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Die Mischung macht’s! | bpb.de

Die Mischung macht’s! Bürgerwünsche zur Reform der Parteiendemokratie

André Bächtiger Seraphine Arnold Franziska Maier Anja Rieker Vanessa Schwaiger Eva-Maria Trüdinger

/ 16 Minuten zu lesen

Bei Bürgerinnen und Bürgern steht die repräsentative Parteiendemokratie nach wie vor hoch im Kurs. Zugleich haben viele Menschen aber große Sympathien für Mischsysteme mit mehr Bürgerbeteiligung und Expertise. Das sollte bei zukünftigen Reformen Berücksichtigung finden.

Gibt es eine Zukunft für die Parteiendemokratie und das damit verbundene repräsentative System? Angesichts aktueller Disruptionen, insbesondere mit Beginn der zweiten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump, hat diese Frage neue Brisanz gewonnen. Nicht nur findet in einigen Ländern eine Aushöhlung demokratischer Normen und Institutionen statt, sondern es zeigt sich in vielen Systemen auch eine wachsende Unzufriedenheit der Bürger*innen mit den Leistungen von Parteien und repräsentativen Institutionen.

Ein möglicher Grund für diese Entwicklungen ist die von vielen Menschen geteilte Annahme, dass die Parteiendemokratie nicht in der Lage ist, existenzielle Krisen wie den Klimawandel zu bewältigen oder wirtschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen. Die aktuelle Jugendstudie Baden-Württemberg etwa zeigt sogar eine gestiegene Offenheit der Jugendlichen gegenüber autoritäreren Führungsstilen: Erklärten 2022 noch 30 Prozent der Befragten ihre Sympathie für ein „durchsetzungsfähiges Staatsoberhaupt“, sind es in der jüngsten Befragung von 2024 bereits 41 Prozent. Aber nicht nur starke und durchsetzungsfähige Führungspersonen sind offenbar beliebt, in vielen Demokratien gibt es zugleich einen starken und andauernden Wunsch nach mehr Bürger*innenbeteiligung. In Deutschland stimmen zum Beispiel 87 Prozent der befragten Erwachsenen der Aussage zu, Volksabstimmungen seien ein notwendiger Bestandteil der Demokratie. Gleichzeitig ist das repräsentative Modell nicht so unbeliebt, wie man angesichts dieser Zahlen vielleicht vermuten könnte: Knapp 85 Prozent der befragten Bürger*innen sahen es 2020 als essenzielles Element einer Demokratie an, dass Menschen ihre Volksvertreter in freien Wahlen wählen.

Welches Regierungssystem wünschen sich Bürger*innen nun also im 21. Jahrhundert? Konventionelle Umfragen können diese Frage nur bedingt beantworten, da viele Befragte offenkundig mehrere institutionelle Optionen gleichzeitig als wichtig erachten. Dies macht es schwierig, aus solchen Ergebnissen konzise Schlussfolgerungen zu ziehen: Einerseits könnten sie ein Hinweis darauf sein, dass Bürger*innen schlicht überfragt sind und keine klar ausgebildeten Präferenzen haben. Andererseits könnten sie aber auch darauf hindeuten, dass Bürger*innen „gemischte“ Regierungssysteme wünschen, in denen repräsentative, direktdemokratische (zum Beispiel Volksabstimmungen), lottokratische (Entscheidungen durch zufällig ausgewählte Bürger*innen), expertokratische (Entscheidungen durch Expert*innen) und Elemente exekutiver Steuerung (etwa durch ein durchsetzungsfähiges Staatsoberhaupt) kombiniert werden. Wir zeigen im Folgenden, dass genau dies der Fall ist.

„Gemischte“ Regierungssysteme, die verschiedene Elemente gleichberechtigt kombinieren, gab es historisch schon im alten Athen, aktuell gibt es sie beispielsweise in der Schweiz, wo direktdemokratische und repräsentative Elemente eng miteinander verschränkt sind. Solche gemischten Systeme sind nicht nur bei den Bürger*innen beliebt, sie können auch intelligentes Regieren befördern und die Zufriedenheit mit der Demokratie steigern.

