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Parteienverdrossenheit – und was dagegen helfen könnte | bpb.de

Parteienverdrossenheit – und was dagegen helfen könnte Essay

Liane Bednarz

/ 18 Minuten zu lesen

Der verbreiteten Parteien- und Politikverdrossenheit wohnt die Gefahr inne, sich zu einem grundlegenden Misstrauen gegenüber der liberalen Demokratie auszuweiten. Grund genug, der Frage nachzugehen, was ihre wichtigsten Ursachen sind.

„Die da oben“, die „abgehobenen Politeliten“, im schlimmsten Fall sogar: „diese Volksverräter“ – Sprachbilder wie diese haben sich längst in signifikanten Teilen der Bevölkerung verfestigt. Die AfD befeuert dieses Narrativ seit ihren Anfängen mit einer Daueragitation gegen „Altparteien“, „Systemparteien“ oder „Kartellparteien“. Zugleich inszeniert sie sich als einzig wahre Stimme des Volkes – und ist, als nunmehr zweitstärkste Bundestagsfraktion, durchaus erfolgreich damit.

Diese Stimmungsmache ist gefährlich. Sie ist deshalb gefährlich, weil mit ihr die gelegentliche Parteien- beziehungsweise Politikverdrossenheit – für die es mitunter durchaus gute Gründe gibt, um die es im Folgenden gehen soll – immer häufiger in ein grundlegendes Ressentiment gegen das liberale demokratische System umschlägt. Statt dieses wertzuschätzen, suchen inzwischen zu viele Menschen Halt bei Parteien mit autoritären Phantasien.

Perfekte Staatsform für den unperfekten Menschen

Die geschilderte Entwicklung ist fatal, weil die liberale Demokratie – und nicht der Autoritarismus – die perfekte Staatsform für den unperfekten Menschen ist. Denn nur sie verfügt über solide eingebaute Kontroll- und Korrekturmechanismen. Diese gewährleisten jedem und jeder ein Leben in Freiheit und ohne Repression. Und sie sorgen dafür, dass Politiker Fehler, die sie gemacht haben und die von Zeit zu Zeit völlig zu Recht zu Verdruss führen, nicht einfach ignorieren können, sondern für sie geradestehen müssen.

Die Kontrolle fehlerhaften oder gar missbräuchlichen politischen Handelns vollzieht sich, samt ihrer Reparaturmöglichkeiten, vor allem auf drei Ebenen: Erstens verhindert die für die liberale Demokratie konstitutive Gewaltenteilung aus Exekutive, Legislative und Judikative ein autoritäres Durchregieren. Vor allem der Justiz, die Gesetze und Regierungs- oder Verwaltungshandeln einer gerichtlichen Kontrolle unterziehen kann, kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Es ist daher kein Zufall, dass autoritäre Regierungen darum bemüht sind, die unabhängige Justiz massiv zu schwächen und auf Linie zu bringen.

Zweitens gewährt die liberale Demokratie freie, gleiche und geheime Wahlen und, das ist im Kontext der Parteienverdrossenheit wichtig, die Chancengleichheit der Parteien bei diesen Wahlen. Wer unzufrieden mit einer Regierung oder den sie tragenden Parteien ist – die er zuvor vielleicht selbst gewählt hat –, kann bei der nächsten Wahl sein Kreuz gegebenenfalls bei einer anderen Partei machen. Der regelmäßige Machtwechsel durch Abwahl ist gewissermaßen die DNA der liberalen Demokratie – und ihr effizientester Kontrollmechanismus. Wer verdrossen von „seiner“ oder „ihrer“ Partei ist, kann sich umorientieren und im Idealfall sogar zur Katharsis der abgewählten Partei beitragen. Wird aber aus Verdrossenheit mit dem eigenen parteipolitischen Lager eine generelle Politik- und Demokratieverdrossenheit – und wendet man sich in der Folge autoritären Parteien zu, die mit Demokratie wenig anfangen können, oder wählt möglicherweise gar nicht mehr –, funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr. Parteien- und Politikverdrossenheit rechtzeitig entgegenzuwirken, müsste deshalb auch im Eigeninteresse jeder demokratischen Partei liegen.

