Gibt es eine Zukunft für die Parteiendemokratie und das damit verbundene repräsentative System? Angesichts aktueller Disruptionen, insbesondere mit Beginn der zweiten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump, hat diese Frage neue Brisanz gewonnen. Nicht nur findet in einigen Ländern eine Aushöhlung demokratischer Normen und Institutionen statt, sondern es zeigt sich in vielen Systemen auch eine wachsende Unzufriedenheit der Bürger*innen mit den Leistungen von Parteien und repräsentativen Institutionen.
Ein möglicher Grund für diese Entwicklungen ist die von vielen Menschen geteilte Annahme, dass die Parteiendemokratie nicht in der Lage ist, existenzielle Krisen wie den Klimawandel zu bewältigen oder wirtschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen. Die aktuelle Jugendstudie Baden-Württemberg etwa zeigt sogar eine gestiegene Offenheit der Jugendlichen gegenüber autoritäreren Führungsstilen: Erklärten 2022 noch 30 Prozent der Befragten ihre Sympathie für ein „durchsetzungsfähiges Staatsoberhaupt“, sind es in der jüngsten Befragung von 2024 bereits 41 Prozent.
Welches Regierungssystem wünschen sich Bürger*innen nun also im 21. Jahrhundert? Konventionelle Umfragen können diese Frage nur bedingt beantworten, da viele Befragte offenkundig mehrere institutionelle Optionen gleichzeitig als wichtig erachten. Dies macht es schwierig, aus solchen Ergebnissen konzise Schlussfolgerungen zu ziehen: Einerseits könnten sie ein Hinweis darauf sein, dass Bürger*innen schlicht überfragt sind und keine klar ausgebildeten Präferenzen haben. Andererseits könnten sie aber auch darauf hindeuten, dass Bürger*innen „gemischte“ Regierungssysteme wünschen, in denen repräsentative, direktdemokratische (zum Beispiel Volksabstimmungen), lottokratische (Entscheidungen durch zufällig ausgewählte Bürger*innen), expertokratische (Entscheidungen durch Expert*innen) und Elemente exekutiver Steuerung (etwa durch ein durchsetzungsfähiges Staatsoberhaupt) kombiniert werden. Wir zeigen im Folgenden, dass genau dies der Fall ist.
„Gemischte“ Regierungssysteme, die verschiedene Elemente gleichberechtigt kombinieren, gab es historisch schon im alten Athen, aktuell gibt es sie beispielsweise in der Schweiz, wo direktdemokratische und repräsentative Elemente eng miteinander verschränkt sind. Solche gemischten Systeme sind nicht nur bei den Bürger*innen beliebt, sie können auch intelligentes Regieren befördern und die Zufriedenheit mit der Demokratie steigern.
Institutionelle Reformen
Das Nachdenken über demokratische Designs und Reformen ist bis heute stark „modellbasiert“: Viele Reformvorschläge zur Verbesserung aktueller Demokratien beziehen sich lediglich auf ein institutionelles Modell. So wird zum Beispiel über Reformmaßnahmen häufig ausschließlich im Rahmen der repräsentativen Demokratie nachgedacht, etwa, wenn in Deutschland über die Zusammenlegung von Wahlkreisen oder die Amtszeitbegrenzung für Abgeordnete diskutiert wird. Auf der anderen Seite der Diskussion stehen Befürworter*innen von Bürgerbeteiligungsmodellen, denen die vollständige Ersetzung repräsentativer Institutionen vorschwebt, weil diese aus ihrer Sicht bei der Bewältigung existenzieller Krisen wie dem Klimawandel versagen. Claudia Chwalisz etwa, die Begründerin von DemocracyNext, einer Organisation, die sich weltweit für Bürgerräte einsetzt, sähe repräsentative Institutionen gerne gänzlich durch lottokratische ersetzt.
Dieser Wunsch wird plausibel, wenn man „problembasiert“ über institutionelle Designs nachdenkt. Problembasiertes Denken fragt zunächst danach, welche Probleme demokratische Institutionen und Praktiken mit sich bringen – und welche demokratischen Prinzipien durch Reformen verwirklicht oder besser zur Geltung gebracht werden sollen. Das erlaubt im Anschluss eine zielgerichtete Auswahl geeigneter Institutionen.