Institutionelle Reformen

Das Nachdenken über demokratische Designs und Reformen ist bis heute stark „modellbasiert“: Viele Reformvorschläge zur Verbesserung aktueller Demokratien beziehen sich lediglich auf ein institutionelles Modell. So wird zum Beispiel über Reformmaßnahmen häufig ausschließlich im Rahmen der repräsentativen Demokratie nachgedacht, etwa, wenn in Deutschland über die Zusammenlegung von Wahlkreisen oder die Amtszeitbegrenzung für Abgeordnete diskutiert wird. Auf der anderen Seite der Diskussion stehen Befürworter*innen von Bürgerbeteiligungsmodellen, denen die vollständige Ersetzung repräsentativer Institutionen vorschwebt, weil diese aus ihrer Sicht bei der Bewältigung existenzieller Krisen wie dem Klimawandel versagen. Claudia Chwalisz etwa, die Begründerin von DemocracyNext, einer Organisation, die sich weltweit für Bürgerräte einsetzt, sähe repräsentative Institutionen gerne gänzlich durch lottokratische ersetzt. Allerdings entsprechen solche modellbasierten Reformvorschläge nicht zwangsläufig den Wünschen der Bürger*innen. Mit Blick auf Bürgerräte als mögliche Alternative zu repräsentativen Institutionen zeigen etwa aktuelle Studien, dass diese zwar vielfach als attraktive Innovation wahrgenommen werden, die Bürger*innen es aber klar ablehnen, dass solche Bürgerräte verbindliche Entscheidungen treffen. Mehr Wissen über oder Erfahrung mit Bürgerräten führt bei den Befragten zwar zu einer größeren Offenheit gegenüber den Befugnissen von Bürgerräten, aber auch dann präferieren sie nicht eindeutig mehr Machtbefugnisse für diese. Auch das deutet darauf hin, dass viele Bürger*innen nicht einfach das eine vorhandene Modell demokratischen Regierens durch ein anderes ersetzen wollen. Vielmehr könnte sich dahinter ein Wunsch nach gemischten Modellen verbergen.

Dieser Wunsch wird plausibel, wenn man „problembasiert“ über institutionelle Designs nachdenkt. Problembasiertes Denken fragt zunächst danach, welche Probleme demokratische Institutionen und Praktiken mit sich bringen – und welche demokratischen Prinzipien durch Reformen verwirklicht oder besser zur Geltung gebracht werden sollen. Das erlaubt im Anschluss eine zielgerichtete Auswahl geeigneter Institutionen. Da Bürger*innen in der Regel verschiedene Dinge problematisieren und unterschiedliche Prinzipien verwirklicht sehen wollen, scheinen solche gemischten Modelle besonders geeignet für Reformüberlegungen. Tatsächlich gibt es kein institutionelles Modell von Demokratie, das in der Lage wäre, alle Probleme gleichzeitig zu lösen oder alle gewünschten Prinzipien gleichermaßen zu gewährleisten. Genauso wenig gibt es Demokratiemodelle ohne jegliche institutionelle Schwäche.

Wir haben 2023 im Rahmen eines Forschungsprojekts Bürger*innen in Deutschland gefragt, was aus ihrer Sicht die wichtigsten Probleme der deutschen Demokratie sind. Es zeigt sich, dass die Menschen in der Tat multiple Probleme sehen: Jeweils knapp über 30 Prozent der Befragten sind beispielsweise der Meinung, dass Abgeordnete zu wenig fachliche Kompetenzen hätten, die Politik zu langsam sei und Interessenverbände zu viel Einfluss auf die Politik ausübten. Ebenfalls fast 30 Prozent beklagen, dass Politiker*innen die Interessen der Bürger*innen zu wenig berücksichtigten. Unterschiede zeigen sich auch bei den wichtigsten demokratischen Prinzipien, die präferiert werden: Neben grundlegenden demokratischen Werten wie Meinungsfreiheit und Gerechtigkeit werden zum Beispiel auch Aspekte institutioneller Entscheidungsfindung wie Kompetenz und Transparenz als wichtig angesehen.

Weder das repräsentative noch das lottokratische noch das direktdemokratische Modell kann die genannten Probleme und Prinzipien im Alleingang lösen beziehungsweise realisieren. Im repräsentativen Modell beispielsweise müssen sich Abgeordnete mit einer Vielzahl von politischen Themen beschäftigen, was mit der von Bürger*innen gewünschten starken Fachkompetenz nur schwer zu vereinen ist. Expertokratische Gremien könnten diese Fachkompetenz beisteuern, haben aber den gewichtigen Nachteil, dass ein Abwahlmodus fehlt, wenn sie aus Sicht der Bürger*innen schlechte Arbeit leisten. Lottokratische Bürgerräte wiederum können Gemeinwohlinteressen befördern und etwa den Einfluss von Interessenverbänden zurückdrängen, doch da durch das Losverfahren nur eine sehr kleine Gruppe von Bürger*innen zur Entscheidungsfindung ausgewählt wird, wird die Idee der Teilhabe aller Bürger*innen unterminiert – die aber entscheidend für das Gefühl ist, tatsächlich an den Entscheidungen partizipieren zu können und beteiligt zu sein. Direkte Teilhabe wiederum kann über direktdemokratische Instrumente wie Volksabstimmungen ermöglicht werden, birgt aber die Gefahr, unreflektierte Meinungsbildung zu befördern.