Interessant ist, dass unter bestimmten Umständen Parteien- und Politikverdrossenheit auch ihre guten Seiten haben kann. Unter den Bedingungen noch nicht verfestigter autoritärer Strukturen beispielsweise kann eine stetig größer werdende Unzufriedenheit und Verdrossenheit zum Umdenken führen. In Polen hat vor allem der Unmut urbaner Milieus und junger Leute mit der PiS-Regierung 2023 zu deren Abwahl geführt – aller Kontrolle der staatlichen Medien und der Gerichte zum Trotz. Allerdings konnte der PiS-nahe Kandidat Karol Nawrocki jüngst die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden. In Ungarn liegt die Partei von Oppositionsführer Péter Magyar in Umfragen derzeit vor Viktor Orbán, dessen Fidesz-Partei die kommenden Parlamentswahlen tatsächlich verlieren könnte. In autoritären Staaten und Demokratien mit autoritären Tendenzen kann Verdrossenheit mit herrschenden Parteien also mitunter ein Treiber für Veränderung zum Besseren sein.

Der dritte zentrale Kontroll- und Reparaturmechanismus der liberalen Demokratie hat mit der Presse- beziehungsweise generell der Meinungsfreiheit zu tun. Eine kritische Öffentlichkeit ist nicht nur hilfreich bei der allgemeinen Bewertung von Regierungstätigkeit und gegebenenfalls der Abwahl von Regierungsparteien, sondern sie hilft auch dabei, parteiliche Fehlentscheidungen oder individuelle Grenzüberschreitungen von Politikern – zum Beispiel im Rahmen von Korruption und Machtmissbrauch – aufzudecken. Medien und Öffentlichkeit konstituieren eine inoffizielle vierte Säule der Gewaltenteilung. Anders als in Diktaturen werden Informanten und Hinweisgeber nicht verfolgt, vergiftet oder ins Exil getrieben, sondern ihre Hinweise werden in der Regel ernst genommen und öffentlich debattiert – was zur Behebung von Missständen beiträgt und im Idealfall Verdrossenheit entgegenwirken kann. Natürlich gelingt das auch in Demokratien nicht immer, aber das liberaldemokratische System eröffnet zumindest die Möglichkeit zur Selbstreinigung.

Auslöser für Parteienverdrossenheit

Die erwähnten Kontroll- und Reparaturmechanismen der liberalen Demokratie haben gleichwohl nicht verhindern können, dass sich auch hierzulande Parteien- und Politikverdrossenheit immer mehr ausbreiten. Auch wenn Verdruss immer zur liberalen Demokratie dazugehört, ist doch auffällig, wie sehr er in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zum „geflügelten Wort“ geworden ist. Grund genug, sich genauer anzusehen, was Parteien für Menschen anziehend macht – und was die Bürger von den Parteien mitunter entfremdet. Ein Erklärungsversuch in sechs Schritten.

Zu hohe Erwartungen: Politik ist keine „Serviceleistung“

Um mit einem kritischen Blick auf die parteienverdrossenen Wähler selbst anzufangen: Nicht nur Politikerinnen und Politiker haben ihren Anteil an Parteien- und Politikverdrossenheit. Viele Bürger betrachten Politik zunehmend als eine Art Serviceleistung, die ihnen persönliches Lebensglück ermöglichen und absichern soll – ähnlich einem Konsumgut, das man durch das Setzen des Kreuzes in der Wahlkabine bestellt und geliefert bekommt. Mit einer derartigen Geisteshaltung ist Politikverdrossenheit fast zwangsläufig vorprogrammiert.

