„Warum wirkt die gescheiterte Richterwahl so lange nach?“ – mit dieser Frage eröffnete ZDF-Moderatorin Dunja Hayali am Abend des 20. Juli 2025 das Externer Link: „heute-journal“ und lieferte die Antwort gleich mit: „Vielleicht, weil das, was wir da sehen konnten, nicht mehr viel mit Kritik zu tun hatte, sondern mit einer heftigen Wucht an Verleumdung und Desinformation.“ Auch jenseits der Personalie Frauke Brosius-Gersdorf lohne es sich, „genauer hinzuschauen“, schließlich könnten „Schmutzkampagnen den für die Demokratie so wichtigen Diskurs zerstören“.
Dieser Vorwurf wurde auch in zahlreichen anderen Medien erhoben – darunter in der Externer Link: „Süddeutschen Zeitung“, der Externer Link: „Nordwest-Zeitung“, auf Externer Link: „tagesschau.de“ und in der Externer Link: „taz“. Außerdem kam er von Politikern der SPD und der Grünen, in einem Externer Link: offenen Brief von 300 Wissenschaftlern sowie in einer Externer Link: Online-Petition, der sich eine Viertelmillion Menschen anschlossen. Schließlich Externer Link: sprach die Potsdamer Juristin Mitte August in ihrer Verzichtserklärung selbst von einer „Desinformations- und Diffamierungskampagne“.
Im Folgenden wird anhand dieser Ausgabe des „heute-journals“ untersucht, ob dieser Vorwurf haltbar ist. Danach werden ausgewählte Thesen aus der Desinformationsforschung sowie empirische Befunde vorgestellt und eigene Gedanken entwickelt – ein Werkzeugkasten für die anschließende Analyse der Causa Brosius-Gersdorf. Zum Schluss geht es darum, was sich aus dieser Kontroverse für den Umgang mit Desinformation ableiten lässt. Die Kernthese: Diese Kontroverse hat nicht die zerstörerische Macht der Desinformation aufgezeigt, sondern verdeutlicht, wie sich die Rede über dieses – durchaus reale – Problem verselbstständigt hat. Doch zuerst eine Begriffsgeschichte.
Moskau, 1923
In der Literatur wird Desinformation meist definiert als systematische Verbreitung falscher oder verzerrter Informationen mit dem Ziel, die Öffentlichkeit eines anderen oder des eigenen Landes zu manipulieren. Die Täuschungsabsicht unterscheidet die Des- von der Fehlinformation.
Eine brauchbare Abgrenzung zu verwandten – und oft synonym verwendeten – Begriffen könnte so lauten: Fake News müssen nicht absichtlich produziert worden sein, meinen aber stets eine konkrete Nachricht, keine umfassende Strategie. Anders als bei Verschwörungstheorien
Der Begriff „Desinformation“ entstand 1923, als der sowjetische Geheimdienst GPU unter der Leitung von Artur Artusow das Dezinformatsiya Byuro gründete.
Im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg verfeinerten verschiedene Geheimdienste dieses Instrument, das nun zum Bestandteil der weiter gefassten psychologischen Kriegsführung avancierte.
Streiten kann man darüber, ob der radikale Sozialkonstruktivismus dazu beigetragen hat, die kategorialen Grenzen zwischen Fakt und Fiktion aufzulösen.
Für 2005 liefert die Pressedatenbank Externer Link: GBI-Genios 760 Artikel zum Thema Desinformation, für 2024 stolze 23244 – das Dreißigfache. Die Jahre mit den größten Sprüngen weisen auf die Ursachen hin: 2016 (Brexit, erste Trump-Wahl), 2020 (Corona-Pandemie) und 2022 (Ukrainekrieg). Allein der jüngste Sprung – um 72 Prozent im Jahr 2024 – ist nicht mit vergleichbaren Ereignissen erklärbar. Auch die Mannschaftswertung, also die Summe der Begriffe „Desinformation“, „Fake News“ und „Verschwörung“, erreichte 2024 mit 51037 Artikeln einen neuen Höchstwert, der knapp 30 Prozent über dem vorigen Rekord aus dem Corona-Jahr 2020 lag. Damit zurück nach Mainz.