Problembasiertes Denken lenkt den Blick weg von der Suche nach einem einzigen perfekten institutionellen Modell, das alle Herausforderungen löst und all unsere demokratischen Werte in sich vereint. Stattdessen rückt die Frage nach der optimalen Kombination verschiedener Praktiken und Institutionen in den Vordergrund. Damit einher geht ein erweitertes Verständnis demokratischer Systeme: Diese werden nicht mehr über einzelne Institutionen wie Wahlen definiert, sondern über das Zusammenspiel vielfältiger Praktiken wie Wählen, Deliberation oder auch Protest und Mobilisierung. Die politische Philosophin Alice el-Wakil veranschaulicht dieses Verständnis mit dem Bild eines „blended drink“, der „two or more different types of the same product“ kombiniert – so wie ein Blended Whisky. Ziel institutionellen Designs und demokratischer Reformen ist es aus dieser Sicht, kreative und für den jeweiligen Kontext passende Kombinationen verschiedener demokratischer Elemente zu entwickeln.

Die empirische Forschung zu institutionellen Präferenzen war lange Zeit ebenfalls einem modellbasierten Denken verhaftet. Sie ging davon aus, dass Menschen entweder Politiker*innen, Bürger*innen, Expert*innen oder ein durchsetzungsfähiges Staatsoberhaupt als zentrale Entscheidungsträger bevorzugen. Gleichzeitige Präferenzen für unterschiedliche Entscheidungsträger wurden als einander ausschließend angesehen und als inkonsistente Präferenzen taxiert. Wenn wir problembasiertes Designen ernst nehmen, müssen wir den Blick aber gerade auf diese gemischten Präferenzen richten. Das erfordert von der Politikwissenschaft auch methodische Innovationen in der Messung dieser Präferenzen.

Was sagt die Empirie?

Die empirische Forschung zu Demokratiepräferenzen deutet darauf hin, dass Bürger*innen tatsächlich gemischte Demokratiemodelle bevorzugen. Ein Deliberationsexperiment mit deutschen Bürger*innen aus dem Jahr 2016 etwa hat gezeigt, dass die Mehrheit der Beteiligten ein gemischtes Modell aus repräsentativen, deliberativen und direktdemokratischen Elementen bevorzugt. Dieser Wunsch zeigt sich auch in zahlreichen Folgestudien: So ergab ein Conjoint-Experiment im Rahmen der Jugendstudie Baden-Württemberg 2022, dass Jugendliche das Parlament einem Bürgerrat und einem durchsetzungsfähigen Staatschef als zentrale demokratische Institution vorziehen. Gleichzeitig wünschen sich viele jedoch, dass die parlamentarischen Entscheidungen mit direktdemokratischen Referenden verknüpft und Expert*innen während des Prozesses eingebunden werden. Ein weiteres Conjoint-Experiment mit Erwachsenen in Deutschland und den USA kommt zu ähnlichen Ergebnissen und zeigt einen generellen Wunsch nach der Einbindung unterschiedlicher Akteure in den demokratischen Entscheidungsprozess. Diese bisherigen Experimente untersuchen allerdings weniger die „Gesamtgestaltung“ von demokratischen Systemen, sondern vielmehr, wie politische Entscheidungsprozesse in verschiedenen Politikbereichen – zum Beispiel der Migrations- oder der Sozialpolitik – ausgestaltet werden sollten, um Unterstützung zu erhalten.

Eine effektive Methode zur Erfassung komplexer Modellpräferenzen sind sogenannte Constant-Sum-Fragen. Dabei verteilen die Befragten eine festgelegte Anzahl von Punkten auf verschiedene Optionen. Dies zwingt sie, Prioritäten zu setzen und die relative Bedeutung von Alternativen abzuwägen. Im Gegensatz zu klassischen Ratingskalen, bei denen die Befragten auf einer Skala angeben, inwieweit sie bestimmte Akteure in politischen Entscheidungen unterstützen oder ablehnen, ermöglicht die Constant-Sum-Methode eine differenziertere Analyse von komplexen Präferenzen. Sie erfasst nicht nur die bevorzugten Optionen, sondern auch die Intensität der Unterstützung für ein Modell im Vergleich zu anderen Modellen. Eine aktuelle Studie aus Großbritannien zeigt zum Beispiel auf Basis einer Constant-Sum-Frage, dass eine deutliche Mehrheit der Bürger*innen – knapp 70 Prozent – Entscheidungsprozesse mit mehreren Akteuren bevorzugt.