Wir haben 2023 im Rahmen eines Forschungsprojekts Bürger*innen in Deutschland gefragt, was aus ihrer Sicht die wichtigsten Probleme der deutschen Demokratie sind.
Weder das repräsentative noch das lottokratische noch das direktdemokratische Modell kann die genannten Probleme und Prinzipien im Alleingang lösen beziehungsweise realisieren. Im repräsentativen Modell beispielsweise müssen sich Abgeordnete mit einer Vielzahl von politischen Themen beschäftigen, was mit der von Bürger*innen gewünschten starken Fachkompetenz nur schwer zu vereinen ist. Expertokratische Gremien könnten diese Fachkompetenz beisteuern, haben aber den gewichtigen Nachteil, dass ein Abwahlmodus fehlt, wenn sie aus Sicht der Bürger*innen schlechte Arbeit leisten. Lottokratische Bürgerräte wiederum können Gemeinwohlinteressen befördern und etwa den Einfluss von Interessenverbänden zurückdrängen,
Problembasiertes Denken lenkt den Blick weg von der Suche nach einem einzigen perfekten institutionellen Modell, das alle Herausforderungen löst und all unsere demokratischen Werte in sich vereint. Stattdessen rückt die Frage nach der optimalen Kombination verschiedener Praktiken und Institutionen in den Vordergrund. Damit einher geht ein erweitertes Verständnis demokratischer Systeme: Diese werden nicht mehr über einzelne Institutionen wie Wahlen definiert, sondern über das Zusammenspiel vielfältiger Praktiken wie Wählen, Deliberation oder auch Protest und Mobilisierung.
Die empirische Forschung zu institutionellen Präferenzen war lange Zeit ebenfalls einem modellbasierten Denken verhaftet. Sie ging davon aus, dass Menschen entweder Politiker*innen, Bürger*innen, Expert*innen oder ein durchsetzungsfähiges Staatsoberhaupt als zentrale Entscheidungsträger bevorzugen.
Was sagt die Empirie?
Die empirische Forschung zu Demokratiepräferenzen deutet darauf hin, dass Bürger*innen tatsächlich gemischte Demokratiemodelle bevorzugen. Ein Deliberationsexperiment
Eine effektive Methode zur Erfassung komplexer Modellpräferenzen sind sogenannte Constant-Sum-Fragen. Dabei verteilen die Befragten eine festgelegte Anzahl von Punkten auf verschiedene Optionen. Dies zwingt sie, Prioritäten zu setzen und die relative Bedeutung von Alternativen abzuwägen. Im Gegensatz zu klassischen Ratingskalen, bei denen die Befragten auf einer Skala angeben, inwieweit sie bestimmte Akteure in politischen Entscheidungen unterstützen oder ablehnen, ermöglicht die Constant-Sum-Methode eine differenziertere Analyse von komplexen Präferenzen. Sie erfasst nicht nur die bevorzugten Optionen, sondern auch die Intensität der Unterstützung für ein Modell im Vergleich zu anderen Modellen. Eine aktuelle Studie aus Großbritannien zeigt zum Beispiel auf Basis einer Constant-Sum-Frage, dass eine deutliche Mehrheit der Bürger*innen – knapp 70 Prozent – Entscheidungsprozesse mit mehreren Akteuren bevorzugt.