Und jetzt das heute-journal
Warum gerade dieses Beispiel? Weil die Desinformationshypothese in dieser Sendung mustergültig vorgetragen wurde – und das nicht in einem gekennzeichneten Kommentar. In dieser Externer Link: Sendung ergänzte der Kommentar nicht die Nachricht, er ersetzte sie. Was überall eine Verletzung journalistischer Standards wäre, wiegt in einer Hauptnachrichtensendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Externer Link: besonders schwer.
Schon mit ihrer eingangs zitierten Eröffnung setzt Dunja Hayali den Rahmen, als gelte es, die nächste Meisterschaft des FC Bayern München zu vermelden: Desinformation! Verleumdung! Kampagne! Im folgenden Filmbericht ist von „unzähligen Falschmeldungen“ die Rede. Es wird aufgezählt, wer sich wann und wo an dieser „Kampagne“ beteiligt habe, mit Blick auf die Union fällt der Satz: „Den Einfluss von Fake News hat bislang niemand zugegeben.“ Untermalt, ungewöhnlich für eine Nachrichtensendung, von einer bedrohlichen Musik. Zum Schluss folgt ein Interview mit Philipp Sälhoff, Geschäftsführer des Thinktanks Polisphere, der, wie es im Bericht heißt, anhand von Postings in den sozialen Medien ermittelt habe, „wie rasant und wie reichweitenstark die Kampagne verlief“.
Doch das hohe Kommunikationsvolumen beweist nur eines: ein reges öffentliches Interesse. Natürlich entfaltet sich erst dann eine große Dynamik, wenn reichweitenstarke Accounts mitmischen, es gibt Verstärkungseffekte und Wechselwirkungen, und Algorithmen und Bots tragen ihren Teil dazu bei. Eine Henne-Ei-Sache ist das trotzdem nicht: Leute sind nicht empört, weil getwittert wird; Leute twittern, weil sie empört sind. Im Bericht des „heute-journals“ aber werden die Externer Link: Angaben von Polisphere als faktenbasierte Zauberformel zur Entschlüsselung der Debatte präsentiert – im mildesten Fall eine Verwechslung von Ursache und Wirkung.
Nach gut zehn Minuten ist der Themenblock vorbei, und die Zuschauer haben lediglich erfahren, dass es um Brosius-Gersdorfs „Haltung zur Impfpflicht in der Corona-Pandemie, zu einem AfD-Verbot und zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen“ geht, aber kaum, worin genau Desinformation und Verleumdung bestehen.
Dabei drehten sich zwei dieser drei Streitpunkte um inhaltliche Bewertungen: Waren ihre früheren Interviewaussagen für eine Externer Link: Impfpflicht und für die Eröffnung eines Externer Link: AfD-Verbotsverfahrens gewichtige Gründe gegen ihre Berufung? Und war es glaubwürdig, dass sich die Kandidatin am 15. Juli in der ZDF-Sendung Markus Lanz von diesen Aussagen teilweise Externer Link: distanziert hatte? Doch diese beiden Streitpunkte wurden häufig – so auch im „heute-journal“ – ebenfalls unter „Desinformation“ verbucht. So gewann dieser Vorwurf an Umfang, nicht an Substanz.
Konkret ausformuliert wurde der Vorwurf der Desinformation lediglich zum dritten Streitpunkt: beim Thema Abtreibung. Im Februar 2025 hatte Brosius-Gersdorf in einem Externer Link: Gutachten für den Bundestag dafür plädiert, die aktuelle Konstruktion („rechtswidrig, aber straffrei“) zu ändern und Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen grundsätzlich zu legalisieren. Zu ihrer rechtsdogmatischen Begründung gehörten die Abwägung zwischen den Grundrechten der Schwangeren und dem Lebensrecht des Embryos bzw. Fötus, aber auch der folgenschwere Satz: „Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“
Einzig an diesem komplizierten Punkt versuchte das „heute-journal“ denn auch, die Desinformationshypothese zu belegen. „Am 2. Juli“, so heißt es im Filmbericht, „verbreitet Beatrix von Storch von der AfD auf X die Lüge, Brosius-Gersdorf wolle Abtreibungen bis zum neunten Monat legalisieren“. Eingeblendet wird ein Externer Link: Posting, in dem die AfD-Politikerin die Kandidatin als „linksradikale Aktivistin“ bezeichnet, die „im Prinzip der Abtreibung bis zum 9. Monat das Wort redet (‚Menschenwürde erst ab Geburt‘)“.