Im Rahmen unseres DDME-Projekts („Designing Democracy on Mars and Earth“) haben wir eine Constant-Sum-Frage genutzt, bei der die Befragten 100 Punkte zwischen verschiedenen Regierungsmodellen – repräsentativ, „partizipatorisch“ (direktdemokratisch und/oder lottokratisch), expertokratisch und exekutiv (durchsetzungsfähiges Staatsoberhaupt) – verteilen konnten. Hierdurch konnten sie entweder verschiedene Modelle kombinieren oder auch all ihre Punkte für ein einziges Regierungsmodell vergeben. Die Ergebnisse basieren auf einem Pretest im Rahmen einer Onlineumfrage mit 319 Befragten im Januar 2024.

Abbildung 1 zeigt, wie die Beteiligten das deutsche System reformieren würden: Eine überwältigende Mehrheit der Teilnehmenden bevorzugt gemischte Modelle. Mehr als die Hälfte der Befragten kombiniert alle vier Modelle, und insgesamt über 80 Prozent integrieren mindestens drei Modelle. Lediglich etwa 6 Prozent präferieren ein einzelnes Demokratiemodell. Unter den Befragten, die mindestens zwei Modelle kombinieren, erhält das repräsentative Modell in der typischen Verteilung (Geometrisches Mittel) den größten Anteil mit rund 23 Prozent, dicht gefolgt vom expertokratischen Modell (Abbildung 2). Das partizipatorische Modell kommt auf etwa 18 Prozent, während einem durchsetzungsfähigen Staatsoberhaupt rund 7 Prozent der Entscheidungsgewalt zugewiesen wird. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die meisten Befragten eine Kombination verschiedener Modelle bevorzugen, wobei dem repräsentativen Modell über alle Kombinationen hinweg der größte Anteil an Entscheidungsgewalt zugesprochen wird.

Darüber hinaus haben wir die Beteiligten gefragt, wie sie sich die Verteilung von Entscheidungsgewalt auf dem „Mars“ vorstellen. Mit dem Szenario einer Demokratie auf dem Mars wollten wir herausfinden, wie weit die Beteiligten gehen würden, wenn sie ein politisches System von Grund auf neu, das heißt losgelöst von Pfadabhängigkeiten, bestehenden Problemen und institutionellen Zwängen wie etwa verfassungsrechtlichen Hindernissen, entwerfen könnten. In diesem hypothetischen Mars-Szenario tendieren die Befragten in Deutschland noch stärker in Richtung gemischter Systeme: Die Beteiligten „dezentrieren“ das repräsentative Modell noch etwas deutlicher und wünschen sich eine stärkere Einbeziehung expertokratischer und partizipatorischer Elemente in den Entscheidungsprozess.

Ein berechtigter Einwand ist, dass die Beteiligten solche gemischten Modelle auch deshalb wählen könnten, weil ihre institutionellen Präferenzen unklar ausgeprägt sind. Unsere Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass dies zu kurz greift. Nicht nur wurden die Beteiligten in unseren Umfrageexperimenten mit den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Modelle vertraut gemacht (die sie auch bewerten mussten), Nachanalysen zeigen auch, dass der Wunsch nach gemischten Modellen tatsächlich reflektierte Haltungen widerspiegelt. Zwei Zitate von Befragten aus Deutschland aus der Online-Befragung vom Januar 2024 illustrieren, warum sie ein gemischtes Modell beziehungsweise einen bestimmten Mix gewählt haben:

„Die gewählten Politiker sind diejenigen, die federführend sind. Bei Themen, die die Kompetenzen der Politiker überschreite[n], sollte ein Expertenrat hinzugezogen werden. Bei Themen, die den Großteil der Bevölkerung stark beeinflussen, sollte die Stimmung des Volkes abgefragt werden, um die beste Lösung zu finden.“

„Ich vertraue der Wissenschaft am meisten, da sie faktenbasiert, objektiv und hoffentlich möglichst unabhängig und weitsichtig entscheidet. Für gewisse Fragen braucht es aber vielleicht auch mehr (…) Herz, deshalb habe ich der Partizipation durch Bürger noch einen recht hohen Anteil eingeräumt; gelegentlich wird Deutschland auf internationalen Konferenzen etc. auch repräsentative Vertreter brauchen, die den Politslang können, daher ist in meinem Modell auch dieser Anteil noch vertreten.“

Konsequenzen für institutionelle Reformen

Wenn es tatsächlich so ist, dass Bürger*innen aus guten Gründen gemischte Regierungsmodelle präferieren, was bedeutet dies für konkrete demokratische Reformen? Geht es um die Verknüpfung direktdemokratischer und repräsentativer Institutionen, wird in der politikwissenschaftlichen Literatur häufig auf die Schweiz verwiesen. Sie gilt als Beispiel einer „halbdirekten Demokratie“ – ein System, in dem beide Elemente zusammenwirken, ohne dass sich eindeutig bestimmen lässt, welches dominiert.