Der frühere CDU-Innenminister Thomas de Maizière brachte diese Problematik kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ treffend auf den Punkt: „Der Staat“, so de Maizière, „ist kein Pizzaservice“. De Maizière ist – gemeinsam mit dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, dem ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten und Finanzminister Peer Steinbrück sowie der Medienmanagerin Julia Jäkel – Initiator der überparteilichen „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, die sich für eine Staatsreform einsetzt, mit der die „Effizienz und Bürgernähe der deutschen Verwaltung durch umfassende Reformen“ gestärkt werden soll. So soll etwa durch „Erleichterungen bei Nachweis- und Berichtspflichten, dafür schärferen Sanktionen bei Fehlverhalten [eine] Vertrauens- statt Misstrauenskultur“ geschaffen werden. Auf die Frage, ob es eine gute Idee sei, wie derzeit häufig aus der CDU zu hören, den Staat zum „Liefern“ aufzufordern, hat de Maizière eine klare Antwort:

„Das halte ich für ganz falsch. Der Staat ist kein Pizzaservice. (…) Der Staat muss effektiv sein, er muss schnell sein, präzise, und er muss verlässlich sein. Er muss stark sein. (…) Wenn ich ein Kind bekomme und gebe die Daten meines neugeborenen Kinds dem Standesamt, dann kann der Staat durch Verknüpfung von Daten dafür sorgen, dass ich Kindergeld bekomme oder vielleicht zusätzliches Wohngeld, ohne weitere Anträge stellen zu müssen. Das müsste eine Serviceleistung des Staates sein. Von mir aus ‚liefert‘ er da. Mich stört aber an dem Begriff, dass er ein falsches Bild vom Verhältnis zwischen Staat und Bürger zeichnet. Generell kann der Staat nicht die Erfüllung privater Bedürfnisse befriedigen wie Glück, Sicherheit im Sinne von Selbstsicherheit, Erziehung, Vorbild, Allgemeinbildung. Er kann sie fördern, aber das sind Dinge, die Bürger ohne Staat hinbekommen können und müssen – was sie auch stärker macht.“

Was soll man sagen? De Maizière hat Recht! Es ist in der Tat nicht Aufgabe des Staates, individuelle Glücksvorstellungen wahr werden zu lassen. Er muss effektive Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Gemeinwesen bereitstellen. Aber nicht mehr. Ein Staat ist kein Nikolaus, der den Bürgern vollgepackte Stiefel mit Geschenken vor die Tür stellt oder – um in de Maizières Bild zu bleiben – ein Lieferservice, der die Pizza mit dem gewünschten Belag nach Hause liefert. Das Pizzaservice-Bild ist auch deshalb gut gewählt, weil die Geschmäcker bekanntlich verschieden sind. Der eine bevorzugt Funghi, die nächste Prosciutto und der nächste Tonno. Anders als der auf Pizza spezialisierte Lieferdienst kann der Staat ein derart individuelles Angebot nicht gewährleisten. Es genügt, wenn er den Teig und die Tomatensoße und damit die Basiszutaten zur Verfügung stellt. Belegen müssen wir die Pizza schon selber.

Die liberale Demokratie hält keine Glücksversprechen für die Menschen bereit – ein solches Versprechen müsste scheitern. Aber sie schafft die Chancen und Voraussetzungen für jeden und jede, unabhängig von Herkunft, Religion, Ethnie oder Geschlecht nach dem je eigenen Glück zu streben. So formulierten es schon die Gründerväter der USA. Jede individuelle Erwartungshaltung, die darüber hinausgeht, führt nahezu zwangsläufig zu Enttäuschung, Parteien- und Politikverdruss – und im schlimmsten Fall zu einem generellen Ressentiment gegenüber der liberalen Demokratie.

Und noch eines sei vorausgeschickt, bevor es um die Rolle der Parteien und der Politiker geht: Politik ist ein hartes Geschäft, insbesondere auf der Landes- und erst recht auf der Bundesebene. Die Mär von „den faulen Politikern“ ist genau das: ein Märchen. Der herausfordernde Arbeitsalltag beginnt mit dem ständigen Pendeln zwischen Wahlkreis und Parlamentssitz, setzt sich fort mit vielen langen Sitzungen im Plenum und in Ausschüssen und geht über die sorgfältige Lektüre unzähliger Vorlagen und Akten zu allen möglichen Themen und der Fokussierung auf eigene Spezialthemen bis hin zum intensiven Austausch mit Akteuren der Zivilgesellschaft und des vorpolitischen Raums. Selten enden die Arbeitstage vor 22 Uhr. Hinzu kommt die ständige – und, wie gesehen, ja auch erwünschte – Beobachtung durch die kritische Öffentlichkeit und die Medien, verbunden mit der Unsicherheit, ob man bei den nächsten Wahlen wiedergewählt wird oder sich ein anderes Betätigungsfeld suchen muss. Bei Ministern und parlamentarischen Staatssekretärinnen und -sekretären potenziert sich all das noch. Mit anderen Worten: Es ist ein Knochenjob, aber mit deutlich weniger Gehalt als dem eines Vorstandsmitglieds eines großen Konzerns mit vergleichbarer Arbeitsbelastung.