Der schnappatmende Ton ist das eine. Doch von Storch hat, wie für jedermann erkennbar, nicht behauptet, Brosius-Gersdorf wolle Abtreibungen bis zum neunten Monat legalisieren. Sie hat ein Zitat verkürzt, aber sinngemäß wiedergegeben und diese Aussage interpretiert („redet im Prinzip das Wort“) – vermutlich mit dem Kalkül, dass ihre Adressaten nicht so genau hinsehen würden, aber im Rahmen einer zulässigen Deutung. Das „heute-journal“ hätte hier eine Formulierung wie „unterstellt“ oder „suggeriert“ wählen können. Zum Vorwurf der Desinformation passte „Lüge“ besser, war aber selbst – sagen wir: unseriös.
Ein weiteres Indiz dafür, dass es um die „Wucht von Verleumdungen“ (Hayali) nicht ganz so wuchtig bestellt war: Soweit öffentlich bekannt, hat Brosius-Gersdorf gegen die kolportierten Plagiatsvorwürfe rechtliche Mittel eingeleitet, aber keine Anzeige wegen Verleumdung oder übler Nachrede erstattet. In den Weiten des Internets finden sich gewiss Äußerungen, die den Straftatbestand der üblen Nachrede oder der Verleumdung erfüllen würden. Eine Klage gegen eine Äußerung wie das zitierte X-Posting von Beatrix von Storch hätte vor Gericht jedoch keine Chancen. Denn die Meinungsfreiheit umfasst laut der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch „polemisch oder verletzend“ formulierte Aussagen und gilt „unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird“ – so ein Externer Link: BVerfG-Beschluss von 1995 zur Aussage „Soldaten sind Mörder“
Unterlassungserklärungen mussten in dieser Angelegenheit weder AfD-Politiker noch rechtspopulistische Medien noch die von Brosius-Gersdorf nicht namentlich, aber eindeutig erkennbar Externer Link: getadelte „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ abgeben. Das ZDF hingegen schon – wegen exakt dieser Ausgabe des „heute-journals“. Nach einer Abmahnung durch das rechtspopulistische Onlinemagazin „Apollo News“ musste der Sender Externer Link: einräumen, dass zwei eingeblendete Screenshots „zwar die genannten Themen bedienten, selbst aber keine Falschmeldungen darstellen“, und den Beitrag in der Mediathek nachträglich ändern. Was für eine Pointe.
Check it out now, the news desk brother
Die Behauptung, die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf sei maßgeblich an Desinformation und Verleumdung gescheitert, wurde im ZDF so belegt wie überall sonst: schlecht. Einer Überprüfung hält sie nicht stand. Ebenso liegen für eine „orchestrierte Aktion“, wie Externer Link: „Der Spiegel“ es nannte, keine belastbaren Indizien vor. Auch die Externer Link: Zahlen von Polisphere dokumentieren bloß den Ablauf: Am 2. Juli Externer Link: berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom Unbehagen in der Unionsfraktion gegenüber dieser Personalie, wodurch das Thema öffentlich wird. Erst danach greifen rechtspopulistische Medien nacheinander das Thema auf, wie schrill und tendenziös auch immer.
Die von Abtreibungsgegnern organisierten Online-Aktionen – wie etwa die Versendung von 37.000 E-Mails an Unionsabgeordnete über das Netzwerk „1000plus“ – kann man nur für sich genommen als Kampagne bezeichnen. Zu Massenmails aber haben auch schon Amnesty International oder der Hanfverband aufgerufen. Und wer auch immer behauptet hat, „Zivilgesellschaft“ sei eine Art permanenter Kirchentag – Gramsci war’s nicht.