Geht es um die Verknüpfung von repräsentativen Systemen und Lottokratie, schlägt der politische Philosoph Arash Abizadeh ein „hybrides“ Zweikammersystem vor: Eine „parteiliche Kammer“ (gewählt) und eine „lottokratische Kammer“ (gelost) sollen zusammenwirken und sich gegenseitig ergänzen. Die parteiliche Kammer bringt Themen ein, strukturiert die Debatte und ist durch Wahlen rechenschaftspflichtig. Die lottokratische Kammer stärkt die Deliberation und gibt den (potenziell) gemeinsamen Interessen der Bürger*innen mehr Gewicht. Einen ähnlichen Gedanken verfolgen die Politikwissenschaftler*innen Patrizia Nanz und Claus Leggewie mit der „Konsultativen“ – einer vierten Gewalt neben Legislative, Exekutive und Judikative, bestehend aus ausgelosten Bürger*innen.

Was wie eine Utopie wirken mag, ist bereits an einigen Orten institutionelle Realität: In Ostbelgien und Paris etwa wurde das repräsentative System durch ständige (und verstetigte) Bürgerversammlungen ergänzt. In Paris kann die lottokratische Bürgerversammlung sogar formal Gesetzentwürfe einbringen – und nicht nur, wie in Ostbelgien, Empfehlungen aussprechen.

Daneben existieren auch Mischformen zwischen repräsentativem und expertokratischem Modell. Beispiele sind etwa Politiker*innen mit Fachexpertise oder Personen, die aufgrund ihrer Expertise in ein politisches Amt berufen werden. Darüber hinaus gibt es Gremien wie Sachverständigen- und Ethikräte, die bereits jetzt Regierungen beratend unterstützen. Deren Machtbefugnisse könnten stärker institutionalisiert werden, zum Beispiel durch konkrete Vorschlags- oder Abstimmungsrechte.

Aber wie gut sind diese gemischten Systeme? Um die Metapher des Blended Whisky noch einmal aufzugreifen: Sind Blends tatsächlich besser als Single Malts? Einige Whisky-Expert*innen vertreten die Ansicht, dass Single Malts eine überlegene Qualität bieten – andere wiederum betonen, dass auch Blends hervorragend schmecken können. Entscheidend ist wohl letztlich die Zusammensetzung der Mischung – ein Punkt, auf den wir zurückkommen werden.

Stärken und Schwächen gemischter Systeme

Eine grundsätzliche Stärke gemischter Systeme liegt darin, dass es mit ihnen leichter fällt, politische Probleme zu bearbeiten. Für den politischen Philosophen Josiah Ober beispielsweise beschreibt die Demokratie im antiken Athen ein optimales Regierungssystem: In einem Bürgerrat wie dem „Rat der 500“ werden Themen auf Grundlage von Expert*inneninput intensiv diskutiert, bevor die Ergebnisse direktdemokratisch abgestimmt werden. Aus Obers Sicht führte dieses gemischte Verfahren im Durchschnitt zu „intelligenten“ Entscheidungen. Der theoretische Kontrast dazu sind Systeme, die entweder ausschließlich auf (vermeintlich unfehlbare) Expertise oder ganz und gar auf direktdemokratische Entscheidungen setzen.

Gemischte Modelle haben noch weitere Vorteile: Sie verteilen politische Verantwortung auf mehrere Akteure und Institutionen und machen das politische System damit weniger abhängig von der Leistung einzelner Spitzenpolitiker*innen – was ein inhärentes Defizit vieler bestehender repräsentativer Demokratien ist. Zudem kann ein gemischtes Modell – insbesondere, wenn es inklusive repräsentative Institutionen mit direkter Bürger*innenbeteiligung verbindet – zu einer höheren allgemeinen Demokratiezufriedenheit führen. Und es kann ausgleichend auf die Zufriedenheit von Wahlgewinner*innen und Wahlverlierer*innen wirken.