Bruch von Wahlversprechen und Vernachlässigung der Partei-DNA

Doch natürlich sind nicht nur selektive Fehlperzeptionen auf der Wählerseite für Verdrossenheit verantwortlich. Viele der Malaisen sind hausgemacht.

Zu den wichtigsten Faktoren für die Entstehung von Parteien- und Politikverdrossenheit zählen zweifellos der Bruch zentraler Wahlversprechen und das Abrücken von Prinzipien, die für eine Partei prägend sind. Dies ist deshalb so zentral, weil damit der Verlust von Vertrauen und Glaubwürdigkeit verbunden ist. Wenn beispielsweise nach der jüngsten Bundestagswahl CDU/CSU gemeinsam mit der SPD und den Grünen – und noch vor Konstituierung des neuen Bundestages – eine Lockerung der Schuldenbremse für Mittel der Landesverteidigung und ein 500-Milliarden-Sondervermögen für Infrastruktur beschließen, dann ist das keine Petitesse. Damit keine Missverständnisse aufkommen: In der Sache ist beides richtig, auch und gerade, weil die Verteidigung der liberalen Demokratie gegen den Aggressor Russland immens wichtig geworden ist. Aber als Kanzlerkandidat hatte Friedrich Merz eine Reform der Schuldenbremse lange kategorisch ausgeschlossen. Auch wenn er sich im November 2024 eine kleine Hintertür offengelassen hatte, waren seine Aussagen noch zwei Tage nach der gewonnenen Bundestagswahl unmissverständlich: „Es ist in der naheliegenden Zukunft ausgeschlossen, dass wir die Schuldenbremse reformieren.“ Entsprechend heftig fielen die Reaktionen aus: „Wählertäuschung“ und „Wahlbetrug“ lauteten die Vorwürfe. 73 Prozent der Befragten fanden laut ZDF-Politbarometer vom 21. März 2025 den Vorwurf der Wählertäuschung berechtigt. Selbst 44 Prozent der Anhänger von CDU/CSU sahen das so. Auch innerhalb der Unions-Bundestagsfraktion gab es kritische Stimmen – man habe der Bevölkerung im Wahlkampf schließlich etwas anderes erzählt. Die in der Sache richtige Entscheidung hat dem Politikverdruss also erheblich Vorschub geleistet.

Gewiss, der Eklat zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Ende Februar 2025 im Weißen Haus dürfte entscheidend zu Merz’ Sinneswandel beigetragen und ihn zu der (richtigen) Einsicht bewogen haben, dass Europa und damit auch Deutschland die eigene Verteidigungsfähigkeit massiv forcieren muss. Nur hätte er genau das den Wählern offen und ehrlich erklären müssen. Bürgerinnen und Bürger haben großes Verständnis für die Notwendigkeit von Politikänderungen – nur wollen sie die Gründe dafür auch nachvollziehen können.