Im Rahmen unseres DDME-Projekts („Designing Democracy on Mars and Earth“)
Abbildung 1 zeigt, wie die Beteiligten das deutsche System reformieren würden: Eine überwältigende Mehrheit der Teilnehmenden bevorzugt gemischte Modelle. Mehr als die Hälfte der Befragten kombiniert alle vier Modelle, und insgesamt über 80 Prozent integrieren mindestens drei Modelle. Lediglich etwa 6 Prozent präferieren ein einzelnes Demokratiemodell. Unter den Befragten, die mindestens zwei Modelle kombinieren, erhält das repräsentative Modell in der typischen Verteilung (Geometrisches Mittel)
Darüber hinaus haben wir die Beteiligten gefragt, wie sie sich die Verteilung von Entscheidungsgewalt auf dem „Mars“ vorstellen. Mit dem Szenario einer Demokratie auf dem Mars wollten wir herausfinden, wie weit die Beteiligten gehen würden, wenn sie ein politisches System von Grund auf neu, das heißt losgelöst von Pfadabhängigkeiten, bestehenden Problemen und institutionellen Zwängen wie etwa verfassungsrechtlichen Hindernissen, entwerfen könnten. In diesem hypothetischen Mars-Szenario tendieren die Befragten in Deutschland noch stärker in Richtung gemischter Systeme: Die Beteiligten „dezentrieren“ das repräsentative Modell noch etwas deutlicher und wünschen sich eine stärkere Einbeziehung expertokratischer und partizipatorischer Elemente in den Entscheidungsprozess.
Ein berechtigter Einwand ist, dass die Beteiligten solche gemischten Modelle auch deshalb wählen könnten, weil ihre institutionellen Präferenzen unklar ausgeprägt sind. Unsere Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass dies zu kurz greift. Nicht nur wurden die Beteiligten in unseren Umfrageexperimenten mit den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Modelle vertraut gemacht (die sie auch bewerten mussten), Nachanalysen zeigen auch, dass der Wunsch nach gemischten Modellen tatsächlich reflektierte Haltungen widerspiegelt. Zwei Zitate von Befragten aus Deutschland aus der Online-Befragung vom Januar 2024 illustrieren, warum sie ein gemischtes Modell beziehungsweise einen bestimmten Mix gewählt haben:
„Die gewählten Politiker sind diejenigen, die federführend sind. Bei Themen, die die Kompetenzen der Politiker überschreite[n], sollte ein Expertenrat hinzugezogen werden. Bei Themen, die den Großteil der Bevölkerung stark beeinflussen, sollte die Stimmung des Volkes abgefragt werden, um die beste Lösung zu finden.“
„Ich vertraue der Wissenschaft am meisten, da sie faktenbasiert, objektiv und hoffentlich möglichst unabhängig und weitsichtig entscheidet. Für gewisse Fragen braucht es aber vielleicht auch mehr (…) Herz, deshalb habe ich der Partizipation durch Bürger noch einen recht hohen Anteil eingeräumt; gelegentlich wird Deutschland auf internationalen Konferenzen etc. auch repräsentative Vertreter brauchen, die den Politslang können, daher ist in meinem Modell auch dieser Anteil noch vertreten.“
Konsequenzen für institutionelle Reformen
Wenn es tatsächlich so ist, dass Bürger*innen aus guten Gründen gemischte Regierungsmodelle präferieren, was bedeutet dies für konkrete demokratische Reformen? Geht es um die Verknüpfung direktdemokratischer und repräsentativer Institutionen, wird in der politikwissenschaftlichen Literatur häufig auf die Schweiz verwiesen. Sie gilt als Beispiel einer „halbdirekten Demokratie“ – ein System, in dem beide Elemente zusammenwirken, ohne dass sich eindeutig bestimmen lässt, welches dominiert.
Geht es um die Verknüpfung von repräsentativen Systemen und Lottokratie, schlägt der politische Philosoph Arash Abizadeh ein „hybrides“ Zweikammersystem vor: Eine „parteiliche Kammer“ (gewählt) und eine „lottokratische Kammer“ (gelost) sollen zusammenwirken und sich gegenseitig ergänzen.
Was wie eine Utopie wirken mag, ist bereits an einigen Orten institutionelle Realität: In Ostbelgien und Paris etwa wurde das repräsentative System durch ständige (und verstetigte) Bürgerversammlungen ergänzt. In Paris kann die lottokratische Bürgerversammlung sogar formal Gesetzentwürfe einbringen – und nicht nur, wie in Ostbelgien, Empfehlungen aussprechen.
Daneben existieren auch Mischformen zwischen repräsentativem und expertokratischem Modell. Beispiele sind etwa Politiker*innen mit Fachexpertise oder Personen, die aufgrund ihrer Expertise in ein politisches Amt berufen werden. Darüber hinaus gibt es Gremien wie Sachverständigen- und Ethikräte, die bereits jetzt Regierungen beratend unterstützen. Deren Machtbefugnisse könnten stärker institutionalisiert werden, zum Beispiel durch konkrete Vorschlags- oder Abstimmungsrechte.