Aufschlussreich ist zudem der Externer Link: Wortlaut dieser häufig – auch vom „heute-journal“ – erwähnten, aber nie zitierten Massenmails: Brosius-Gersdorf habe sich „klar und deutlich für die Legalisierung der Abtreibung ausgesprochen“, ihre Wahl ins Bundesverfassungsgericht würde „die Existenz unserer rechtsstaatlichen Zivilisation ernsthaft bedrohen“. Starksprech, aber keine Desinformation.
Politische Brisanz gewinnt die Sache durch den Vorwurf, der nach Brosius-Gersdorfs Verzicht offen, etwa von Grünen-Chef Externer Link: Felix Banaszak, oder verklausuliert, wie von Heribert Prantl in der Externer Link: „Süddeutschen Zeitung“, formuliert wird: Die Union hat sich dem Druck von Rechtsaußen gebeugt.
Anders Externer Link: schildern es etwa die Journalisten Robin Alexander und Dagmar Rosenfeld: Demnach waren es nicht rechtskonservative Publizisten, die maßgeblichen Einfluss ausübten, sondern Kirchenkreise, die noch Anfang des Jahres Friedrich Merz wegen der gemeinsamen Bundestagsabstimmung mit der AfD vehement kritisiert hatten. Und eine Rekonstruktion des „Stern“ Externer Link: bilanziert, dass der Widerstand in der Union „ganz von allein“ gewachsen sei, „aus der Angst vor programmatischer Entkernung sowie dem Frust über die Widersprüche, die das Regieren mit sich bringt“.
Eigentlich könnte man selbst darauf kommen, dass Christdemokraten in dieser für sie so identitätsstiftenden Frage keine Internetradaubrüder brauchten, um ihr Unbehagen auszudrücken – wie zuvor die Grünen, die den ursprünglichen Unionsvorschlag, den „asylkritischen“ Richter Robert Seegmüller, rechtzeitig und diskret abgelehnt hatten. Warum schien es dennoch vielen plausibel, den Unionspolitikern ein eigenes Urteilsvermögen abzusprechen und stattdessen „Desinformation“ zu rufen? Oder betrieb, wie nun rechtspopulistische Medien Externer Link: konterten, gar die Gegenseite Desinformation? Die Vorstellung, Dunja Hayali, Felix Banaszak und Hunderte andere hätten sich verabredet, ist noch paranoider als die These einer rechtspopulistischen Konspiration. Es bedarf also einer anderen Erklärung.
The Empirie strikes back
Ja, dass so viel von Desinformation die Rede ist, hat reale Gründe. Ja, die Erben von Artur Artusow versuchen nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, die westliche Öffentlichkeit zu manipulieren.
Zugleich hat sich fast zehn Jahre nach dem Brexit-Trump-Urknall im akademischen Bereich eine differenziertere Auseinandersetzung entwickelt, die sich nicht darin begnügt, das schrille Entsetzen zu wiederholen.
So wies Jan-Werner Müller, Politikwissenschaftler von der Princeton University, bereits 2016 darauf hin, dass der Populismusvorwurf zur Diskreditierung „missliebiger Kritik“ benutzt werden könne: Für Politiker sei es bequemer, erst gar nicht auf die Argumente von „einmal als Populisten abgestempelten Akteuren“ einzugehen.
Aktuell überträgt der Amerikanist Michael Butter dasselbe Adjektiv auf das Thema Desinformation: Den Fokus auf dieses Phänomen zu legen, sei für die Politik bequem, weil sie sich dann weder den „eigenen Fehlern und Versäumnissen“ noch den „Ursachen des Vertrauensverlusts“ stellen müsse, die Menschen anfällig für Desinformation machen.