Das Problem der Merz’schen Kehrtwende war also nicht die Wende an sich, sehr wohl aber deren defizitäre Kommunikation. Sie wog besonders schwer, weil die Union erst Ende Januar 2025 zwei Entschließungsanträge zur Migrationspolitik in den Bundestag eingebracht und dabei die absehbare Zustimmung der AfD zu einem der beiden in Kauf genommen hatte, obwohl Merz dies noch im November 2024 dezidiert ausgeschlossen hatte. Zwar gab es auch für dieses Vorgehen gute Gründe, weil die Bevölkerung sich nach den Anschlägen von Aschaffenburg, Magdeburg und Solingen gerade von den Unionsparteien einen strengeren Law-and-Order-Kurs erhoffte. Doch auch hier war Merz’ Kommunikationsstrategie mindestens naiv, wenn nicht dilettantisch – auch und gerade im Hinblick auf das sensible Thema der Aufrechterhaltung der „Brandmauer“ zur AfD. Wie auch immer man inhaltlich zu all dem steht: Glaubwürdigkeit ist die härteste Währung in der Politik. Ist sie erst einmal beschädigt, wird es schwer, sie wiederherzustellen. Ihr Verlust trägt massiv zur Parteien- und Politikverdrossenheit bei.

Auch die DNA einer Partei, ihr Wesenskern, kann so sehr beschädigt werden, dass die Wähler ihr Vertrauen in sie verlieren. Die SPD hat diese schmerzliche Erfahrung zu Beginn der 2000er Jahre mit der Einführung der Hartz-Reformen machen müssen. Man kann dieses Konzept und die sich daran anschließende Reformgesetzgebung, wie die Verfasserin dieses Textes, durchaus für richtig halten. Dass beides der SPD als Partei aber massiv geschadet hat, steht außer Frage – und das auch mit langfristigen Folgen: Der Versuch einer späten Korrektur mithilfe des Bürgergeldes führte zu Fehlanreizen bei der Arbeitsaufnahme, was wiederum die hart arbeitende SPD-Stammklientel – Stichwort Lohnabstandsgebot – vor allem in den unteren Lohnklassen erzürnte. Gleichzeitig zettelte die AfD eine Neiddebatte an, weil auch manche Flüchtlinge Bürgergeld bekamen. So wurde aus einer gut gemeinten, aber überschießenden Korrektur ein Bumerang für die SPD. Verloren gegangenes Vertrauen konnte nicht wiederhergestellt werden.

Die CDU wiederum verriet mit dem Eintritt in die Thüringer „Brombeer-Koalition“ im Dezember 2024 – und damit in eine Regierung, der auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) angehört – ebenfalls einen zentralen Baustein ihrer DNA. Mit dem entschiedenen Ausspruch „Wir wählen die Freiheit“ verpasste Konrad Adenauer einst der CDU und dann der gesamten alten Bundesrepublik eine strikte Westbindung. Eine Koalition mit dem BSW, dessen Gründerin und Führungsfigur Wagenknecht im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit der Übernahme russischer Narrative und Putin-Appeasement auffiel, ist mit dem Prinzip der Westbindung schlichtweg unvereinbar. Auch hier gilt: Über den richtigen Ausweg aus dem Krieg in der Ukraine darf man streiten. Für die CDU aber kann die Westbindung nicht zur Disposition stehen, ohne dass sie ihren Wesenskern aufgibt. Deshalb bleibt die Brombeer-Koalition ebenso ein Ärgernis wie die Positionierung des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer in der Russland-Frage. Beides führt unter Unionsanhängern völlig zu Recht zu Verdruss.

Fehlerhafte Fehlerkultur

Ähnlich, wie bei Friedrich Merz die schlechte Kommunikation inhaltlicher und strategischer Neupositionierungen zu einem Glaubwürdigkeitsverlust geführt hat, nährt auch bei Fehlern oder Fehlverhalten von Politikern oftmals nicht der Fehler an sich Politikverdrossenheit, sondern der Umgang damit. In der Verlagsankündigung des differenziert argumentierenden Buchs „Die Fehlbaren“ von Helene Bubrowski (2023) heißt es treffend: „Vertuschen. Abstreiten. Aussitzen. Salamitaktik: So gehen Politiker*innen mit politischen Fehlentscheidungen und persönlichen Fehltritten um. Neuerdings werden Fehler auch offensiv benannt, aber erst, wenn sie publik sind und die Kritik massiv wird. So entwickelt nicht der Fehler selbst, sondern der Umgang damit politische Sprengkraft. Die Folgen sind Politikverdruss und Misstrauen.“ Andreas Scheuer, Annalena Baerbock, Karl-Theodor zu Guttenberg, Frank-Walter Steinmeier und Philipp Amthor gehören zu jenen Politikerinnen und Politikern, die sich Bubrowski im Positiven wie im Negativen näher angesehen hat.