Nachteile von gemischten Systemen sind ihre Komplexität und potenzielle Intransparenz. Wenn multiple Entscheidungsträger*innen Politik ausarbeiten, kann es für Bürger*innen schwierig sein, politische Verantwortung zuzuordnen. Gleichzeitig können gemischte Systeme Probleme mit sich bringen, wenn sie eine ausgeprägt aktive Rolle der Bürger*innen voraussetzen, denn der Wunsch nach mehr direkter Demokratie geht nicht zwangsläufig mit entsprechender Teilnahme an direktdemokratischen Abstimmungen einher. Auch dies wird am Beispiel der Stadt Paris deutlich, wo die Beteiligung an solchen Abstimmungen wiederholt deutlich unter 10 Prozent lag. Solch geringe Beteiligungsquoten können zu Repräsentationslücken und -defiziten führen – insbesondere dann, wenn sich bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch seltener beteiligen und ihre politischen Anliegen dadurch weniger Gehör finden. Ob solche Repräsentationslücken auch zu einem wahrgenommenen Mangel an Akzeptanz führen, ist eine offene Frage. Es ist zumindest möglich, dass Menschen, die nicht an einer Abstimmung teilgenommen haben, das Ergebnis dennoch eher zu akzeptieren bereit sind – eben deshalb, weil es eine direktdemokratische Abstimmung gab.

Die entscheidende Herausforderung liegt in der konkreten institutionellen Gestaltung gemischter Systeme. Anders gesagt: Wie beim Blended Whisky kommt es auch bei politischen Systemen auf die richtige Mischung an. Als Illustration lohnt sich ein Blick auf das Zusammenspiel von direktdemokratischen und repräsentativen Institutionen in der Schweiz und in Kalifornien. Es zeigt sich, dass die Elemente von Mischsystemen aufeinander abgestimmt sein müssen, damit sie gut miteinander harmonieren. Ansonsten kann eine „Entkopplung“ von repräsentativen und direktdemokratischen Institutionen Politik „irrational“ machen. So wurde beispielsweise 1978 bei einer Volksabstimmung in Kalifornien eine Initiative der Republikanischen Partei („Proposition 13“) angenommen, die festschrieb, dass Steuererhöhungen nur mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des kalifornischen Parlaments beschlossen werden können. Diese hohe Hürde für Steuererhöhungen führte nicht nur zu schmerzlichen Kürzungen in anderen wichtigen Politikbereichen wie dem Gesundheitswesen, sondern schränkte auch die Handlungsfreiheit des Parlaments massiv ein. Im Gegensatz dazu hat der repräsentative Teil des politischen Systems in der Schweiz die Möglichkeit, direkte Demokratie „mitzusteuern“, indem etwa Gegenvorschläge zu Volksinitiativen formuliert werden. Dadurch kann Politik als Ganze aufeinander abgestimmt werden, und direktdemokratische und repräsentative Akteure werden in die Lage versetzt, miteinander konsistente Ziele zu verfolgen.

Festzuhalten bleibt, dass Bürger*innen die Parteiendemokratie und das repräsentative System nicht einfach abschaffen wollen. Hier ist die Datenlage sehr klar. Die Menschen in Deutschland wollen dieses System aber stärker bürger*innenzentriert und mit mehr Expertise ausgestalten. Viele politische Systeme – inklusive das der EU – sind schon seit Längerem auf dem Weg zu einer „vielfältigeren“ Demokratie, in der insbesondere Bürger*innenbeteiligung höher gewichtet wird. In der Tat wird die Idee eines institutionalisierten Bürgerrats in einigen europäischen Städten, etwa in Madrid oder in Turku/Åbo in Finnland, bereits umgesetzt. Aus verfassungsrechtlichen Gründen bleibt dies in Deutschland schwierig, sollten solche Bürgerräte mehr als nur eine beratende Funktion haben. Wie unsere Forschungsergebnisse zum „Mars“ nahelegen, werden einige zusätzliche konsultative Bürgerräte den Bürger*innen nicht genügen. Auch die Idee einer stärkeren Einbindung von Expert*innen in den Entscheidungsprozess könnte neu überdacht werden. Insgesamt, so unsere Botschaft auch für politisch verantwortliche Akteure, besteht ein deutlicher Wunsch nach einer gleichberechtigteren institutionellen Kooperation von partizipatorischen, expertokratischen und repräsentativen Elementen in zukünftigen Demokratien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jugendstudie Baden-Württemberg 2024, Stuttgart 2025, Externer Link: https://km.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-km/intern/PDF/Dateien/Jugend/Jugendpolitik/Jugendstudie-BW-2024_Endbericht.pdf.