Auch der Soziologe Alexander Bogner plädiert dafür, zwischen Erscheinungsformen und Ursachen gesellschaftlicher Konflikte zu unterscheiden. Und er erklärt, warum diese Verwechslung so oft geschieht: „In der Wissenschaftsgesellschaft werden viele Konflikte als Auseinandersetzungen um das richtige Wissen ausgetragen.“
Daran knüpft sein Kollege Nils C. Kumkar an, wobei er mit einem Begriff arbeitet, den die damalige Trump-Beraterin Kellyanne Conway Anfang 2017 erfand: „alternative Fakten“. Kumkar interessiert sich jedoch nicht für deren Inhalt, sondern für ihre „kommunikative Funktion“. Seine These: “Alternative Fakten funktionieren nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als Widersprüche zu Tatsachenbehauptungen.“
Über die politische Funktion „alternativer Fakten“, die bei ihr noch „Propaganda“ hießen, schrieb Hannah Arendt 1951: „Der ideale Untertan für eine totalitäre Führung ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern es sind Leute, für die die Distinktion zwischen Fakten und Fiktion (…) und die Distinktion zwischen wahr und falsch (…) nicht länger existieren.“
Die heutigen autoritär-populistischen Politiker sind nicht mit den Massenmördern Hitler und Stalin gleichzusetzen. Doch auch sie erheben den Anspruch, dass nur sie die Wahrheit sagen – und nur sie „das Volk“ vertreten.
Der „Global Risks Report“, für den das Weltwirtschaftsforum internationale Fachleute aus Wirtschaft, Politik und Forschung Externer Link: befragt, nennt Falsch- und Desinformation zum zweiten Mal in Folge als das größte globale Problem der kommenden zwei Jahre. Auch die überwiegende Mehrheit der Deutschen sieht dieses Risiko: Laut einer 2024 veröffentlichten Studie der Externer Link: Bertelsmann-Stiftung halten 81 Prozent „Desinformation für eine Gefahr für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt“.
In welchem Verhältnis reale Bedrohung und begründete Sorge zueinanderstehen, lässt sich hingegen nicht verlässlich sagen. Empirische Studien beschäftigen sich meist mit der Verbreitung von Desinformation oder den Mechanismen, die Menschen dazu bringen, falschen Behauptungen zu glauben, etwa dem confirmation bias (Bestätigungsfehler): „Ich wähle meine Informationen tendenziell so aus und interpretiere sie so, dass sie mein Weltbild bestätigen.“ Für den Raum zwischen „Jemand verbreitet Desinformation“ und „Ich glaube dieser Falschinformation, weil sie meinem Weltbild entspricht“, also für die Wirkmächtigkeit von Desinformation, gibt es nur wenige empirische Untersuchungen.
Zwei Jahre nach der US-Präsidentschaftswahl 2016 wiesen zwei Institute Externer Link: nach, dass der Versuch der russischen Einflussnahme auf das Wahlergebnis in den sozialen Medien noch größer war als angenommen. Doch erst 2023 kam ein internationales Forschungsteam um den Kopenhagener Politikwissenschaftler Gregory Eady zu dem Externer Link: Ergebnis, dass der tatsächliche Einfluss deutlich geringer ausfiel: Demnach erreichten 70 Prozent der russischen Tweets nur ein Prozent der User; insgesamt kamen die Tweets bei Anhängern der Republikaner neunmal häufiger an als bei anderen. Fazit: Ein Einfluss auf das Wahlverhalten sei nicht festzustellen.
Ein ähnliches Ergebnis liefert eine Externer Link: Metastudie des Observatory on Information and Democracy (OID), die Anfang 2025 vorgestellte wurde. Hierfür wertete eine Gruppe von Wissenschaftlern über 3000 Studien zu digitalen Themen aus. In etwa 150 davon ging es um die Wirkung von Desinformation. Auswirkungen: lassen sich nicht eindeutig nachweisen.
Dies gilt selbst für die Brexit-Entscheidung: Die „Leave“-Kampagne kolportierte ständig die Behauptung, Großbritannien überweise wöchentlich 350 Millionen Pfund nach Brüssel. Diese Zahl war falsch, setzte sich aber bei vielen Brexit-Befürwortern fest. Doch ausschlaggebend für das Referendum war allen Untersuchungen zufolge etwas anderes: das diffuse Gefühl des Kontrollverlusts, das die „Leave“-Kampagne bediente und verstärkte – und dem sie einen vagen, aber positiven Gegenentwurf anbot: „Take back control“.