Besonders fatal ist es, wenn Politiker, statt echte Selbstkritik zu zeigen, eine Opferhaltung einnehmen und versuchen, die Wähler hinters Licht zu führen. In jüngster Zeit fiel hier beispielsweise die fachlich reichlich desinteressiert wirkende Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht auf, die – nach kleinen und größeren Verfehlungen – über eine längere Zeit hinweg zum Rücktritt bewegt werden musste, bevor sie nach Intervention des Bundeskanzlers aus dem Amt schied. Der „Spiegel“ kommentierte: „Bei sich selbst suchte sie die Schuld für ihren Abgang eher nicht. Stattdessen bei einer angeblich kampagnenwütigen Presse und mit einiger Sicherheit auch bei so manchem Parteifreund, der sie am Ende fallen ließ.“ Auch so stärkt man Parteien- und Politikverdrossenheit. An der Popularität ihres Amtsnachfolgers Boris Pistorius lässt sich hingegen studieren, wie sehr sich Bürger und Wähler nach Kompetenz und Bodenhaftung sehnen – und dass sie diese durch entsprechend hohe Zustimmungswerte auch durchaus honorieren.

Destruktiver statt konstruktiver Streit

Konstruktiver, auch heftig ausgetragener Streit ist etwas, von dem Politik lebt. Er ist Ausweis eines funktionierenden und lebendigen Pluralismus, der wiederum essenziell für eine liberale Demokratie ist. Auch innerhalb von Koalitionen ist Streit nicht per se etwas Schlechtes. Gerade wenn, wie in der neuen schwarz-roten Koalition, politisch sehr unterschiedliche Lager aufeinandertreffen, müssen die Regierungspartner den Spagat schaffen, zugleich als verlässliche Koalitionäre und Anwälte ihrer Wählerklientel wahrgenommen zu werden.

Gelingt dies, kann Parteienverdrossenheit sogar entgegengewirkt werden. Denn dann merken die Bürger, dass es möglich ist, aus unterschiedlichen, manchmal sogar diametral entgegengesetzten Positionen heraus Kompromisse entstehen zu lassen, die alle Beteiligten konstruktiv mittragen können. Wenn es hingegen schlecht läuft und der Dauerstreit zur Tagesordnung wird, kippt das Ganze in die Destruktivität – die gescheiterte „Ampel“ steht allen noch als Menetekel vor Augen. Vollends aus dem Ruder läuft es, wenn ein Bundeskanzler eine Koalition nicht austariert, sondern der Streiterei, zumindest nach außen, nahezu freien Lauf lässt. Die jüngsten Wahlergebnisse gerade der Ampel-Parteien haben eindrucksvoll bewiesen, wie groß der Verdruss ihrer ehemaligen Wähler darüber gewesen ist.

One-Man/Woman-Show und Fehlen innerparteilicher Teilhabe

Parteien brauchen, besonders auf Bundesebene, medial präsente Köpfe, die die gesamte Bandbreite der Gesellschaft repräsentieren und hinsichtlich Geschlecht, Alter, sexueller Identität und Migrationsgeschichte unterschiedliche Wählermilieus ansprechen. Auf eine einzige Person zugeschnittene Parteien sind in Demokratien selten langfristig erfolgreich – früher oder später ereilt sie der Verdruss der Wähler.

Eine als „One-Man“- oder „One-Woman“-Show aufgestellte Partei wirkt heutzutage wenig anziehend. Das Scheitern von FDP und BSW bei der jüngsten Bundestagswahl dürfte auch damit zu tun gehabt haben. Christian Lindner und Sahra Wagenknecht hatten ihre Parteien so sehr auf sich ausgerichtet, dass kaum jemand anderes neben ihnen leuchten konnte. Bei der FDP waren höchstens noch Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Wolfgang Kubicki medial sichtbar. Der FDP-Bundestagswahlkampf war vollkommen auf Christian Lindner zugeschnitten, was das Handelsblatt zu dem spöttischen Kommentar anregte, die zentrale Wahlkampf-Botschaft der Liberalen laute zwar, dass sich „alles ändern lässt“ – dies aber nicht für die Frage gelte, „wessen Gesicht die FDP auf ihre Plakate druckt“.