Aber wie gut sind diese gemischten Systeme? Um die Metapher des Blended Whisky noch einmal aufzugreifen: Sind Blends tatsächlich besser als Single Malts? Einige Whisky-Expert*innen vertreten die Ansicht, dass Single Malts eine überlegene Qualität bieten – andere wiederum betonen, dass auch Blends hervorragend schmecken können.
Stärken und Schwächen gemischter Systeme
Eine grundsätzliche Stärke gemischter Systeme liegt darin, dass es mit ihnen leichter fällt, politische Probleme zu bearbeiten. Für den politischen Philosophen Josiah Ober beispielsweise beschreibt die Demokratie im antiken Athen ein optimales Regierungssystem: In einem Bürgerrat wie dem „Rat der 500“ werden Themen auf Grundlage von Expert*inneninput intensiv diskutiert, bevor die Ergebnisse direktdemokratisch abgestimmt werden. Aus Obers Sicht führte dieses gemischte Verfahren im Durchschnitt zu „intelligenten“ Entscheidungen.
Gemischte Modelle haben noch weitere Vorteile: Sie verteilen politische Verantwortung auf mehrere Akteure und Institutionen und machen das politische System damit weniger abhängig von der Leistung einzelner Spitzenpolitiker*innen – was ein inhärentes Defizit vieler bestehender repräsentativer Demokratien ist. Zudem kann ein gemischtes Modell – insbesondere, wenn es inklusive repräsentative Institutionen mit direkter Bürger*innenbeteiligung verbindet – zu einer höheren allgemeinen Demokratiezufriedenheit führen. Und es kann ausgleichend auf die Zufriedenheit von Wahlgewinner*innen und Wahlverlierer*innen wirken.
Nachteile von gemischten Systemen sind ihre Komplexität und potenzielle Intransparenz. Wenn multiple Entscheidungsträger*innen Politik ausarbeiten, kann es für Bürger*innen schwierig sein, politische Verantwortung zuzuordnen. Gleichzeitig können gemischte Systeme Probleme mit sich bringen, wenn sie eine ausgeprägt aktive Rolle der Bürger*innen voraussetzen, denn der Wunsch nach mehr direkter Demokratie geht nicht zwangsläufig mit entsprechender Teilnahme an direktdemokratischen Abstimmungen einher.
Die entscheidende Herausforderung liegt in der konkreten institutionellen Gestaltung gemischter Systeme. Anders gesagt: Wie beim Blended Whisky kommt es auch bei politischen Systemen auf die richtige Mischung an. Als Illustration lohnt sich ein Blick auf das Zusammenspiel von direktdemokratischen und repräsentativen Institutionen in der Schweiz und in Kalifornien. Es zeigt sich, dass die Elemente von Mischsystemen aufeinander abgestimmt sein müssen, damit sie gut miteinander harmonieren. Ansonsten kann eine „Entkopplung“ von repräsentativen und direktdemokratischen Institutionen Politik „irrational“ machen. So wurde beispielsweise 1978 bei einer Volksabstimmung in Kalifornien eine Initiative der Republikanischen Partei („Proposition 13“) angenommen, die festschrieb, dass Steuererhöhungen nur mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des kalifornischen Parlaments beschlossen werden können. Diese hohe Hürde für Steuererhöhungen führte nicht nur zu schmerzlichen Kürzungen in anderen wichtigen Politikbereichen wie dem Gesundheitswesen, sondern schränkte auch die Handlungsfreiheit des Parlaments massiv ein.
Festzuhalten bleibt, dass Bürger*innen die Parteiendemokratie und das repräsentative System nicht einfach abschaffen wollen. Hier ist die Datenlage sehr klar. Die Menschen in Deutschland wollen dieses System aber stärker bürger*innenzentriert und mit mehr Expertise ausgestalten. Viele politische Systeme – inklusive das der EU – sind schon seit Längerem auf dem Weg zu einer „vielfältigeren“ Demokratie,