Mit Antonio Gramsci ließe sich sagen, dass die „Leave“-Kampagne Hegemonie erlangte, indem sie Erfahrungen, Ängste, Sehnsüchte, Misstrauen etc. als Fragmente des Alltagsverstands in eine kohärente Praxis überführte;
Das heißt, selbst in einem solchen Fall, in dem Desinformation eine Rolle spielt („350 Millionen Pfund!“), darf man diese nicht isoliert betrachten, weil man andernfalls, wie Alexander Bogner zu einem anderen Beispiel schreibt, den Streit auf die Frage reduziert, „wer über die bessere Datengrundlage verfügt“.
Das ist Teil eines Phänomens, auf das schon die dargestellten Befunde hindeuten: eine wachsende Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem angenommenen Ausmaß der Bedrohung. Es zeigt sich eine Verselbstständigung des Desinformationsdiskurses. Er entkoppelt sich von seinem realen Gegenstand.
Und das hat Folgen: Matthias C. Kettemann, Internetrechtler an der Universität Innsbruck und Mitautor der OID-Metastudie, Externer Link: sagt, dass „nicht Desinformation an sich das Problem ist, sondern die Tatsache, dass Medien und Politiker:innen stark davon sprechen, dass wir von Desinformation umgeben sind“. Und als Frage, die keine ist, heißt es beim Publizisten Jakob Schirrmacher: „Was, wenn die ständige Panik vor Desinformation selbst Teil des Problems ist?“
Insgesamt zeigt sich ein Prozess, den man auch in anderen Zusammenhängen beobachten kann: Je mehr ein Missstand erkannt wird, desto mehr Ressourcen werden für seine Erforschung und Bekämpfung bereitgestellt, wodurch persönliche Existenzen mit der Auseinandersetzung verknüpft werden. Zudem verspricht diese Beschäftigung nun Anerkennung und Aufmerksamkeit. Diese intensive Beschäftigung führt dazu, dass immer neue Facetten und Folgen dieses Missstands identifiziert werden – sei es, weil die Sensibilisierung gewachsen ist, die Definition dieses Missstands ausgedehnt bis überdehnt wird oder beides. Ein Teil der Öffentlichkeit macht diesen Missstand bzw. seine Bekämpfung zu einem Teil seiner Weltanschauung, in einem anderen wächst Reaktanz, was wiederum die Notwendigkeit bestätigt, sich damit zu beschäftigen. Vom ursprünglichen Missstand aber hat sich der Diskurs entkoppelt: eine selbstverstärkende Problemexpansion.
In seinem jüngsten Buch schreibt Michael Butter, dass der „Diskurs über Desinformation“ beständig Gefahr laufe, „die konspirationistische Weltsicht zu spiegeln“. Der Verschwörungsdiskurs sei zwar „ungleich problematischer“, aber auch die „anderen Alarmierten“ gingen davon aus, dass „eine Gruppe mächtiger und zynisch agierender Manipulator*innen aus strategischen Gründen Falschinformationen in die Welt“ setze; auch sie behaupten, dass sich nur diejenigen dieser Manipulation entziehen können, „die verstehen, was vor sich geht, und Desinformationen aufdecken“.
Ja, es gibt einen himmelweiten Unterschied, ob jemand antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet oder diese zu bekämpfen versucht. Doch wenn Spekulation und Zweifel vorschnell als „Verschwörungstheorie“ abgetan werden, polemische Kritik kurzerhand als „Desinformation“ bezeichnet wird und zugleich die eigene Position moralisch wie epistemisch überhöht wird, kann aus dem Verschwörungsaufklärer jemand werden, der seine „Faktenchecks“ dem Publikum im selben Gestus präsentiert, wie der Internet-Morpheus seine roten Wahrheitspillen.