Bei Wagenknecht ging die Ausrichtung ihrer Partei auf sie selbst sogar so weit, dass Probleme mit innerparteilicher Teilhabe sichtbar wurden. Jedenfalls berichteten immer mehr Medien über Frustrationen in den Landesverbänden des BSW. Man ärgerte sich dort über Wagenknechts Bestrebungen, innerparteilich „durchzuregieren“ – bis hin zu der Entscheidung, wer als Mitglied aufgenommen wird und wer nicht. Als sich insbesondere die selbstbewusste Thüringer Co-Landesvorsitzende Katja Wolf – vom MDR als „die Unverwüstliche“ geadelt – zunehmend gegen Wagenknechts Strenge zur Wehr setzte, endete der Höhenflug der Partei. Bei den vorangegangenen Landtagswahlen 2024 hatte die Ausrichtung auf die Gründerin der Partei zwar noch große Wahlerfolge eingebracht; langfristig zahlt sich ein solches Vorgehen aber offenkundig weder innerparteilich noch elektoral aus.

Charisma, Bürgernähe und „Tiktokisierung“ der Politik

Der mit Wagenknechts Strömungsabriss einhergehende Steilflug der schon totgeglaubten Linkspartei zeigt demgegenüber, wie eine gestrauchelte Partei es mit einer charismatischen Person wie Heidi Reichinnek als Co-Spitzenkandidatin schaffen kann, binnen kurzer Zeit wie Phönix aus der Asche wiederaufzusteigen und erneut anziehend zu wirken statt Verdruss zu verbreiten. Anfang Januar 2025 wurde die Linkspartei in der Wählergunst noch bei 4 Prozent taxiert – bei der Bundestagswahl fuhr sie dann satte 8,8 Prozent ein.

Schaut man sich ganz generell an, welche Politiker beliebt sind, dann sind es in der Regel solche, die ernsthafte Inhalte mit Pep und Charisma und vor allem mit Authentizität verbinden. Besonders bei jungen Menschen findet jemand wie Reichinnek, mit Rosa-Luxemburg-Tattoo auf dem linken Unterarm und offenem, authentischen Auftreten, großen Anklang. Freilich trägt Erfolg, der primär auf Charisma beruht, die Gefahr in sich, sich als schöne Verpackung mit problematischem Inhalt zu entpuppen. Ob vielen der Jungwähler der Linken bewusst ist, dass Reichinnek den Kapitalismus „stürzen“ will und Waffenlieferungen an die gebeutelte Ukraine mit der weltfremden Begründung ablehnt, die EU solle „Friedensmacht“ werden, sei jedenfalls mal dahingestellt. Ob sich vor diesem Hintergrund linke Neuwähler wieder verdrossen von ihr abwenden werden, bleibt abzuwarten.

Kurzum: Coolness ist nicht alles. Auch gilt es, den schmalen Grat zwischen Selbstironie und Lächerlichkeit der eigenen Person zu wahren. Instagram-Reels wie #söderisst beispielsweise, in denen der bayerische Ministerpräsident meist Berge von Fleisch zu sich nimmt, sind hierfür ein gutes Beispiel. Gerade im heimatverbundenen Bayern schafft Markus Söder so Nähe zu seiner Wählerschaft, muss aber zugleich aufpassen, es nicht zu übertreiben. Das vielleicht bekannteste Negativbeispiel dieser Art war die „Spaßpartei“-Kampagne der FDP unter Guido Westerwelle, der sich und seine Partei mit dem „Guidomobil“ und den gelben Schuhsohlen mit der Aufschrift „18 Prozent“ ohne Not der Lächerlichkeit preisgab und unter traditionellen FDP-Wählern vor allem Verdruss und Genervtheit erzeugte.

