. Der vorliegende Text basiert auf Michael Koß, Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen, München 2021.

  3. Vgl. Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift 1/1965, S. 20–41.

  4. Ebd., S. 32.

  5. Auf letztere wendete Kirchheimer auch zum ersten Mal den Begriff der Catch-all-Strategie an. Vgl. Hubertus Buchstein/Moritz Langfeldt, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften 5. Politische Systeme im Nachkriegseuropa, Baden-Baden 2020, S. 7–176, hier S. 115.

  6. Beide Begriffe bei Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler. Die Anhänger der NSDAP 1924–1933, Frankfurt/M.–New York 20202, S. 413.

  7. Vgl. Buchstein/Langfeldt (Anm. 5), S. 136.

  8. Die politikwissenschaftliche Literatur ist zu Recht skeptisch. Vgl. Andreas Stifel, Vom erfolgreichen Scheitern einer Bewegung, Wiesbaden 2018, S. 317f.

  9. Vgl. Nancy Rosenblum, On the Side of the Angels. An Appreciation of Parties and Partisanship, Princeton 2008, S. 356.

  10. Vgl. Elmar Wiesendahl, Volksparteien – Aufstieg, Krise, Zukunft, Opladen–Farmington Hills 2011, S. 78f.

  11. Vgl. ders. (Anm. 1), S. 123.

  12. Kirchheimer (Anm. 3), S. 26f.

  13. Tobias Dürr/Franz Walter, Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 226.

  14. Vgl. zum Folgenden Simon Bornschier et al., Cleavage Formation in the Twenty-First Century, Cambridge 2024, S. 1–9.

  15. Vgl. Seymour M. Lipset/Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments, in: dies. (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York 1967, S. 1–64.

  16. Vgl. M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 38.

  17. Ein Beispiel ist etwa der „Berliner Antisemitismusstreit“ im Kaiserreich, in dessen Folge die Parteien des völkischen Nationalismus großen Zulauf erhielten. Vgl. Nicolas Berg (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Berlin 2023, S. 28–39.

  18. Max Weber, Politik als Beruf, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Weber-Studienausgabe 1/17, Tübingen 1994, S. 70.

  19. Kirchheimer (Anm. 3), S. 29.

  20. Vgl. Sascha O. Becker/Lukas Mergele/Ludger Woessmann, The Separation and Reunification of Germany: Rethinking a Natural Experiment Interpretation of the Enduring Effects of Communism, in: Journal of Economic Perspectives 2/2020, S. 143–171.

  21. Dies erklärt auch, warum Volksparteien der Mitte in Deutschland eine wichtigere Rolle spielten als in anderen westeuropäischen Staaten. Vgl. Steven B. Wolinetz, The Transformation of Western European Party Systems Revisited, in: West European Politics 2/1979, S. 4–28.

  22. Zur (Un-)Möglichkeit, normative Einstellungen zu politisieren, siehe Vicente Valentim, The Normalization of the Radical Right, Oxford 2024.

  23. Vgl. Moritz Fischer, Die Republikaner. Die Geschichte einer rechtsextremen Partei 1983–1994, Göttingen 2024, S. 423–430.

  24. Die häufig anzutreffende Beschreibung der neuen Konfliktlinie als eine zwischen grün-alternativ-libertären (GAL) und traditional-autoritär-nationalistischen (TAN) Positionen läuft Gefahr, ökonomische Faktoren zugunsten kultureller auszublenden. „Universalismus vs. Partikularismus“ umfasst dezidiert ökonomische und kulturelle Konflikte. Vgl. Bornschier et al. (Anm. 14), S. 5.

  25. Vgl. Viola Neu/Sabine Pokorny, Bundestagswahl in Deutschland am 26. September 2021, Berlin 2021, S. 8, Externer Link: https://www.kas.de/de/monitor/detail/-/content/wahlanalyse-der-bundestagswahl-in-deutschland-am-26-september-2021-1; dies., Bundestagswahl in Deutschland am 23. Februar 2025, Berlin 2025, S. 8, Externer Link: https://www.kas.de/de/monitor-wahl-und-sozialforschung/detail/-/content/wahlanalyse-der-bundestagswahl-am-23-februar-2025.

  26. Wenn nicht anders ausgewiesen, vgl. zum Folgenden Robert Vehrkamp, Selbstbeschädigung der Mitte. Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2025 in den sozialen Milieus, März 2025, Externer Link: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/EINWURF_01_2025_Selbstbeschaedigung_der_Mitte.pdf.

  27. Vgl. Neu/Pokorny, Bundestagswahl 2025 (Anm. 25), S. 27.

  28. Vgl. ebd.

  29. Vgl. ebd., S. 9.

  30. Vgl. Manès Weisskircher, Die AfD als neue Volkspartei des Ostens?, in: Knut Bergmann (Hrsg.), „Mehr Fortschritt wagen“? Parteien, Personen, Milieus und Modernisierung: Regieren in Zeiten der Ampelkoalition, Bielefeld 2022, S. 317–334.

  31. Vgl. Benedikt Kaiser, Solidarischer Patriotismus. Die soziale Frage von rechts, Schnellroda 2020.

  32. Wiesendahl (Anm. 1), S. 147.

  33. Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 3, Hamburg 1991, S. 354.

  34. So der Musiker und Schriftsteller PeterLicht in seinem „Lied vom Ende des Kapitalismus“.

  35. Vgl. Michael Koß, Das letzte Parteiensystem der alten Bundesrepublik. Niedersachsen als Nachzügler, in: Anna-Sophie Heinze/Uwe Jun/Torsten Oppelland (Hrsg.), Regionale Vielfalt? Neue Trends subnationaler Parteiensysteme in Deutschland, Wiesbaden 2025, S. 307–328.

  36. Einen ähnlichen Vorschlag hatte angesichts der Corona-Krise bereits Jürgen Habermas unterbreitet. Vgl. ders., 30 Jahre danach: Die zweite Chance, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2020, S. 41–56.

  37. Vgl. Maximilian Steinbeis/Florian Meinel, Das Ende der Mitte, 7.2.2025, Externer Link: https://verfassungsblog.de/das-ende-der-mitte.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Michael Koß für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Professor für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland und der EU an der Leuphana Universität Lüneburg.