Frauke, Fakten, Fakten
Diese Gedanken lassen sich auf die verkorkste Debatte um die verkorkste Richterwahl übertragen: Die Kritik an Frauke Brosius-Gersdorf wurde am krawalligsten von rechtspopulistischen Akteuren formuliert. Mit Jan-Werner Müller gesprochen: Es war bequem, ihre Argumente zu ignorieren. Und mit Michael Butter: Es war bequem, „Desinformation“ zu rufen, statt über den Vertrauensverlust des Rechtsstaats zu sprechen.
Doch die AfD und die fraglichen Magazine sind Beschleuniger tiefer politischer, ökonomischer und kultureller Konflikte, nicht deren Verursacher. In der Richterwahldebatte aber wurden diese Konflikte, wie man mit Alexander Bogner sagen kann, als epistemische behandelt. Brosius-Gersdorfs Unterstützer stritten nicht für eine Modernisierung des Abtreibungsrechts; sie beschäftigten sich mit der „Kampagne“ gegen die Kandidatin. Mit Nils C. Kumkar: „ein Ausweichmanöver qua Problematisierung der Diskussionsgrundlage“.
Diese Verschiebung ist Ausdruck einer politischen Polarisierung, in der nicht nur die Populisten alle anderen als „Feinde“ („Altparteien“) markieren, sondern ihrerseits als „Feinde der Demokratie“ markiert werden. Für diesen Befund gibt es sehr triftige Gründe. Doch diese Konstellation kann, mit Hendricks und Vestergaard gesprochen, dazu führen, dass nicht nur die Populisten den Wahrheitsgehalt einer Aussage ihrem Nutzen unterordnen.
Glaubwürdig erschien die Desinformationshypothese durch einen doppelten confirmation bias: „Die AfD verbreitet unwahre Behauptungen“ (Check); „Desinformation ist ein Riesenproblem“ (Check). Selten wurde die Parallele zwischen „den Alarmierten“ und „den anderen Alarmierten“, die Michael Butter beschreibt, so deutlich sichtbar.
Damit soll der Desinformationsvorwurf nicht umgekehrt und den Beteiligten absichtliche Irreführung unterstellt werden. Vielmehr durchlebt der Desinformationsdiskurs eine selbstverstärkende Problemexpansion, die sich von ihrem ursprünglichen Gegenstand entkoppelt hat und nun, so Jakob Schirrmacher, „Teil des Problems“ ist. Durch seine Verselbstständigung ist der Desinformationsdiskurs selbst zu einer „strukturierenden Struktur“ (Bourdieu) oder einem Versatzstück des Alltagsverstands (Gramsci) geworden.
Wer Desinformation vorher schon für ein Riesenproblem gehalten hat, sieht sich durch die Causa Brosius-Gersdorf bestätigt. Freuen aber dürfen sich die rechtspopulistischen Krawallmedien: nicht, weil sie die Besetzung eines Verfassungsorgans tatsächlich maßgeblich beeinflusst hätten, sondern weil ihnen dies zugeschrieben wird. Ein Stück dieses imaginierten Einflusses wird als realer zurückbleiben.
Straight Outta Deutschland
Wer heute die erst wenige Jahre alten Publikationen über Desinformation und Verschwörungserzählungen liest, wird merken, wie schlecht sie – nicht in ihren Grundaussagen, wohl aber in manchen aufgeführten Beispielen – innerhalb so kurzer Zeit gealtert sind. Etwa wenn die inzwischen als wahrscheinlich geltende These, das Coronavirus könne einem Labor in Wuhan entwichen sein, mal eben als „Brunnenvergiftermythos“ abgetan wird.
Im Corona-Krisenmodus, unter dem Eindruck echter Verschwörungstheorien und vielleicht bereits infolge einer Portion selbstverstärkender Problemexpansion, vergaßen viele Politiker und Journalisten, mitunter sogar Wissenschaftler, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis immer nur eine vorläufige Annäherung an die Wahrheit sein kann.
In Teilen der Öffentlichkeit wird diese Dynamik kritisch reflektiert.