Gefährlich wird es, wenn der völkische Rechtsradikalismus die Coolness von Social Media für sich zu nutzen versucht. Der elektorale Erfolg der AfD beispielsweise wäre ohne deren Präsenz auf entsprechenden Plattformen, deren Algorithmen sie genau verstanden hat, wohl nicht erklärbar. In Sachsen zum Beispiel hat die Partei bei Weitem die meisten Social-Media-Follower auf Tiktok, Instagram oder Facebook, mitunter ist gar von einer „Tiktok-Armee der AfD“ die Rede. Das wohl bekannteste Tiktok-Video stammt von dem umstrittenen und flamboyanten AfD-Bundestagsabgeordneten Maximilian Krah („Echte Männer sind rechts“). Er erklärt darin, wie man als Mann mit rechter Gesinnung vermeintlich schneller eine Freundin findet. Klingt plump – und ist es auch. Aber hinsichtlich der hervorgerufenen Resonanz war das Video extrem erfolgreich.

Mit anderen Worten: Die etablierten Parteien und ihre Repräsentanten müssen in den Sozialen Medien dringend besser werden und es schaffen, seriöse Inhalte mit mehr Pep zu verkaufen. Nur so lässt sich der düsteren Emotionalisierung, wie sie etwa von der AfD ausgeht, etwas entgegensetzen. Als langweilig wahrgenommen zu werden, ist das Schlimmste, was im Netz passieren kann – und eine zunehmende Politikverdrossenheit der eigenen jüngeren Anhängerschaft ist damit vorprogrammiert.

Warum man sich (trotzdem) engagieren sollte

Das bisher Aufgezeigte mag davon abhalten, sich selbst in Parteien zu engagieren. Und doch ist die Politik zwingend darauf angewiesen, dass Bürger genau dies tun. Ohne aktives Engagement gibt es kein demokratisches Gemeinwesen. Das gilt sowohl für ehrenamtliches Engagement im kommunalpolitischen Bereich als auch auf der Ebene des Berufspolitikertums, das sich typischerweise aus Menschen rekrutiert, die irgendwann einmal auf ehrenamtlicher Ebene in ihrer Stadt oder Gemeinde angefangen haben, sich aktiv in die Politik einzumischen. Freie und demokratische Parteien in einem pluralistischen Staat wie Deutschland folgen einem demokratischen Bottom-up-Ansatz: Sie geben prinzipiell jedem Bürger die gleiche Chance, an der politischen Willensbildung mitzuwirken und diese – entsprechende Wahlerfolge vorausgesetzt – mitzuprägen.

Einfach ist das allerdings nicht. Delegiertenplätze sind ebenso wie Abgeordnetenmandate oder Ämter begrenzt. Die berühmt-berüchtigte „Ochsentour“ ist ebenso real wie das sprichwörtliche innerparteiliche Hauen und Stechen um die besten Positionen. Was also müssten gerade die etablierten Parteien verbessern? Nun, sie müssten Talente und keine Parteisoldaten fördern; Sitzfleisch darf nicht vor Talent gehen. Es ist widersinnig, sich einerseits Spitzenpolitiker zu wünschen, die ihr ganzes bisheriges Berufsleben außerhalb der Politik verbracht haben, andererseits aber bei jeder Gelegenheit zu erwarten, dass jemand bei allen möglichen Parteiveranstaltungen dauerpräsent ist, wenn er oder sie in der Partei „etwas werden“ will. Diese Erwartungshaltung schafft nur Frust auf allen Seiten. Wer sich in einer Partei engagieren will, sollte die Gelegenheit dazu auch dann erhalten, wenn er zugleich andere berufliche Lebenswege wählt und für die Ochsentour keine Zeit hat. Insofern ist es ein gutes Signal, dass es mit dem neuen Digitalminister Karsten Wildberger nun einen echten Quereinsteiger in der Bundesregierung gibt. Auch so kann man möglicherweise Parteien- und Politikverdrossenheit entgegenwirken.

ist Juristin und Publizistin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der populistischen und extremen Rechten in Deutschland.