  2. Vgl. GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, ALLBUScompact 2018, GESIS Datenarchiv, Köln 2019, ZA5271, Externer Link: https://doi.org/10.4232/1.13273.

  3. Vgl. die Daten des World Values Survey für Deutschland, Wave 7 (2017–2022), Externer Link: https://www.worldvaluessurvey.org/WVSDocumentationWV7.jsp.

  4. Dieser Beitrag wurde unterstützt durch den European Research Council (ERC), Projekt-Nummer 101054111.

  5. Siehe Externer Link: https://www.demnext.org.

  6. Vgl. Saskia Goldberg/André Bächtiger, Catching the „Deliberative Wave“? How (Disaffected) Citizens Assess Deliberative Citizen Forums, in: British Journal of Political Science 1/2023, S. 239–247; Saskia Goldberg/Marina Lindell/André Bächtiger, Empowered Minipublics for Democratic Renewal? Evidence from Three Conjoint Experiments in the United States, Ireland, and Finland, in: American Political Science Review 2024, S. 1–18, Externer Link: https://doi.org/10.1017/S0003055424001163.

  7. Vgl. Mark E. Warren, A Problem-Based Approach to Democratic Theory, in: American Political Science Review 1/2017, S. 39–53; Michael Saward, Democratic Design, Oxford 2021.

  8. Vgl. André Bächtiger et al., Democratic Preferences in Germany and the US. Pre-Registered Survey, 2023, Externer Link: https://osf.io/xwnuk.

  9. Vgl. Samuel Bagg, Sortition as Anti-Corruption: Popular Oversight Against Elite Capture, in: American Journal of Political Science 1/2024, S. 93–105.

  10. Vgl. Warren (Anm. 7).

  11. Vgl. Alice el-Wakil, Government with the People. The Value of Facultative Referendums in Democratic Systems, Dissertation, Universität Zürich 2020.

  12. Vgl. Saward (Anm. 7).

  13. Vgl. Åsa Bengtsson/Henrik Christensen, Ideals and Actions: Do Citizens’ Patterns of Political Participation Correspond to Their Conceptions of Democracy?, in: Government and Opposition 2/2016, S. 234–260; Sergiu Gherghina/Brigitte Geissel, Linking Democratic Preferences and Political Participation: Evidence from Germany, in: Political Studies 1/2017, S. 24–42.

  14. In einem Deliberationsexperiment erhalten Teilnehmende Informationen zu einer Fragestellung und wägen diese dann über Pro- und Contra-Argumente ab, was eine wohlüberlegte Meinungsäußerung garantiert.

  15. Vgl. Saskia Goldberg/Dominik Wyss/André Bächtiger, Deliberating or Thinking (Twice) About Democratic Preferences: What German Citizens Want from Democracy, in: Political Studies 2/2020, S. 311–331; siehe auch Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Vielfältige Demokratie. Kernergebnisse der Studie „Partizipation im Wandel – Unsere Demokratie zwischen Wählen, Mitmachen und Entscheiden“, Gütersloh 2014, Externer Link: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_Vielfaeltige_Demokratie.pdf.

  16. In Conjoint-Experimenten müssen die Befragten verschiedene Szenarien mit zufällig zusammengesetzten Merkmalen (zum Beispiel von demokratischen Institutionen) bewerten.

  17. Vgl. Vanessa Schwaiger/André Bächtiger, „Stick to the Status Quo“? A Conjoint Experiment with German Adolescents on Democratic Designs, in: European Journal of Political Research 2/2025, S. 851–863.

  18. Vgl. Eva-Maria Trüdinger et al., Good News for Democracy: Citizens Do Not Want Strong Leaders, but Rather Inclusive Representative Institutions with Checks and Balances, unveröff. Manuskript, 2024.

  19. Vgl. Tessa Haesevoets et al., Who Do People Prefer to Be in Charge? An In-Depth Analysis of UK Citizens’ Preferences for Politicians, Citizens, Experts, and/or Artificial Intelligence in Policymaking, in: Political Studies 2025, Externer Link: https://doi.org/10.1177/00323217251323406.

  20. Siehe Externer Link: https://www.sowi.uni-stuttgart.de/en/departments/pt/research/ddme.

  21. Die Ergebnisse sind replizierbar in einer großen Quotenstichprobe für Deutschland. Vgl. Vanessa Schwaiger et al., Reimagining Governance on Mars and Earth: What Citizens Want from Governance in the 21st Century, unveröff. Manuskript, 2025.