Das klingt harmloser, als es ist. Und zwar aus drei Gründen: Da ist erstens der Satz mit den falschen Tatsachenbehauptungen, der fast wörtlich aus der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übernommen ist. Doch zu dieser gehört auch die klare Tendenz, die Grenzen der Meinungsfreiheit Externer Link: weiter auszulegen und die der unzulässigen Schmähkritik sowie der beweispflichtigen Tatsachenbehauptung Externer Link: enger. Die Debatte um die Richterwahl wirft die Frage auf, ob relevante Teile der Öffentlichkeit mit dieser liberalen Verfassungswirklichkeit hadern.
Überspringen wir den zweiten Punkt – die beliebte wie vage Figur „Hass und Hetze“ würde eine ausführliche Betrachtung erfordern – und kommen zum dritten, der maßgeblich mit einer EU-Verordnung namens Externer Link: Digital Services Act (DSA) zusammenhängt: Gesetze sollten immer „klar“ sein – sie sind es im Fall des DSA aber nicht. Laut Paragraf 34 Absatz 1 DSA können die großen Internetplattformen dazu verpflichtet werden, bei „systemischen Risiken“ gegen bestimmte Inhalte vorzugehen – nicht nur gegen rechtswidrige, sondern auch solche, von denen „tatsächliche oder absehbare nachteilige Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte und auf Wahlprozesse“ ausgehen.
Gemäß DSA sollen sogenannte Trusted Flagger derlei Inhalte an die Online-Plattformen melden, damit diese sie löschen oder einschränken. Bislang wurden in Deutschland erst vier Meldestellen durch die Bundesnetzagentur zertifiziert. Die Arbeit dieser „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“, die auch mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, hat gerade erst begonnen, erste Externer Link: Zwischenberichte lassen jedoch die Sorgen vor außergerichtlichen Eingriffen in die Meinungsfreiheit als nicht ganz unbegründet erscheinen.
Der DSA ist im Kern eine deutsche Idee: Er löste das Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017 ab, mit dem Deutschland weltweit als erstes Land ein Gesetz zur Regulierung sozialer Medien erließ. Es wurde zu einem Exportschlager – nicht nur, aber auch in Ländern von solch zweifelhaftem demokratischen Leumund wie die Türkei, Russland, Belarus, Vietnam und Venezuela. Einige dieser Staaten, darunter die Türkei, haben danach noch eins draufgelegt und „Anti-Desinformationsgesetze“ beschlossen. Seit Ende 2022 besitzt das Erdoğan-Regime ein neues Instrument, um gegen missliebige Journalisten vorzugehen: Anstelle der abgenutzten „Terror“-Anklage tritt seither immer öfter der Vorwurf „Desinformation“; das klingt gleich viel vornehmer und ist international ungleich anschlussfähiger.
Ein solcher möglicher politischer Missbrauch ist ein Grund, weshalb der DSA hierzulande auf Skepsis stößt, zumal diese Verordnung im Themenfeld Meinungsfreiheit steht, die man auch dann kritisieren kann, wenn man die Externer Link: Bigotterie eines JD Vance nicht teilt und das Gerede von einer „DDR 2.0“ für Quark hält: die Tendenz, im Namen einer noblen Sache mit den Grundrechten so umzugehen, als handle es sich um das Externer Link: Kleingedruckte auf der Packungsbeilage, die sich im zurecht gescheiterten Verbot des Verschwörungsblattes „Compact“ ebenso zeigt wie im sprunghaften Anstieg der Äußerungsdelikte in der Externer Link: BKA-Statistik „Politisch Motivierte Kriminalität“.
Sollte sich in der Causa Brosius-Gersdorf die Lesart „Desinformation“ durchsetzen, könnte als Konsequenz das im Koalitionsvertrag angedeutete Externer Link: „Wahrheitsgesetz“ folgen. Nach dem Verlauf dieser Debatte ist nicht damit zu rechnen, dass der Gesetzgeber einem Gedanken allzu viel Beachtung schenken wird, den die Strafrechtlerin Johanna Rinceanu so formuliert: „Eine freundliche Meinung braucht keinen Schutz. Äußerungen, die beleidigen, schockieren, verstören brauchen Schutz.“