  22. Das geometrische Mittel ist ein Durchschnittsmaß für Verhältnisdaten. Es berücksichtigt – im Gegensatz zum arithmetischen Mittel – proportionale Veränderungen.

  23. Vgl. Schwaiger et al. (Anm. 21).

  24. Vgl. Arash Abizadeh, Representation, Bicameralism, Political Equality, and Sortition: Reconstituting the Second Chamber as a Randomly Selected Assembly, in: Perspectives on Politics 3/2021, S. 791–806.

  25. Vgl. Patrizia Nanz/Claus Leggewie, Die Konsultative, Berlin 2018.

  26. Vgl. Kristiane Sherry, Better Together: The Joy, Elegance and Expressiveness of Blended Scotch Whisky, 6.11.2024, Externer Link: https://cluboenologique.com/report/blended-scotch-whisky. Wir danken Felix Heidenreich für den ironischen Hinweis, dass Blendings weder bei Whiskys noch bei institutionellen Arrangements gut sein müssen.

  27. Vgl. Josiah Ober, Democracy´s Wisdom: An Aristotelian Middle Way for Collective Judgment, in: American Political Science Review 1/2013, S. 104–122.

  28. Vgl. Julian Bernauer/Adrian Vatter, Can’t Get No Satisfaction with the Westminster Model? Winners, Losers and the Effects of Consensual and Direct Democratic Institutions on Satisfaction with Democracy, in: European Journal of Political Research 4/2011, S. 435–468.

  29. Vgl. Eva-Maria Trüdinger/André Bächtiger, Attitudes vs. Actions? Direct-Democratic Preferences and Participation of Populist Citizens, in: West European Politics 1/2023, S. 241–254.

  30. Siehe z.B. Paris Residents Vote in Favour of Making 500 More Streets Pedestrian, 23.3.2025, Externer Link: https://www.reuters.com/world/europe/paris-residents-vote-favour-making-500-more-streets-pedestrian-2025-03-23; Pariser stimmen für Leihroller-Verbot, 3.4.2023, Externer Link: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/paris-e-scooter-verbot-101.html.

  31. Vgl. Hannah Werner/Sofie Marien, Process vs. Outcome? How to Evaluate the Effects of Participatory Processes on Legitimacy Perceptions, in: British Journal of Political Science 1/2022, S. 429–436.

  32. Vgl. Aleksandra Kulezsa, Direkte Demokratie in Kalifornien, in: Wolfgang Merkel/Claudia Ritzi (Hrsg.), Die Legitimität direkter Demokratie. Wie demokratisch sind Volksabstimmungen?, Wiesbaden 2017, S. 155–176.

  33. Vgl. Christopher H. Achen/Larry M. Bartels, Democracy for Realists: Why Elections Do Not Produce Responsive Government, Princeton 2016.

  34. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Anm. 15).

  35. Vgl. Arne Pautsch, Institutionalisierte Deliberation: Das „Ostbelgien-Modell“ als rechtliche Blaupause, 15.5.2025, Externer Link: https://verfassungsblog.de/buergerraete_demokratie_belgien.

  36. Vgl. Eri Bertsou/Daniele Caramani, People Haven‘t Had Enough of Experts: Technocratic Attitudes Among Citizens in Nine European Democracies, in: American Journal of Political Science 1/2022, S. 5–23.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: André Bächtiger, Seraphine Arnold, Franziska Maier, Anja Rieker, Vanessa Schwaiger, Eva-Maria Trüdinger für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung an der Universität Stuttgart und leitet aktuell das ERC-Advanced-Grant-Projekt "Designing Democracy on Mars and Earth (DDME)". Er forscht zu deliberativer Demokratie und der Zukunft demokratischen Regierens.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DDME-Projekt und Doktorandin an der Universität Stuttgart. Sie forscht zu politischen Wirkungen von lottokratischen Bürgerforen.

ist Postdoktorandin im DDME-Projekt an der Universität Stuttgart. Sie forscht zu Citizenship, Deliberation und kosmopolitischen Einstellungen von Bürger*innen.

ist Doktorandin im DDME-Projekt an der Universität Stuttgart. Sie forscht zu neuen Methoden der Messung von Demokratiepräferenzen.

ist Doktorandin im DDME-Projekt an der Universität Stuttgart. Sie forscht zu den demokratischen Einstellungen von unterrepräsentierten Menschen und Jugendlichen.

ist Privatdozentin an der Universität Stuttgart. Sie forscht zu Fragen des politischen Vertrauens, zu Demokratieeinstellungen und zum Föderalismus im SNF/DFG-Lead-Agency-Projekt "Attitudes toward Federalism in Germany and Switzerland (Attfed)".